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1.1. Kanonizität im Judentum

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Die Frage des „Kanons“ der hebräischen Bibel ist komplex. Die Umstände, die dazu führten, dass sich eine Reihe von Büchern mit normativer Geltung herauskristallisierte, die zur jüdischen Bibel wurde, sind bislang nicht befriedigend geklärt.240 Wir wissen auch nicht in allen Fällen, welche Bücher kanonisch waren oder warum.241

Vor dem Ende des 1. Jahrhunderts war die Demarkationslinie der heiligen Schriften nicht einheitlich. Für bestimmte Gruppen wie die Samaritaner, die nur die Tora als kanonisch anerkennen, und ebenso für die Sadduzäer242 ist das Buch Ester nicht maßgeblich. Andere messen Ester keine große Bedeutung bei: die Gemeinschaft von Qumran, Philon von Alexandria und das Neue Testament.243

Andererseits zählt ein bedeutender Teil des rabbinischen Judentums seit dem Ende des ersten Jahrhunderts u. Z. das Buch Ester zu den 22 oder 24 maßgeblichen Büchern, auch wenn dies Fragen nach der Autorität oder dem inspirierten Charakter des Buches bis ins vierte Jahrhundert u. Z. nicht ausschließt. Ester gehört vermutlich zu den 22 inspirierten Büchern, die Flavius Josephus erwähnt.244 Rabbinische Traditionen betrachten Ester und Mordechai als Propheten (b. Meg. 14a–b und 15a). Am Ende des ersten Jahrhunderts u. Z. zählt der Autor von 4 Esra (14,37–47) Ester vermutlich zu den 24 heiligen Büchern, die zum öffentlichen Vorlesen bestimmt sind.245 Schließlich ist das Buch Ester in der LXX enthalten, und der hebräische Kanon, den Origenes beschreibt246, enthält 22 Bücher (wie bei Josephus), unter denen Ester ausdrücklich erwähnt wird.

Die rabbinische Literatur – Mischna, Midraschim und Talmud – spricht sich im Großen und Ganzen für den inspirierten und heiligen Charakter des Buchs Ester aus. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts widmet die Mischna einen umfassenden Traktat – Megilla – vor allem den Regeln von Purim, die auf dem Buch Ester basieren. Später rechnet b. Baba Bathra 14b–15a, wo der biblische Kanon erwähnt und kommentiert wird, Ester unter die 24 heiligen Bücher. Allerdings erwähnen einige Passagen im Talmud Diskussionen mancher Rabbinen über den Status des Esterbuchs bis ins fünfte Jahrhundert hinein.247

Eine Frage ist, ob die Ester-Schriftrolle „die Hände unrein macht“, d. h. ob die Schriftrolle ein heiliger Gegenstand ist, dessen Handhabung rituelle Vorkehrungen erfordert.248 Die Mischna spricht sich dafür aus, da Ester unter den im Traktat Jadajim 3,5 angefochtenen Büchern nicht erwähnt wird, und der Traktat Megilla 2,1 darauf besteht, dass das Lesen von Ester aus einem in Schriftform vorliegenden Text erfolgen muss.

Darüber hinaus wird die Einschätzung, dass Ester die Hände unrein macht, vor allem vom Talmud anerkannt.249 Die rituellen Vorschriften, die mit der öffentlichen Lesung der Esterrolle an Purim verbunden sind, implizieren, dass die Esterrollen den Status von heiligen Gegenständen hatten.250 Allerdings deuten zwei Positionen in b. Meg. darauf hin, dass der Heiligkeitsstatus der Esterrolle umstritten war. Megilla 7a gibt eine Bemerkung von R. Samuel wieder, in der er bestreitet, dass Ester „die Hände unrein macht“, ohne jedoch ihre Inspiriertheit infrage zu stellen.251 Sanhedrin 100a berichtet, dass zwei Rabbinen bezweifeln, dass die Esterrolle in ihrer Synagoge eine Hülle brauche, dieser Zweifel jedoch als Verstoß gegen ihre Heiligkeit abgelehnt wird. Die Tatsache, dass das Purimfest, anders als andere jüdische Feste, nicht aus der Zeit des Mose stammt, veranlasst die Rabbinen nicht, die Autorität des Buchs Ester zu verwerfen. Es führte sie vielmehr dahin, die auf Purim bezogenen Gebote mit denen der Tora in Verbindung zu bringen und so für ihre besonders hochrangige Bedeutung zu plädieren.252

Ester

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