Читать книгу Broken World 2 - Jana Voosen - Страница 15
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ОглавлениеMeine letzte Reise, wie Akando es genannt hat, ist lang. Raus aus Johtaja und bis zur Nordseeküste. Von da aus über das schaukelnde Meer bis zur Gefangeneninsel, wo sich niemals ein Unbefugter hin verirren wird, weil sie angeblich radioaktiv verseucht ist. Ganz schön clever ist das. Auch wenn sich der allergrößte Teil der Bevölkerung an unsere Regeln hält, sich auf sich selbst konzentriert und seinen Mitmenschen nicht allzu viel Beachtung schenkt, vor allem den Armen und Kranken, die am Rande der Gesellschaft stehen: Ein Gefängnis, in dem man die Insassen systematisch verhungern lässt, das ist schon starker Tobak. Und könnte durchaus Missfallen bei den Bürgern auslösen. Damit fliegt man also besser unter dem Radar.
Jedenfalls vergehen viele Stunden, in denen ich zu viel Zeit habe, um nachzudenken. Über alles, was geschehen ist. Ja, ich frage mich sogar kurz, ob ich mich damals, vor zwei Monaten, falsch entschieden habe. Als sie mir die Wahl gelassen hatten: Ins Gefängnis gehen oder Versuchskaninchen sein für das Serum, das mein Vater entwickelt hat. Dann hätte ich in mein altes Leben zurückkehren dürfen. In meine luxuriöse Wohnung, den lukrativen Job und zu meinem attraktiven Gefährten. Adriel. Ich sehe ihn vor mir, seine stahlblauen Augen, den athletischen Körper, dunkelblonde Haare, die ihm entzückend in die Stirn fallen. Wer weiß, vielleicht wäre es mir mit der Droge sogar egal gewesen, dass ich mit einem Verräter Bett und Leben teile? Hätte ich meine Liebe zu Len vergessen können? Und auch all das, was ich in den Slums am Rande von Johtaja erlebt habe? Das Leid, das ich dort gesehen habe?
Mir fällt auf, wie müßig es ist, jetzt darüber nachzudenken. Damals war ich in meiner Entscheidung ganz klar. Wie Len auch. Zusammen gegen den Rest der Menschheit. Märtyrer im Kampf für eine bessere Welt. Bereit, in den Tod zu gehen, nur leider unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wie sinnvoll ist es, für die eigene Überzeugung zu sterben, wenn niemand dabei zusieht? Und demzufolge auch niemand daraus lernen kann?
Seltsamerweise fiel mir die Entscheidung für den Tod damals leichter als heute. Denn jetzt ist es keine Entscheidung mehr. Sie haben mich erwischt. Mein Todesurteil ist gesprochen und muss nur noch vollstreckt werden. Quälend langsam, vermutlich. Mir bricht der Schweiß aus allen Poren. Ich will nicht sterben. Weder schnell noch langsam. Am wenigsten langsam.
Die Angst stürzt sich plötzlich und unvermittelt auf mich wie ein wildes Tier. Sie beißt mich in den Nacken und umschließt mich mit ihren Pranken. Drückt die Luft aus meinen Lungen wie aus einem Schwimmtier. Und dann sieht sie lachend dabei zu, wie ich untergehe.
Als erstes spüre ich den Lappen in meinem ausgetrockneten Mund. Beginne sofort wieder zu würgen. Stoße verzweifelt meine Zunge gegen den Fremdkörper, der sich überraschenderweise bewegen lässt. Das Tuch, mit dem mein Knebel fixiert war, ist verschwunden. Keuchend spucke ich ihn aus, huste, ringe nach Luft.
Im selben Moment realisiere ich, dass ich hören kann. Und dass meine Arme neben meinem Körper liegen, und nicht vollkommen verdreht hinter meinem Rücken.
Mühsam öffne ich die Augen. Über mir und um mich herum Mauern aus kaltem, grauen Stein. Unter mir eine Matratze, deren Stahlfedern sich in meinen Rücken bohren.
„Wasser“, versuche ich zu sagen, doch es kommt nur ein heiseres Krächzen aus meiner ausgetrockneten Kehle. Meine Zunge scheint auf das Doppelte angeschwollen zu sein, und ist so trocken und rau wie Schmirgelpapier. Ich richte mich auf, alles dreht sich und ein stechender Schmerz fährt mir von einer Schläfe zur anderen.
„Wasser“, röchele ich schon etwas deutlicher, aber immer noch sinnlos. Hier ist niemand. Ich sitze in einer winzigen Zelle. Vielleicht drei Meter lang und zwei Meter breit. Das Fenster ist nur eine schmale Auslassung mit vergitterten Scheiben ganz oben in der Wand, durch die ein bisschen Licht hereinfällt. Bett, Toilette, Waschbecken. Eine nackte Glühbirne baumelt von der Decke. Von der blau angestrichenen Stahltür blättert die Farbe ab. In der Ecke eine Überwachungskamera. Das rote Licht blinkt.
Ich hebe die Hände dicht vor meine Augen, um im fahlen Schein des Mondes etwas zu erkennen. Meine Gelenke sehen furchtbar aus, geschunden und blutig. Was, wenn Bakterien in die Wunde geraten? Sie sich infiziert, und ich an einer Blutvergiftung sterbe, so wie meine Mutter?
Bei diesem Gedanken schüttele ich über mich selbst den Kopf. Lache ein heiseres, raues Lachen, das unheimlich klingt in der Stille der Nacht. Ich befinde mich an einem Ort ohne Wiederkehr. Die Frage ist nicht, ob ich hier sterben werde. Sondern nur wie.
Wie spät ist es? Und wie lange liege ich schon hier? Ich muss wohl irgendwann eingeschlafen sein, oder, was wahrscheinlicher ist, das Bewusstsein verloren haben. Also haben sie mich hier in die Zelle geschleppt, meine Fesseln gelöst und mich liegengelassen. Nicht gerade die feine englische Art. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Lappen aus meinem Mund zu entfernen. Ich hätte mich übergeben und an meinem eigenen Erbrochenen ersticken können.
Wieder dieses Lachen, das gar nicht zu mir zu gehören scheint. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich den allgegenwärtigen Tod als Konstante im Rest meines Lebens akzeptiert haben werde. Aber ist der Tod nicht immer allgegenwärtig? Nicht nur hier? Ist die Welt da draußen nicht eigentlich genauso wie dieser Ort? Eine Ansammlung von Menschen, die auf den Tod warten?
Sehr philosophisch, Yma, wirklich. Ich schüttele den Kopf. Etwas, das ich lieber hätte bleiben lassen sollen, denn erneut schießt mir ein Rasiermesser quer durchs Hirn. Gleichzeitig wird mir speiübel. Wie spät mag es sein? Ich versuche auszurechnen, wie lange ich nichts mehr gegessen oder getrunken habe, woraufhin mein Magen ein vernehmliches Knurren von sich gibt. Viel zu lange, findet er.
Noch dringlicher ist der Durst. Mit wackeligen Knien stehe ich von meiner Pritsche auf und gehe zum Waschbecken. Drehe den Hahn auf und halte meine Hände unter den Strahl. Das Wasser ist eiskalt und tut weh. An meinen sowieso schon kalten Fingern. An den Zähnen. Ich trinke trotzdem. Kann spüren, wie meine ausgedörrte Mundschleimhaut sich förmlich vollsaugt. Auch die rasenden Kopfschmerzen lassen beinahe auf der Stelle ein wenig nach.
Nachdem ich meinen Durst gelöscht habe, beiße ich die Zähne zusammen und atme tief aus. Halte meine blutigen Handgelenke unter den Wasserstrahl, sehe, wie ein rosa Rinnsal im Ausguss verschwindet. Ich kann nur hoffen, dass das Wasser nicht mit irgendwelchen fleischfressenden Bakterien kontaminiert ist.
Eine weitere Art zu sterben. Vielleicht sollte ich eine Liste anlegen.
Nachdem die Wunden ausgewaschen sind, sehe ich mich suchend in der Zelle um. Meine Augen haben sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Am Fußende des Bettes liegt eine graue Wolldecke. Ein Handtuch. Als ich es hochhebe, fällt etwas mit einem leisen Geräusch zu Boden. Eine Zahnbürste. Ich spüre fast so etwas wie Dankbarkeit, als ich sie aufhebe und auf den Rand des Waschbeckens lege. Außerdem finde ich eine Garnitur Kleidung. Unterwäsche, die mir mindestens drei Nummern zu groß ist. Grobe Socken. Einen roten Overall mit einer Nummer auf der Brust.
„Funktionstests also. Endlich muss ich nicht mehr löten“, sage ich laut zu der Überwachungskamera und verspüre eine kindische Freude darüber, dass ich die Einzige bin, die diesen Witz versteht.
Der rot blinkende Punkt dort oben verleiht mir absurderweise ein Gefühl von Sicherheit. Ich bin nicht völlig alleine. Nach den Stunden, die ich, all meiner Sinne beraubt, abgekapselt von der Außenwelt verbracht habe, empfinde ich es als tröstlich, dass da jemand ist. Da sitzt einer vor seinem Bildschirm und sieht, dass Dornröschen endlich aus seinem Schlaf erwacht ist. Ich versuche, mir den Kerl am anderen Ende vorzustellen. Wie sieht er aus? Hat er Familie? Warum macht er ausgerechnet diesen Job? Vielleicht sind sie aber auch zu zweit? Spielen Schach. Trinken Bier. Werfen nur ab und zu einen Blick in Richtung Monitor.
Ich hebe den Overall hoch und halte ihn mir an. Wenn ich Ärmel und Beine hochkrempele, sollte es gehen. Er sieht sauber aus und riecht relativ frisch. Ganz anders als die Kleider, die ich am Leib trage. Entschlossen ziehe ich mich aus, und um dem Typen da oben, wer immer er auch ist, nicht die Genugtuung zu geben, versuche ich nicht einmal, mich schamhaft zu bedecken. Soll er doch glotzen. Es ist mir egal.
Der Stoff fühlt sich grob und kratzig an, schließt aber gut die Kälte aus. Trotzdem wickele ich mich zusätzlich noch in die Decke. Setze mich im Schneidersitz auf mein Bett, lehne den Kopf gegen die Wand, warte darauf, dass irgendetwas geschieht.
Beobachte, wie es draußen vor dem Fenster zu dämmern beginnt. Und warte.
Der Alarmton, der plötzlich ertönt, ist so laut, so gellend und so schrill, dass ich erschrocken zusammenzucke. Mein Herz rast in der Brust. Die Sirene heult und heult, dann wieder Stille. Ein Klicken, und die Tür meines Gefängnisses öffnet sich wie von selbst.