Читать книгу Broken World 2 - Jana Voosen - Страница 9
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ОглавлениеEs ist nicht leicht, Freundschaften zu schließen an diesem Ort. Alle sind so sehr mit sich selbst beschäftigt. Mit der Arbeit und dem Elend. Sechzehn Stunden Schicht, dazu die täglichen zwei Stunden Busfahrt zu den Arbeiterunterkünften. Wir sinken völlig erschöpft ins Bett, um keine sechs Stunden später wieder aufzustehen. In der zwanzigminütigen Mittagspause schlingt man hastig sein Essen herunter, und schon geht es zurück ins Hamsterrad.
Ich würde trotzdem behaupten, dass Maya so etwas wie eine Freundin geworden ist. Es ist nur eine andere Art von Freundschaft. Man ist sich nicht ganz so egal wie alle anderen. Sie weckt mich, wenn ich verschlafe. Ich bringe ihr einen Kaffee. Solche Sachen. Nachts treffen wir uns auf dem Dach. Dort haben wir uns näher kennengelernt. Die meisten Arbeiterinnen taumeln nach der Busfahrt sofort in ihre Zimmer. Aber ich nicht. Und Maya auch nicht.
Wir steigen über eine Leiter auf das flache Dach des sechsstöckigen Gebäudes. In stillem Einvernehmen, wie schon so viele Abende zuvor. Setzen uns an den Rand und lassen die Beine baumeln. Ich lehne mich zurück und sehe hinauf in den Nachthimmel. Er ist heute wunderschön. Dunkel und sternenklar. Ich atme die frische, kalte Luft tief in meine Lungen ein, es tut so gut, dass ich weinen möchte. Eine weiße Rauchwolke schwebt an mir vorbei und ich wedele sie mit der Hand weg.
„Muss das unbedingt sein?“
Maya nickt. „Ja, allerdings.“ Trotzdem nimmt sie ihre Zigarette in die andere, weiter von mir entfernte Hand, bevor sie erneut daran zieht. Mit einem Seufzen stößt sie den Rauch aus. „Das tut gut.“
„Nein, tut es nicht“, sage ich und komme mir vor wie eine Schallplatte. „Du wirst dich damit umbringen.“
„Genau“, gibt Maya zurück und dann starren wir beide hinunter in die Tiefe. Zu den breiten Netzen, die das gesamte Gebäude auf Höhe des ersten Stockwerks umgeben. Sie hängen dort schon seit mehreren Jahren. Zu viele Leute sind gesprungen, um der Ausweglosigkeit zu entfliehen. Die Rede ist von Hunderten von Selbstmorden innerhalb weniger Jahre. Und was macht ein guter Arbeitgeber wie RGE, wenn seine Leute reihenweise in den Tod springen? Verbessert er die Arbeitsbedingungen? Erhöht er die Löhne? Nein, er spannt Netze auf. Die Botschaft ist klar: Wir scheißen auf euer Leben. Wenn ihr es beenden wollt, dann bitteschön nicht auf unserem Grundstück. Hier hat keiner Lust, die Sauerei wegzuwischen.
„Hab gehört, du hast Kele heute auf die Finger gehauen“, sagt Maya. Selbst der ewig gleiche, leiernde Tonfall, mit dem sie spricht, kann die Anerkennung nicht ganz verbergen, die in ihren Worten liegt.
„Neuigkeiten verbreiten sich schnell“, gebe ich zurück.
„Wünschte, ich hätte das auch mal getan“, sagt Maya und raucht in hastigen, schnellen Zügen. „Ein Kotzbrocken.“
Ich sehe sie von der Seite an, frage aber nicht weiter. Sie würde es mir sowieso nicht erzählen.
„Sag mal …“, fragt sie, offensichtlich erpicht darauf, das Thema zu wechseln, „ist übermorgen nicht dein freier Tag?“
Ich nicke. Ein freier Tag im Monat, mehr wird uns nicht zugestanden. Keine Wochenenden. Keine Feiertage. Nur dieser eine Tag. An dem man nichts tun muss und ganz alleine ist mit sich und seinen Gedanken.
„Und, was hast du vor?“
„Ach, mal sehen“, gebe ich zurück. „Ich werde wohl ins SPA gehen und mir eine schöne Rückenmassage gönnen. Danach ein leckeres Mittagessen in einem Restaurant. Und dann vielleicht ins Kino.“
Maya lacht, ein raues, keckerndes Lachen. „Klingt großartig. Und danach triffst du in einem schicken Hotelzimmer deinen Len und lässt dir von ihm das Hirn rausvögeln.“
Die unvermittelte Erwähnung seines Namens trifft mich wie eine kalte Dusche. Es gelingt mir nicht rechtzeitig, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen. Ich kann es Maya ansehen.
„Sorry“, sagt sie und starrt wieder nach vorne. „Ist er tot?“
Ja, will ich antworten. Weil es einfacher ist. Und vielleicht sogar die Wahrheit. Zwei Monate. Nein, eher nicht. Ganz ohne Essen hätte er es jetzt vermutlich schon hinter sich. Aber mit der Hälfte von dem, was man braucht, kann man ziemlich lange durchhalten. Das ist dann doch wieder zu viel zum Sterben. Der Körper baut ab, greift auf die eigenen Fettreserven zurück, von denen Len sowieso nicht viele hatte. Dann auf die Muskeln. Die Organe. Der Mangel an Nährstoffen macht anfällig für Krankheiten, die einen töten können. Oder auch nicht. Es kann sich ewig hinziehen. Ich spüre einen sauren Geschmack im Mund und schlucke krampfhaft.
„Weißt du es nicht?“
Mir fällt auf, dass ich noch nicht geantwortet habe. Dass mir ein Ja nicht über die Lippen kommt, auch wenn es das Gespräch auf wunderbar einfache Weise beendet hätte. Aber ich kann nicht. Ich kann ihn nicht totsagen. Das ist, als würde ich ihn aufgeben. Dazu, so merke ich in diesem Moment, bin ich noch lange nicht bereit.
„Ich weiß es nicht“, sage ich deshalb. „Ich hoffe, dass er lebt.“
„Scheißleben“, sagt Maya. „Ich geh ins Bett.“ Sie rappelt sich auf und schnippt die Zigarette von sich. Funkensprühend fliegt sie in hohem Bogen durch die Nacht. Wie eine Sternschnuppe, fährt es mir durch den Kopf. Und wider jede Vernunft schließe ich die Augen und spreche stumm meinen größten Wunsch.
Lass mich ihn wiedersehen.