Читать книгу Geschwister - eine ganz besondere Liebe - Jan-Uwe Rogge - Страница 31

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BEREICHERND IN VIELER HINSICHT

Es gibt Sätze, die man in Seminaren oder Vorträgen mit einem Schmunzeln formuliert und die dann sehr widersprüchliche Reaktionen auslösen. Solch ein Satz – manchmal fast beiläufig gesagt – lautet: »Kinder sind Geschenke!«

Geschenke, von denen man lernen kann

Manche Eltern schmunzeln, andere nicken zustimmend. Einigen zaubert diese Feststellung ein Leuchten ins Gesicht, als würden die Kinder plötzlich vor ihnen erscheinen. Wieder andere ziehen die Stirn kraus, wirken nachdenklich, irritiert, man hat den Eindruck, als würde der Blick nach innen gehen, um die Kinder vor das geistige Auge zu holen und zu prüfen, ob der Satz zutrifft. Einige brechen in erstauntes Gelächter aus: »Geschenke! Was soll das denn bitte schön!« Und aus manchen platzt es geradezu heraus: »Ich nehme Sie heute Abend mit nach Hause. Und dann schauen Sie sich meine Geschenke an, meinen Tim und seinen Bruder Fritz, wenn die sich um irgendeinen Blödsinn streiten! Das sind nun wahrlich keine Geschenke! Auf so etwas kann ich verzichten! Ehrlich!«

Und eine Mutter meinte, als sie das Bild von den Geschenken hörte: »Vielleicht ist da ja was Richtiges dran. Jetzt, mit Abstand zu meinen beiden Mädchen, kann ich da zustimmen. Aber wenn die beiden Kleinen wegen jeder Kleinigkeit rumzicken! Also, da muss ich dann schon sehr gut drauf sein, um da noch ein Geschenk zu erkennen! Das ist eine wirklich schöne Bescherung, die die beiden einem da bereiten!«

Tatsächlich ist der Wert von Geschenken nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Man muss sie erst auspacken, von Schleife und Papier befreien, um erkennen zu können, was sich in der Schachtel befindet. Bei Kindern ist es ähnlich. Natürlich sind sie nicht verpackt. Sie stehen live, authentisch, mit beiden Beinen geerdet vor einem: »Hier stehe ich! Nehmt mich so an, wie ich bin!«

Eine Mutter erzählte, sie habe mit dem Bild vom Geschenk ganz viel anfangen können: »Wenn ich mich über die beiden Buben, der eine acht, der andere sechs, fürchterlich aufgeregt hatte und total sauer war und mit ihnen bis zum nächsten Morgen nichts mehr zu tun haben wollte, dann habe ich an Schleifen gedacht, mit denen ich Geschenke verziere. Und als sie doch zu mir kamen, in Erwartung eines Donnerwetters, habe ich mir gesagt: Meine Geschenke sind im Anmarsch! Und ich habe mir vorgestellt, wie Louis eine rote Schleife im Haar hat, Denis eine grüne. Da musste ich schmunzeln. Die beiden waren total konsterniert und fragten mich, ob ich etwas getrunken hätte.«

Kinder sind Geschenke – nicht in jedem Augenblick, nicht in jeder Entwicklungsphase, doch sie sind Geschenke, mit denen und von denen man etwas lernen kann. Dazu gleich mehr.


Drei Geschenke auf einmal

AUS DEM FAMILIEN-LOGBUCH

Alu erzählt dazu folgende Geschichte: »Heute war es wieder so weit. Ich saß gerade in der Küche und trank meinen zweiten Kaffee des Tages. Da brüllte jemand im Kinderzimmer.

Die genauen Worte waren schwer zu verstehen, aber irgendwie ist das auch nie wichtig. Der Ablauf ist eigentlich immer der gleiche.

Luna geht in ihr Zimmer und möchte ihre Ruhe haben. Clemens ist das egal, er geht erst mal ›gucken‹ und wird dabei von der Großen angeranzt. Marie, die Jüngste, bemerkt plötzlich, dass in einem Zimmer ›was los ist‹, und tapert den anderen hinterher.

Wortgefecht. Wortgefecht.

Brüllen der Großen. Raussetzen der Kleinsten auf den Flur (›Das ruft Fred-Feuerstein-Erinnerungen in mir hoch!‹) und Türenknallen.

Marie kommt weinend in die Küche, in der ich mir gerade eine Tasse aus dem Schrank nehme und gleich einen weiteren Kaffee aufsetzen werde.

Clemens geht unbeeindruckt in sein Zimmer und stellt sich ein Hörspiel an. Seine Tür steht einen Spalt offen. Marie hat sich inzwischen in der Küche beruhigt und stiefelt Clemens in sein Zimmer hinterher.

Wortgefecht. Wortgefecht.

Clemens stapft in die Küche, um sich lautstark darüber zu beschweren, dass ›das Baby immer sein Lego auseinanderbaut‹. Um das zu verstärken, wiederholt Marie die Sätze von Clemens lautstark: ›Brudi ist sauer, weil ich hab sein Legooooo auseiiiiandergebaut. Ich bin eine gute Auseiiianderbauerin!«

Clemens stapft in sein Zimmer zurück und schließt die Tür.

Mein Kaffee läuft durch. Marie weint in der Küche.

Ich gehe zu Luna, klopfe an die Tür. Ich sage, dass ich gern mal zehn Minuten für einen Kaffee hätte und Marie Sehnsucht hat.

Luna ist total genervt und macht ›orrrhhh, eeechhht …‹, ruft dann aber Marie zu sich.

Ich gehe zurück in die Küche. Mein Kaffee wartet auf mich. Ich schütte mir Milch hinein. Ich setze mich hin.

Clemens öffnet seine Tür und läuft auf Lunas Zimmer zu.

Ich nehme meinen ersten Schluck.

Ich höre Stimmen. Sie werden laut. Sie schreien. Dinge werden geworfen.

Wortgefecht. Wortgefecht.

Ich nehme einen zweiten Schluck.

Die Tür von Luna fliegt auf. Alle drei Kinder rennen schreiend zu mir in die Küche. Sie brüllen alle durcheinander und schreien was von ›Hier Schuld‹, ›Da Stress‹, ›Legosteine‹, ›nervt‹. Der Rest geht in Maries weinerlichem Tonfall unter.

Ich nehme einen dritten Schluck Kaffee und lausche der Musik innen drin, ›Badadibadada‹.

Ich kläre den Sachverhalt. Ich höre jedem Kind zu und trockne Tränen. Als ich vorschlage, dass Luna allein in ihrem Zimmer rumsitzen, Clemens in seinem Zimmer Lego spielen und Marie sich bei mir ein Buch anschauen könne, sagen alle unisono: ›Nein! Wir haben uns doch lieb. Wir spielen zusammen. Sonst ist es doch langweilig.‹

Sie gehen zusammen in Lunas Zimmer.

Ich nehme einen vierten Schluck Kaffee und warte auf die Wiederholung.

Seufz. GESCHWISTER! Alles wie immer!«

KINDER ALS DROHUNG

Es gibt, wie bereits erwähnt, einen anderen Satz, dem viele Eltern schnell zustimmen, einen Satz, den sie einst – als sie selbst noch Kinder waren – an sich haben abgleiten lassen, den sie jetzt aber – in der Rolle als Mutter oder Vater – als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung empfinden. Es ist der Satz, den die eigenen Eltern damals als Drohung ausstießen, wenn sie mit ihrem pädagogischen Latein am Ende waren: »Ich wünsche dir die Kinder, die ihr selber wart!« Eine Drohung, um Kinder kleinzuhalten, ruhigzustellen, zur Einsicht zu zwingen. Unangepasstes Verhalten wurde so sanktioniert, aufbegehrendes Handeln unterdrückt. Es wirkt wie ein geradezu alttestamentarischer Fluch: »Deine Kinder werden dich später für das bestrafen, was du jetzt tust!« Welch eine Drohung! Welch wüste Prophezeiung!

Die förderliche Rolle der Kinder

Wenn wir von Kindern als Geschenken reden, dann wollen wir sie nicht als kleine Gottheiten in den Himmel heben. Da wollen sie auch nicht hin! Sie haben eine Aufgabe auf Erden: den Eltern zu zeigen, dass sie, wie es der Soziologe Martin Doehlemann (*1941) ausgedrückt hat, »ganze Menschen« sind, die »zur Erweiterung der erwachsenen Persönlichkeiten« beitragen. Und Ronald D. Laing (1927–1989), ein britischer Psychiater, kam aufgrund seiner Studien zu dem Schluss, dass Kinder in der Entwicklung von Erwachsenen eine ähnlich wichtige Rolle spielen wie diese in der Entwicklung von Kindern. Es ist mithin lohnend, sich von Kindern in deren Welt einladen zu lassen. Das gilt vor allem bei Geschwistern.

»Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder«, kann man im Matthäus-Evangelium lesen (Mt 18,3). Und dies meint nicht, kindisch zu werden. Oder Kindern die Macht zu geben, wie es der Sänger Herbert Grönemeyer einst verklärend einforderte. Auch Armeen von Gummibärchen bleiben ungesund! Nein, Geschwistern geht es nicht um Macht! Sie wollen ihre Eltern nicht besiegen.

KINDER PRÄGEN BEZIEHUNGEN

Der Psychiater und Familientherapeut Manfred Cierpka (1950–2017) hat – wie viele andere AutorInnen, zum Beispiel Katja Seide – auf die konstruktive, die aktive Rolle von Kindern im Familienalltag hingewiesen. Kinder gestalten Beziehungen zu ihren Eltern, und sie prägen die Beziehungen zu ihren Geschwistern.

Kinder sind nicht die »süßen Kleinen«, die bereitwillig oder gar widerspruchslos machen, was man sich von ihnen wünscht. Aber sie sind auch nicht die »Großen«, die schon vernünftig wie »kleine Erwachsene« handeln. »Kinder sind«, so noch mal Martin Doehlemann, »die kleinen Exoten im routinierten Lebensalltag der Erwachsenen«, die mit ihrem Tun, ihrem Dasein, ihren Worten dem Familienleben ihren unverwechselbaren Stempel aufdrücken.

ROGGES FALLGESCHICHTEN

Der trockene Kommentar des fast sechsjährigen Julian: »Seit Maja und ich bei euch sind, seid ihr Mama und Papa geworden.« Er blickt seine verblüfften Eltern an und ergänzt: »Nee, stimmt nicht ganz. Eltern seid ihr geworden, als die Maja geboren wurde!« Julian lächelt seine sprachlosen Eltern an: »Da konntet ihr schon was lernen, bevor ich dann gekommen bin.«

Julian hat die Situation kurz und knackig auf den Punkt gebracht: Seine Schwester hat als erstes Kind aus einem Paar junge Eltern gemacht. Aus einer Zweierbeziehung ist eine »Dreierkiste« geworden – mit allen Konsequenzen, die das Leben als Familie mit sich bringt, wie wir noch zeigen werden (siehe ab >).

Geschwister - eine ganz besondere Liebe

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