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5.3. Gottes An- und Abwesenheit im MT

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Der MT von Ester enthält keine expliziten Hinweise auf Gott oder auf Gottes Handeln. Des Weiteren fehlt offenbar auch die Ausführung der von der Tora vorgeschriebenen rituellen Gebote durch die Protagonisten. Man könnte das Buch Ester als ein weltliches Werk betrachten, das keine theologischen Gedanken enthält. Eine ganze Reihe von Hinweisen deutet jedoch darauf hin, dass die Redaktoren der Erzählung durchaus auf theologische und rituelle Fragen anspielen wollten.220

Dazu gehören mehrere günstige Umstände, die sich nicht aus dem Handeln der Protagonisten ergeben. Damit es nicht zur Vernichtung der Juden kommt, muss allerhand geschehen: Eine jüdische Frau muss auf den Thron gelangen (Kap. 2); Mordechai muss seine Loyalität unter Beweis stellen können, indem er von einer Verschwörung erfährt (2,21–23); und das Werfen der Lose muss den Juden ausreichend Zeit verschaffen, um angemessen reagieren zu können (3,7). In Kapitel 6 führt der erste Rückschlag für Haman zu einer Reihe von Zufällen: Es muss einen königlichen Anfall von Schlaflosigkeit geben, die Lektüre der richtigen Passage aus den Chroniken und Hamans Eintreffen zum richtigen Zeitpunkt. Darüber hinaus legen die Worte bestimmter Charaktere nahe, dass sie glauben, günstige Umstände könnten durch göttliches Handeln erklärt werden. In 4,14b fragt sich Mordechai, ob Ester nicht gerade für die Rettung des Volkes Königin geworden ist, und in 6,14 interpretiert Seresch die Enttäuschungen, die Haman erlitten hat, als Zeichen seiner kommenden Niederlage in der Auseinandersetzung mit den Juden. Schließlich legt die Konversion von Nichtjuden, die der „Schrecken vor den Juden“ befallen hatte (8,17), nahe, dass diese Menschen aus anderen Völkern im Triumph der Juden die Kraft ihres Gottes erkannten.221

Trotz der zahlreichen Andeutungen, dass Gott im Werk gegenwärtig ist, macht der MT dies nie explizit. Diese Beobachtung mag überraschen, denn Proto-Ester erwähnt Gott und jüdische Rituale ohne Umschweife.222 Da der MT aus einer Überarbeitung von Proto-Ester resultiert, müssen es somit die protomasoretischen Redaktoren gewesen sein, die explizite Hinweise auf göttliches Handeln aus der Erzählung entfernt haben.223

Diese Verschleierung der göttlichen Gegenwart und des göttlichen Handelns macht aus Ester keineswegs einen profanen Text.224 Indem der MT nicht ausdrücklich auf göttliches Handeln hinweist, wendet er vielmehr eine literarische Technik an, die die Leserinnen und Leser anleiten soll, Gottes Willen und Handeln hinter den Ereignissen und dem menschlichen Handeln zu entdecken. Ein analoges Verfahren findet man in der Josefsgeschichte (Gen 37–45).225 Praktisch keine einzige Handlung Gottes wird ausdrücklich erwähnt. Doch über die zufälligen Ereignisse, die Josef widerfahren, wird berichtet, und auch seine Träume können als Ausdruck des Handelns Gottes verstanden werden. Erst am Ende der Erzählung wendet sich Josef an seine Brüder und interpretiert, was geschehen ist, ausdrücklich als Folge des göttlichen Willens: „Quält euch nicht damit, dass ihr mich hierher verkauft habt, denn es ist Gott, der mich vorausgesandt hat …“ (Gen 45,5). Das göttliche Handeln anzudeuten statt es offen zu erwähnen, ist klug, denn dies zwingt die Leser und Leserinnen, den Sinn der Erzählung und ihre theologische Bedeutung sich selbst zu erklären.

Und auch wenn „glückliche Zufälle“ auftauchen, handelt Gott in der Erzählung nicht allein. Die Courage und das Handeln von Ester und Mordechai bleiben zentral. In dieser Erzählung, in der Gott nicht erwähnt wird, werden zwei theologische Ideen vorgebracht. Erstens: Rettung braucht das Mitwirken der Menschen. Ester und Mordechai können sich nicht mit der Hoffnung auf ein Eingreifen Gottes zufriedengeben, sondern müssen handeln. Und zweitens: Gottes Handeln und Wille sind nicht äußerlich sichtbar, sondern müssen in den Verhältnissen entdeckt werden.

Ester

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