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Draußen vor dem riesigen Betonklotz, in dem sich das Wohnheim befindet, warten schon die Busse. Und Hunderte von Menschen in Arbeitsanzügen. Sie haben unterschiedliche Farben, für jeden Arbeitsschritt eine andere. Dunkelrot, orange, blau, türkis, grün. Es ist ein buntes Gewusel, das so gar nicht zu der kargen, grauen Umgebung passt, in der wir uns befinden. Ein paar knorrige Bäume, krumm gewachsen, in trockener, steiniger Erde, die links und rechts die breite, endlos erscheinende Straße säumt. Die Sonne geht gerade erst auf. Es ist kalt. Fröstelnd schlinge ich beide Arme um mich. Während die Menschen in die Busse drängen, gehe ich zu dem Kaffeehäuschen neben der Haltestelle. Juri, der Besitzer, scheint der einzige zu sein, der heute Morgen nicht nur hellwach, sondern auch gut gelaunt ist.

„Guten Morgen“, sagt er und grinst mich an.

„Guten Morgen“, gebe ich zurück und krame in meinem Beutel nach einem Geldschein.

„Kaffee?“, fragt er unnötigerweise, denn etwas Anderes

gibt es bei ihm nicht zu kaufen. Einfach nur Kaffee. Aus der Filtermaschine. Schwarz und scheußlich. Sehnsuchtsvoll gestatte ich mir einen kurzen Gedanken an das Café Bohème in meinem früheren Wohnblock. Wo ich im Luxus gelebt habe, bevor alles den Bach runterging. Alleine die unterschiedlichen Kaffee-Kreationen, von Cold Drip über Dargona bis hin zu Mélange füllten dort eine ganze Speisekarte. Und erst das Frühstücksgebäck. Croissants, Zimtschnecken, belegte Panini, Bananabread. Mein Magen knurrt so laut, dass wahrscheinlich sogar Juri es hören kann.

„Na?“, fragt der ungeduldig.

„Ja, natürlich. Was denn sonst?“, gebe ich im gleichen

Tonfall zurück und werfe einen besorgten Blick in Richtung Haltestelle, wo nur noch zwei Busse stehen.

Er reicht mir einen dampfenden Pappbecher. „Wohl bekomms!“

„Ich fürchte nicht“, sage ich und gebe ihm einen zerknitterten Schein. Zwei Creds. Ein absoluter Wucher für die Plörre, die er uns andreht. Aber wie überall regelt auch hier die Nachfrage das Angebot und Juri verdient sich vor den Arbeiterunterkünften jeden Morgen eine goldene Nase.

Ich nehme den Becher entgegen, will mich schon abwenden, als ich es mir anders überlege.

„Ich nehme noch einen“, sage ich und schiebe schweren Herzens einen weiteren Schein über den Tresen.

Die Kaffeebecher vorsichtig in den Händen balancierend, um nicht einen einzigen Tropfen der widerlichen und doch so kostbaren Flüssigkeit zu verschütten, gehe ich so schnell wie möglich zu dem einzigen noch verbleibenden Bus, in den gerade die letzten Arbeiterinnen einsteigen. Die hintere Tür schließt sich bereits und ich eile nach vorne zum Fahrer.

„Nicht zumachen. Ich komme schon.“ Ich steige die Stufen hoch. „Danke. Und guten Morgen“, sage ich zu dem Busfahrer, der mich aus blutunterlaufenen Augen ansieht. Entweder hat er zu viel getrunken oder er ist todmüde. Vermutlich sogar beides. Schöne Aussichten, wenn man bedenkt, dass wir für die nächste Stunde auf Gedeih und Verderb seinen Fahrkünsten ausgeliefert sind. Ich blicke hinunter auf die Becher in meiner Hand und zögere nur eine Sekunde. Dann halte ich ihm den Kaffee entgegen.

„Hier. Für Sie.“

Er starrt erst das dampfende Getränk und dann mich an. Seine Augenbrauen ziehen sich über der Nasenwurzel zusammen.

„Was soll ‘n das?“, fragt er.

„Ich würde gerne heil ankommen. Also nehmen Sie schon“, sage ich.

Er zuckt mit den Achseln, greift nach dem Becher und nimmt einen Zug. Schüttelt sich.

„Scheußlich.“

„Was Sie nicht sagen.“

Er trinkt trotzdem weiter und sieht tatsächlich ein bisschen frischer aus. Das hoffe ich jedenfalls. Ich erwarte keinen Dank und könnte darauf wohl auch lange warten. Stattdessen gehe ich die Bankreihen entlang bis nach hinten durch, während sich der Bus in Bewegung setzt. Ich sehe in müde Gesichter, die über den farbenfrohen Krägen ihrer Anzüge noch blasser und durchscheinender wirken als ohnehin schon. Wie erwartet sitzt Maya in der letzten Reihe. Der Platz neben ihr ist leer. Ich setze mich, ohne dass sie mich eines Blickes würdigt, und sehe auf den Becher in meiner Hand. Er war eigentlich für Maya bestimmt, als Dankeschön, weil sie mich geweckt hat. Mit einiger Mühe widerstehe ich der Versuchung, ihn trotzdem für mich zu behalten, und reiche ihn ihr.

„Hier. Für dich.“

Sie greift danach wie eine Ertrinkende. Leert den Becher zur Hälfte in nur einem Zug. Verzieht nicht einmal das Gesicht. Nein, stattdessen tritt ein Ausdruck des Entzückens in ihre Augen. Als hätte sie gerade den ersten Schluck eines Bohème-Spezial genommen, jenem Mocca mit Vanillearoma und aufgeschlagener Sojasahne, den ich früher so gerne getrunken habe. „Ah. Das tut gut. Und was ist mit dir?“

„Ach!“ Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bekomme sowieso nur Bauchschmerzen von dem Gesöff.“

Sie zieht die Augenbrauen in die Höhe und nimmt einen weiteren Schluck. „Ich frag mich echt, wie du Mimose es bis hierher geschafft hast“, sagt sie. Es klingt nicht abwertend. Sondern ehrlich erstaunt. „Wovon du alles Bauchweh und Dünnschiss bekommst.“

Ich verziehe das Gesicht. „Ich habe einen empfindlichen Magen, das ist alles.“

„Empfindlicher Magen?“ Sie schüttelt ungläubig den Kopf. „Wer kann sich denn bitte sowas leisten? Man muss doch froh sein, wenn man überhaupt was zu Fressen hat.“

Da hat sie allerdings recht. Hier muss man darüber tatsächlich froh sein. Ich beginne, in meinem Beutel zu kramen und finde einen zerquetschten Müsliriegel, den ich vorsichtig aus seiner Verpackung pule und mir stückchenweise in den Mund schiebe. Als ich Mayas Blick auf mir spüre, wende ich mich zu ihr um.

„Ist irgendwas?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein, nichts. Es ist nur …“. Sie legt die Stirn in Falten und scheint angestrengt nachzudenken. Dann zuckt sie mit den Schultern. „Weiß auch nicht. Irgendwie hab ich immer das Gefühl, du gehörst hier gar nicht her. Alleine wie du diesen Müsliriegel isst. Oder wohl eher verspeist.“ Sie grinst. „Voll etepetete.“

„Ich will einfach lange etwas davon haben“, verteidige ich mich, während mir gleichzeitig heiß und kalt wird. Denn sie hat ja recht. Ich gehöre nicht hierher. Nach Ansicht der Regierung gehöre ich ins Gefängnis. Und wenn mich nach zwei ganzen Monaten immer noch ein Müsliriegel verraten kann, dann sollte ich wirklich an mir arbeiten.

„Und wie du hier mit Geschenken um dich schmeißt“, fährt Maya fort und hält zum Beweis ihren Becher hoch, „das ist doch nicht normal.“

„Kann ich ja auch demnächst sein lassen“, sage ich brüsk. „Und im Übrigen schmeiße ich nicht mit Geschenken um mich. Ich wollte mich bloß bei dir bedanken.“

Schon wieder dieses Blitzen in ihren Augen.

„Weil du mir den Arsch gerettet hast“, füge ich deshalb hinzu und komme mir gleichzeitig vor wie ein Kind, das allen Mut zusammennimmt, um seine Eltern mit dem Ausruf „Kacka“ zu schockieren. Die Wirkung bleibt aus. Maya grinst nur wissend und nickt.

„Ja, ja“, sagt sie. „Schon klar.“

Um kurz vor sieben halten wir vor den Fabrikhallen des RGE-Konzerns, strömen durch das Tor im das Gelände umgebenden Gitterzaun in Richtung Eingang. Schnelle Schritte, so, als könnten wir es kaum erwarten, endlich unsere Arbeit anzutreten. Aber das ist nur die Gewohnheit. Hier bei RGE steht ständig jemand hinter einem, um zur Eile anzutreiben. Schneller, los, mach schon, hopp hopp, nicht einschlafen! Irgendwann geht es einem in Fleisch und Blut über, sich ständig und überall zu beeilen. Sogar auf dem Weg zum Klo. Gerade auf dem Weg zum Klo. Selbst da drin, wo man ganz für sich alleine ist, treibt man sich selbst zur Eile an. Denn Zeit ist Geld. Nicht unser Geld, nein. Aber das Geld des Arbeitgebers. Und ihm sind wir alle ausgeliefert.

Der Arbeitgeber. RGE, eine Unterfirma ausgerechnet von Universo, dem Unternehmen, für das ich früher gearbeitet habe. Als ich noch ein aufstrebendes Mitglied der Elite war. Was für eine Ironie des Schicksals. Damals habe ich im Assessment-Center mit den klügsten Köpfen über neue Designs und Features für immer neue Produkte gebrainstormt. Smartpads, Laptops, Wearables. Heute löte ich Bauteile auf Motherboards für genau diese Produkte. Jeden Tag. Den ganzen Tag.

Ich erwische meine Beine dabei, wie sie ihre Schritte beschleunigen, obwohl mein Kopf etwas ganz anderes sagt. Dasselbe wie jeden Morgen.

Ich will da nicht rein. Lass uns abhauen, Yma. Ich kann da nicht noch einmal rein.

Wie jeden Tag zwinge ich die aufmüpfigen Gedanken nieder. Gehe zu den anderen Arbeiterinnen, deren Anzüge die gleiche Farbe haben wie meiner, reihe mich ein, verschwinde in diesem grünen Organismus, der seine Individuen verschluckt. Im Gleichschritt betreten wir das Produktionswerk. Endlose Reihen von Arbeitsplätzen mit Stühlen davor. Grelle Neonröhren an den Decken und Wänden. Keine Fenster, auch keine Ventilation. Der Gestank nach Luft, die schon viel zu viele Male von viel zu vielen Menschen geatmet wurde, und nach Chemikalien aus den Arbeitsprozessen riecht. Ich beiße die Zähne zusammen und setze mich an meinen Platz. Die Schicht beginnt sofort.

Broken World 2

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