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1.2. Kanonizität im Christentum
ОглавлениеDas antike Christentum entstand vornehmlich im hellenistischen Kontext und verwendet daher in erster Linie die griechische Bibel der LXX als „Altes Testament“. Die LXX enthält die griechische Übersetzung der Bücher der Hebräischen Bibel, aber auch andere Bücher, die in jüdischen Kreisen während der ersten Jahrhunderte zirkulierten, vom rabbinischen Judentum aber letztlich nicht beibehalten wurden.253 Es war lange nicht eindeutig, welche Texte das christliche „Alte Testament“ ausmachen. Zitate oder Anspielungen in der antiken christlichen Literatur beschränken sich nicht auf die Bücher, die in den rabbinischen Schriften als kanonisch gelten.254 Im Christentum wird vom zweiten Jahrhundert an die Frage nach dem Umfang des alttestamentlichen Kanons gestellt, und man unterscheidet zwischen den von Juden akzeptierten Texten und denjenigen, die nur in der LXX erscheinen. Man hält die Schriften der ersten Kategorie für wesentlicher; aber die der zweiten Kategorie, die deuterokanonische Literatur, werden nur selten völlig abgelehnt. In diesem Zusammenhang steht das Buch Ester auf der Grenzlinie. Es gehört zu den „kanonischen“ jüdischen Büchern, was es fest im christlichen Kanon verankern sollte, aber da die Ergänzungen in der LXX den Text stark verändern, konnte die griechische Fassung von Ester als deuterokanonisch wahrgenommen werden.
Jedenfalls wurde das Buch Ester von den Christen vernachlässigt, und sein kanonischer Status war nicht eindeutig. In den ersten drei Jahrhunderten wird Ester sehr selten zitiert.255 Das Buch erscheint nicht in der Liste der kanonischen Bücher des Melito von Sardes, eines Christen des zweiten Jahrhunderts (ca. 170), der wiedergibt, was in einer jüdischen oder judenchristlichen Gemeinde in Palästina zum Inhalt der Bibel gehörte.256 Origenes’ Standpunkt ist nicht eindeutig: In seinem Commentarius in Canticum ist Ester Teil seiner Liste der kanonischen Texte, aber in seinen Homiliae in Numeros 27,1 schreibt er, dass Ester zu jener Literatur gehört, die für Neueinsteiger ins Christentum bestimmt sei.257
Reichlicher fließen die Quellen zum christlichen Kanon ab dem vierten Jahrhundert, als die konstantinischen Gemeinden damit beginnen, biblische Schriften in einem einzigen Codex zusammenzufassen.
Manche Autoren aus dem Osten erkennen Ester nicht an. Das ist etwa der Fall bei Gregor von Nazianz258 und Amphilochius von Ikonium, der gleichwohl davon spricht, dass Ester von manchen zum Kanon gerechnet wird.259 Athanasius, Epistulae festales 39, zählt Ester nicht zu den 22 kanonischen Büchern des Alten Testaments, aber zu jenen, die von Neulingen im Glauben gelesen werden können. Bei jenen christlichen Autoren zwischen dem vierten und dem Anfang des fünften Jahrhunderts, die Ester hingegen als kanonisch einstufen, kann unterschieden werden zwischen jenen, die nur die Bücher der jüdischen Bibel anerkennen, und jenen, deren Kanon weiter gefasst ist. Kyrill von Jerusalem (ca. 380)260, Epiphanios von Salamis (375 und 392)261, das Konzil von Laodicea (ca. 360)262, die Apostolischen Kanones263 und Rufinus von Aquileia264 führen Ester in einer kurzen Liste kanonischer Bücher. Als Teil eines umfangreicheren Kanons, der die Texte der LXX einbezieht, erscheint Ester in den wichtigsten griechischen Codices der Bibel (Vaticanus, Sinaiticus, Alexandrinus).
In der lateinischsprachigen Welt265 halten sich die Beschlüsse der Kirchen Nordafrikas und Roms – Konzile von Hippo (393), Karthago (397 und 418)266 – sowie Augustinus267 an einen umfassenden Kanon, der nicht zwischen den Texten des jüdischen Kanons und jenen, die nur in der LXX enthalten sind, unterscheidet. An der Wende zum fünften Jahrhundert tritt in der lateinischen Kirche Hieronymus am entschiedensten für einen kurz gehaltenen Kanon ein. Die Kanonizität von Ester stellt er nicht in Frage, aber die sechs Zusätze der LXX verschiebt er in den Anhang.
Da der Status von Texten, die im hebräischen Kanon nicht vorkommen, im frühen Christentum nicht endgültig festgelegt worden war, tauchte die Debatte darüber während der Reformation wieder auf.268 Im Anschluss an Luther geht der Protestantismus davon aus, dass das Alte Testament der jüdischen Bibel entspricht. Infolgedessen ordnen die protestantischen Bibeln die deuterokanonischen Texte meist zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ein. Diese Texte, zu denen die griechischen Ergänzungen von Ester gehören, gelten nicht mehr als kanonisch, obwohl ihre Lektüre immer noch als nützlich erachtet wird. Erst im 19. Jahrhundert veröffentlichen christliche Bibelgesellschaften Bibeln ohne die deuterokanonischen Schriften, da ihr Gebrauch in den Kirchen der Reformation immer mehr zurückging.
Der Katholizismus hingegen unterscheidet nicht zwischen den Büchern des Alten Testaments, die im jüdischen Kanon enthalten sind, und jenen, die darin nicht vorkommen.269 Die Gegenreformation stufte beim Konzil von Trient im 16. Jahrhundert die biblischen Schriften nicht nach verschiedenen Graden der Kanonizität ein. Für das Buch Ester heißt dies, dass in den traditionellen katholischen Bibeln in Übereinstimmung mit der Vulgata die sechs Zusätze dem Buch an die Kapitel 10 (ab Vers 4) bis 16 angehängt sind.
In den orthodoxen Kirchen entspann sich im 17. Jahrhundert eine Debatte, die mit dem, was in den Kirchen des Westens geschah, durchaus verglichen werden kann. Zusätzlich zu den Büchern des hebräischen Kanons wurde die Kategorie „zur Lektüre zugelassene Bücher“ eingeführt und darunter eine noch größere Zahl von Büchern270 gefasst als im katholischen Kanon.