Читать книгу Broken World 2 - Jana Voosen - Страница 16
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Оглавление„Alle Gefangenen aufstellen zum Morgenappell“, donnert eine seltsam blecherne Stimme.
Ich schäle mich aus meiner Decke und stolpere zur Tür. Trete hinaus auf einen Gang. Ein hüfthohes Geländer. Dahinter geht es sicher zehn Meter runter. Mir gegenüber, nur ein paar Meter entfernt, ein Gang, der genauso aussieht wie der, auf dem ich stehe. Dutzende von Türen nebeneinander. Gefangene in Overalls, die aus ihren Zellen treten. Ich riskiere einen Blick nach unten, durch das Gitter, aus dem der Boden besteht. Ein weiterer Gang, noch mehr Zellen, noch mehr Menschen. Direkt vor meinen Füßen ein rot umrandeter Kreis von der Größe einer Wassermelone. Ich sehe nach links und nach rechts. Direkt neben mir wendet eine Frau mittleren Alters den Kopf in meine Richtung. Ihr braunes Haar, das sie mit einem Knoten im Nacken zusammengebunden hat, ist von grauen Strähnen durchzogen. Sie hat ein langes, schmales Gesicht mit kräftigen Augenbrauen und sehr dunklen Augen. Sogar in dem unförmigen Overall kann man erkennen, wie dünn sie ist. Nicht, dass ich erwartet hätte, hier besonders viele fettleibige Menschen anzutreffen. Der Sarkasmus meiner eigenen Gedanken erschreckt mich.
Ich sehe meine Nachbarin an und nicke ein wenig verlegen. Hebe leicht die Hand. Keine Reaktion.
„Hallo“, sage ich. „Ich bin …“
„Stell dich in den Kreis“, unterbricht sie mich und ich beeile mich, meinen Platz einzunehmen.
„Gefangene, heute ist der 10. Oktober. Es ist sechs Uhr. Nach dem Frühstück beginnt die Arbeit um Punkt halb sieben. Wegtreten.“
Frühstück! Allein bei der Nennung des Wortes beginnt mein Magen laut zu knurren. Auch, wenn ich natürlich weiß, dass es vermutlich nicht allzu reichhaltig ausfallen wird, kann ich es kaum erwarten. Ich sehe mich um und beobachte, dass die Menschen um mich herum ausnahmslos zurück in ihre Zellen treten. Wasserhähne und Klospülungen rauschen. Ich verstehe. Zeit für die Morgentoilette. Ich mache es ihnen nach, versuche nun, da wieder Menschen aus Fleisch und Blut in meiner unmittelbaren Nähe sind, den Gesichtslosen hinter der Überwachungskamera zu ignorieren. Putze mir dann noch die Zähne, was sich gut anfühlt, obwohl ich keine Zahncreme habe. Wen kann ich danach fragen?
Ich höre Geräusche vom Gang und beeile mich, die Bürste auszuspülen und mein Gesicht abzutrocknen. Denn ich habe keine Ahnung, wo ich als nächstes hingehen soll und möchte ungern den Anschluss verlieren.
Also haste ich hinaus auf den Flur und schließe mich der Menschenmenge an. Eine Treppe hinunter. Dann noch eine. Niemand nimmt von mir Notiz, auf jeden Fall scheint es so. Kein Blick trifft meinen, und doch habe ich das Gefühl, als würde ich beobachtet werden. Vielleicht leide ich aber auch unter Verfolgungswahn.
Ich scanne die Gefangenen um mich herum, die Männer tragen ausnahmslos Bärte. Wo ist Len? Werde ich ihn überhaupt erkennen? Eine blöde Frage.
Durch ein Eisentor gelangen wir ins Freie, auf einen an drei Seiten von dem massigen Gefängnisgebäude umgebenen Hof. Die vierte Seite bildet ein meterhoher Zaun mit Stacheldrahtrollen daran. Dahinter steht ein Kran und ich frage mich kurz, was dort wohl gebaut wird. Spitze Steinchen drücken sich von unten durch meine dünnen Schuhsohlen.
Wie viele Gefangene gibt es hier? Ich verrenke mir den Kopf, um etwas sehen zu können. Um Len sehen zu können. Ist er das da hinten? Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, prompt rempelt jemand von hinten gegen mich.
„He, was soll das?“
„Entschuldigung“, beeile ich mich zu sagen.
„Schon gut.“ Die blonde Frau, nur ein paar Jahre älter als ich, zuckt mit den Schultern und macht Anstalten, an mir vorbei zu gehen. Ich beeile mich, ihr zu folgen.
„Ich bin Yma“, sage ich, als ich zu ihr aufgeschlossen bin.
„Aha.“
„Ich bin heute Nacht, äh, hier angekommen.“
„Aha.“ Sie ist wirklich ein Ausbund an Kommunikationsfreude.
„Und wie heißt du?“, lasse ich nicht locker. Ich weiß nicht genau, woran es liegt. Vielleicht, weil wir fast gleich alt sind. Vielleicht, weil ihre blauen Augen beinahe so unschuldig und klar sind wie die eines Kindes.
„Lilja“, sagt sie widerstrebend und beschleunigt ihre Schritte.
„Lilja“, wiederhole ich. „Das ist ein schöner Name. Sag mal …“
Ein schwarzhaariger Mann tritt zu uns heran, lässt den Blick von mir zu ihr schweifen.
„Was machst du?“, fragt er, worauf Lilja den Kopf einzieht. Er nimmt ihre Hand und zieht sie mit sich fort. Von mir weg.
„Warte“, sage ich beinahe flehend, doch sie wirft mir nur einen entschuldigenden Blick zu und hebt die Schultern. Ich folge den beiden trotzdem. Es ist schon in Ordnung, wenn sie nicht mit mir reden. Hauptsache, sie zeigen mir den Weg zum Frühstücksraum.
Wir und alle anderen Gefangenen überqueren den Gefängnishof. Ein paar Meter vor dem Stacheldrahtzaun bleiben wir stehen. Und jetzt? Ich registriere, dass sämtliche Gesichter sich in dieselbe Richtung wenden und tue es ihnen nach. Sehe einen Mann in einer schwarzen Uniform, der gerade das Führerhäuschen des Krans besteigt. Um mich herum macht sich Unruhe breit. Ich habe keine Ahnung, was passiert.
Der Mann startet den Motor, der Arm des Krans richtet sich auf, etwas schaukelt, mit Seilen befestigt, an seinem Ende. Eine große, hölzerne Kiste.
Sie schwenkt über den Stacheldrahtzaun, bis sie genau über unseren Köpfen schwebt. Alle starren nach oben. Ich auch. Was wird das? Vorsichtshalber trete ich lieber ein paar Schritte zurück, es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn in sechs Metern Höhe so ein Riesending über einem schlenkert, das einen jederzeit erschlagen könnte. Meine Nackenmuskeln ziehen sich unwillkürlich zusammen.
Den anderen Gefangenen scheint es ähnlich zu gehen, jedenfalls heben sie die Arme über ihre Köpfe. Was nicht viel nützen wird, wenn das Ding tatsächlich runterkracht.
Ich traue mich nicht, irgendetwas zu sagen. Alle sind so merkwürdig still, niemand spricht ein Wort. Ich kann die Wellen hören, die irgendwo nicht allzu entfernt an Klippen zerschellen.
In diesem Moment öffnet sich der Boden der Truhe und entlässt ihren Inhalt. Eine gewaltige Menge an Brot regnet herab. Die so gewaltig gar nicht ist, wenn man bedenkt, dass es sicher an die zweihundert Menschen sind, die sich darum schlagen.
Fassungslos beobachte ich das Schauspiel. Muss an ein Aquarium voller Piranhas denken, in das jemand einen Köder hält. Aus den Hunderten Gefangenen, die eben noch in Reih und Glied über den Hof marschiert sind, ist eine blutrünstige Meute geworden. Ich beobachte einen großen Mann mit breitem Brustkorb, der sich den Overall mit Brötchen vollstopft und sogar noch einem kleineren Mann das Brot entreißt, das dieser gerade aufgehoben hat. Es werden regelrechte Zweikämpfe ausgefochten. Lilja erwischt ein paar Brocken, während der Schwarzhaarige, der sie von mir weggezogen hat, ihr den Weg freikämpft.
Niemand außer mir bekommt mit, wie der Kranfahrer die Kiste zurück über den Zaun schwenkt. Den Lastenarm senkt und sein Führerhäuschen verlässt, ohne den Kämpfen hier drinnen auch nur irgendwelche Beachtung zu schenken.
Nach wenigen Minuten ist alles vorbei. Die Menge verstreut sich, manche ihre Beute an sich drückend, andere mit frischen Blessuren im Gesicht und hungrigen Augen. Ich starre fassungslos auf den leeren Platz, an dem sich der aufgewirbelte Staub gerade zu legen beginnt. Ich möchte wetten, dass ich nicht einen einzigen Brotkrumen mehr dort finden werde. Wo bin ich hier gelandet?
Plötzlich sehe ich Akando vor meinem inneren Auge. Wie er neben mir in dem Privatjet saß, mit dem wir vor einigen Monaten über diese Insel geflogen sind. Das war kurz nach meiner Verhaftung. Meiner ersten Verhaftung. Er wollte mir Angst machen und hat mir das Gefängnis gezeigt. Mir erklärt, dass hier Menschen hinkommen, die so sind wie ich. Die sich dem System widersetzen. Die Mitleid empfinden. Die anderen helfen.
„Siehst du, Yma“, höre ich Akando sagen, „dies ist nicht nur einfach ein Gefängnis. Es ist ein Experiment, das verdeutlicht, dass Mitgefühl und Zusammenhalt eine evolutionäre Fehlleitung sind. An diesem Ort herrscht Überbevölkerung. Die Lebensmittel reichen für genau fünfzig Prozent der Bewohner. Aber leider haben die Gefangenen hier das gleiche Problem wie du und dein Len. Mitgefühl. Sie teilen die Nahrungsmittel untereinander auf. Aber es ist zu wenig. Sie magern ab. Werden krank. Sterben. Ihr Mitgefühl wird sie umbringen, Yma. Es wird sie alle umbringen.“
Ich erschaudere. Von Mitgefühl war in der Szene von eben nicht mehr viel zu erkennen. Was ich beobachtet habe, war der nackte Überlebenskampf völlig verzweifelter Menschen. Hungriger Menschen.
Ich spüre seine Präsenz, noch bevor ich mich umdrehe. War er die ganze Zeit dort, nur ein paar Meter hinter mir? Plötzlich fühle ich ein Prickeln auf meiner Haut, das meinen gesamten Körper überzieht. Wie in Zeitlupe wende ich mich um. Dort steht Len. Die Hände tief in den Taschen seines grauen Overalls vergraben. Seine Haare sind länger, genauso wie sein Bart. Und natürlich ist er dünn geworden. Schrecklich dünn.
Einen unendlichen Moment lang stehen wir da und sehen uns an, ohne etwas zu sagen. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, ihn wieder zu sehen. Doch jetzt, hier an diesem Ort, wird mir klar, dass Len sich das Gegenteil gewünscht hat. Ich kann es in seinen Augen sehen.
„Len“, flüstere ich.
Es tut mir leid, will ich sagen. Es tut mir leid, dass ich so dumm gewesen bin. Dass ich mich von ihnen habe erwischen lassen. Aber ich bringe kein weiteres Wort heraus. Es nützt ja sowieso nichts.
Len verzieht das Gesicht. Sein fast schwarzer Bart spaltet sich, als er die Zähne zeigt, in einem gruselig anmutenden Lächeln.
„Na dann“, sagt er und seine Stimme klingt rau. „Willkommen in der Hölle.“
Für einen Moment glaube ich tatsächlich, dass er sich nun einfach umdrehen und gehen und mich alleine zurücklassen wird. Warum sollte er auch nicht? Er hat genug geopfert für mich. Hat meine Flucht ermöglicht. Vielleicht fragt er sich, warum er das getan hat. Warum er nicht lieber selber gesprungen ist und mich den Wachen überlassen hat. Wenn ich blöd genug bin, mich nur zwei Monate später erneut verhaften zu lassen. Nun bin ich hier, eine weitere Konkurrentin im Kampf um das wenige Essen.
Aber dann sehe ich, wie Len die Arme hebt. Nur ein kleines Stück, eigentlich ist es eher eine Aufwärtsdrehung der Hände. Aber ich verstehe ihn. Gehe auf ihn zu und sinke in seine Arme.
In Büchern liest man manchmal, dass zwei Liebende alles um sich herum vergessen, wenn sie einander umarmen. Das ist bei uns nicht der Fall. Alles ist noch da. Die Szene, die ich gerade beobachten musste, hängt mir im Nacken. Ich spüre die Blicke der anderen Gefangenen, die auf irgendwelchen Bänken im Hof sitzen und ihr hart erkämpftes Brot herunterschlingen. Oder eben nicht. Ich fühle den Hunger, der meinen leeren Magen zusammenkrampft. Trotz all dem ist es schön, Len zu spüren. Seine Arme um meinen Körper. Er hält mich vorsichtig und doch fest.
„Yma“, sagt er und mir treten beim Klang seiner Stimme die Tränen in die Augen. „Ich wünschte, du wärest nicht hier.“