Читать книгу Der Tod der blauen Wale - Joachim H. Peters - Страница 10

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Kapitel 7

Ungefähr zur gleichen Zeit hielt ein anderes Fahrzeug der Paderborner Kriminalpolizei vor dem Haus der Familie Herber. »Da wären wir!« Kriminalhauptkommissar Wilfried Marx zog den Schlüssel ab und deutete damit auf das moderne Einfamilienhaus, das etwa in der Mitte der Schorlemer Straße stand. Natalie war seinem Blick gefolgt und sah zu der Einfahrt hinüber, die mit einem modernen Tor versehen war, auf dem die Buchstaben M und H prangten. Es war aus Edelstahl, ebenso wie die Tür daneben, die auf das Grundstück führte, der ins Mauerwerk eingelassene Briefkasten und die Hausnummer.

Marx öffnete die Fahrertür und machte Anstalten auszusteigen, dann hielt er jedoch kurz inne. »Wieder mal eine dieser Aufgaben, die man nicht wirklich gerne macht.«

»Wem sagst du das?« Natalie seufzte tief, dann öffnete auch sie ihre Tür. Gestern hatte sie Kleekamp noch glücklich erzählen können, dass ihr das Überbringen der Todesnachricht bei dem tödlichen Lkw-Unfall erspart geblieben war. Heute hatte das Schicksal sie bereits mit Riesensprüngen eingeholt.

Die beiden Polizisten stiegen aus. »Hast du eigentlich Kinder?«, fragte Marx.

»Ich bin ja noch nicht mal verheiratet«, entgegnete Natalie.

»Na, das hat doch heute gar nichts zu sagen. Ich habe welche, deshalb schlage ich vor, dass ich die Aufgabe übernehme, das Gespräch zu führen.«

»Ich dränge mich garantiert nicht auf, es zu tun.« Natalie nickte dankbar und atmete erleichtert auf.

Als sie vor der Tür standen, bemerkten sie, dass über der Klingelanlage, auf der lediglich der Name Herber stand, eine Kamera montiert war. Ganz schöner Kasten für nur eine Familie, dachte Natalie.

Sekunden nachdem Marx den Klingelknopf gedrückt hatte, leuchteten rund um das Kameraobjektiv kleine LEDs auf. Ohne dass sie angesprochen worden waren, sprang die Tür auf und gewährte ihnen so Zugang zum Grundstück. Wortlos folgte Natalie ihrem Kollegen, der langsam und mit hängenden Schultern über schneeweiße Gehwegplatten auf das Haus zusteuerte. Eigentlich liebte Marx seinen Beruf als Ermittler, aber es gab Tage, da hasste er ihn auch. Immer dann, wenn solche Aufgaben wie jetzt anstanden. Todesnachrichten zu überbringen war nie einfach, aber Eltern über den Tod eines Kindes zu informieren, war wohl die mieseste aller Aufgaben. Einen geliebten Menschen zu verlieren war schon schwer genug, aber das eigene Kind? Der Kriminalbeamte wollte gar nicht daran denken, wie es ihm in dem Fall ergehen würde.

Er erreichte das Podest vor der Haustür und atmete noch einmal tief durch, bevor er sich traute, auf den dortigen Klingelknopf zu drücken. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann hörten sie Schritte und wären in diesem Moment liebend gerne irgendwo anders auf der Welt gewesen als hier.

Hinter der Scheibe neben der Tür erschien ein verweintes Frauengesicht. Marx hielt seine Kriminaldienstmarke hoch und deutete dabei mit dem Kopf zur Tür. Sekunden später wurde sie geöffnet.

»Guten Tag, wir sind von der Kriminalpolizei. Mein Name ist Marx, das hier ist meine Kollegin Börns.«

»Was ist mit ihm?« Die Frau presste sich mit beiden Händen ein zerknülltes Taschentuch vor den Mund. »Ihre Kollegen wollten mir keine Auskunft geben, ich habe schon ein paar Mal angerufen und ihnen von dem Video erzählt.« Sie schluchzte auf und schaute die beiden Polizeibeamten mit einem Blick an, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Natürlich hatte man ihr telefonisch keine Auskunft gegeben, niemand wollte riskieren, dass sie allein war und zusammenklappte, wenn man ihr diese schreckliche Nachricht überbrachte: Ihr Sohn hat sich das Leben genommen. So etwas machte man grundsätzlich nur persönlich, am besten in Begleitung eines Notfallseelsorgers. Aber ausgerechnet heute war keiner zu erreichen gewesen.

»Können wir ins Haus gehen?«, fragte Marx und stellte fest, dass seine Stimme schon wie die eines Beerdigungsunternehmers klang. Pietätvoll leise.

»Sagen Sie schon, was ist mit ihm? Geht es ihm gut?« Sie ergriff ein Revers seines Jacketts und zog daran. »Ich will endlich wissen, was passiert ist!«

Der Kriminalbeamte hatte nicht den Mut ihre Hand zu lösen, sondern ergriff sie lediglich und hielt sie fest.

»Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie.« Er ließ den Satz einen Moment lang im Raum stehen. Schaute sie an, wartete auf ihre Reaktion. Es kam aber keine. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet und hingen an seinen Lippen.

»Genau genommen, Frau Herber, habe ich sogar schlechte Nachrichten für Sie, sehr schlechte.«

»Er ist doch nicht etwa …?«

Insgeheim weiß sie es schon, dachte er, sie will es nur nicht wahrhaben.

»Ihr Sohn hatte einen Unfall.« Jetzt kam der Moment, der in so einer Unterhaltung der schwerste war. »Und ich muss Ihnen leider sagen, dass er diesen Unfall nicht überlebt hat.«

Tod. Lebensende. Ende der Zukunft. Ende aller Hoffnungen.

Egal, was man sagte, egal welches Wort man benutzte, es war diese verdammte Endgültigkeit. Keine Umkehr, keine Rückkehr mehr möglich. Für kein Geld und durch keine Macht der Welt.

Nicole Herber blickte ihn noch eine Sekunde lang mit offenem Mund und vor Schreck geweiteten Augen an, dann sackte sie in sich zusammen und nur einen Wimpernschlag später taumelte sie weinend gegen Marx’ Brust. Ohne nachzudenken legte er die Arme um die weinende Frau und hielt sie einfach nur fest. Eine Zeit lang sprach niemand. Natalie stand hilflos daneben und blickte betreten zu Boden.

»Wäre es nicht besser, wir gingen jetzt rein?« Vorsichtig schob Marx die Frau ein Stück von sich und blickte sie an. Ihr Kopf hing auf der Brust und Tränen tropften auf ihre Bluse.

Nicht drängen, dachte Natalie, du musst ihr Zeit lassen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte Nicole Herber zögerlich, wischte sich mit dem ohnehin schon feuchten Taschentuch über die Augen, drehte sich dann langsam um und schleppte sich vor ihnen hinein ins Haus. Die beiden folgten ihr leise, fast zögerlich. Als sie die Haustür passierte, fiel Marx’ Blick noch einmal auf das Namensschild. Herber. In welchem Zusammenhang war ihm der Name vorher schon mal begegnet?

Nicole Herber war zu einem der ledernen Stühle gegangen, die rund um einen großen gläsernen Esstisch standen, und hatte sich auf seiner Kante niedergelassen. Marx wählte unbewusst einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. E schien fast so, als versuchte er, eine Barriere zwischen sich und ihr zu errichten. Als wollte er das Leid der Frau nicht zu nah an sich heranlassen.

Natalie war hinter ihn getreten und stehen geblieben. Die Frau tat ihr einfach nur leid. Sie hoffte, dass sie niemals in eine solche Situation kommen würde. Einen Menschen nach langer Krankheit zu verlieren war eine Sache, aber so plötzlich …? Warum tat ein junger Mensch so etwas? Krankheit? Liebeskummer? Existenzangst? Probleme in der Familie?

Sie sah sich um. Das Haus war hell. Viel Glas, offene Ebenen, Designermöbel. An den Wänden hingen zeitgenössische Gemälde. Weiß war hier eindeutig die dominierende Farbe. Modern, aber kalt. Steril. Ihr Blick blieb an einem weißen Steinway-Flügel hängen, der den Raum eine halbe Ebene tiefer beherrschte. Der große Deckel des Flügels verschloss das Gehäuse und diente als Stellfläche für zahllose Bilder in silbernen Rahmen. Sie war sicher, dass dort auch Bilder von Kai Herber zu finden waren. Der Deckel über der Klaviatur war zwar aufgeklappt, doch sie sah nirgendwo Noten liegen. Plötzlich überkam sie der Gedanke, dass dieses kostspielige Musikinstrument, für dessen Preis sie sich sicherlich einen guten Mittelklassewagen hätte kaufen können, hauptsächlich als Dekoration benutzt wurde.

Dann riss sie ihren Blick vom Flügel los und sah wieder Nicole Herber an. Deren Hände mit dem zerknüllten Taschentuch lagen nun in ihrem Schoß, ihre geröteten Augen waren auf die gläserne Tischplatte gerichtet, ihr Mund stand halb offen. Das alles unterstrich ihren Eindruck, dass die Frau nicht wusste, was sie zuerst denken sollte.

»Frau Herber? Ich vermute, Sie sind verheiratet, oder?« Ihre Worte holten die Frau in die Wirklichkeit zurück. In eine brutale und grausame Wirklichkeit. Nicole Herber antwortete nur mit einem Nicken.

»Können Sie ihren Mann erreichen? Ich meine, er muss es ja auch erfahren, und ich fände es besser, wenn Sie jetzt nicht alleine wären.«

Sie hob den Kopf und sah sie an. »Mein Mann ist arbeiten …« Sie presste die vier Worte förmlich heraus. Es hatte den Anschein, als müsse sie sich überwinden, überhaupt zu sprechen. »Er ist in seiner Kanzlei, die Nummer …« Sie brach ab.

In diesem Moment wusste Wilfried Marx, woher er den Namen Herber kannte. Dr. Michael Herber. Einer der angesehensten Rechtsanwälte in der Stadt. Jemand, mit dem er schon öfter dienstlich zu tun gehabt hatte. Kein bequemer Zeitgenosse und als Anwalt vor Gericht kein angenehmer Gegner.

Er war gespannt darauf, wie der stets beherrschte und immer ein wenig arrogant wirkende Herber auf den Tod seines Sohnes reagieren würde. »Ich würde vorschlagen, Sie rufen Ihren Mann an und bitten ihn hierher.« Natalie hatte sich nun doch neben ihrem Kollegen niedergelassen.

Nicole Herber erhob sich mühsam und schleppte sich zu einer Anrichte, auf der das Festnetztelefon stand. Sie wirkte dabei wie eine alte Frau. Gebeugt und gebrochen. Als sie das Mobilteil aus der Station nahm, atmete sie noch einmal tief durch, als wollte sie sich selbst Mut machen, und drückte erst dann eine Taste.

Marx seufzte und nickte Natalie anerkennend zu. »Das war eine gute Idee! Aber sei vorsichtig, wenn ihr Mann hier auftaucht.« Flüsternd setzte er Natalie kurz über seine Erfahrungen mit Doktor Herber in Kenntnis.

Natalie nickte nur. Dann stand sie wieder auf. Sie hielt es auf dem Stuhl nicht aus. Langsam stieg sie die Stufen zu dem tiefer gelegenen Wohnbereich hinunter und warf einen Blick durch die großen gläsernen Schiebetüren. Nicole Herber wartete anscheinend darauf, zu ihrem Mann durchgestellt zu werden. Wieso hatte sie keine Durchwahl oder rief ihn auf dem Handy an? Natalies Blick fiel nach draußen in einen sorgsam gepflegten Garten. Fast schon ein Park. Wenn man vor dem Haus stand, vermutete man gar nicht, dass sich dahinter noch so ein großes Grundstück verbarg. Im hinteren Bereich sah sie ein Gartenhaus, links davon eine Traglufthalle, unter der sich ein ansehnlicher Swimmingpool befand.

Sie drehte sich um und schlenderte erneut zum Flügel hinüber. Ohne sie herunterzudrücken, ließ sie die Finger sanft über die Tasten gleiten. Kein Staub. Auf keiner der Tasten. Putzfrau, vermutete sie. Auf allen Bildern waren Personen zu erkennen. Auf ein paar von ihnen das Ehepaar Herber. Kai nur auf einem. Mit einer Schultüte. Das musste ja nun schon mehr als acht Jahre her sein, rechnete Natalie nach. Warum gab es keine aktuelleren Aufnahmen des Sohnes? Von den meisten Bildern allerdings blickte ihr Michael Herber entgegen. Herber beim Segeln, Herber beim Golf, Herber im Smoking, in der Robe. Herber, Herber, Herber.

»Mein Mann ist bereits unterwegs.« Natalie zuckte zusammen, denn Nicole Herber stand plötzlich, immer noch mit dem Mobilteil in der Hand hinter ihr. »Man hat ihn wohl schon darüber informiert, was passiert ist.« Wieder schluchzte sie.

Wer konnte das getan haben, fragte sich Natalie, das war nicht die übliche Vorgehensweise. Genau genommen, war es sogar kontraproduktiv zu dem, was sie hier gerade taten. Ob Herber einflussreiche Freunde bei der Polizei hatte? Oder bei der Staatsanwaltschaft?

Wilfried Marx war nun ebenfalls aufgestanden und zu ihnen heruntergekommen. »War Kai Ihr einziges Kind?« Er hielt dabei den Blick auf das Bild mit der Schultüte gerichtet.

»Ja, er hätte fast noch ein Geschwisterchen gehabt …«

Marx kniff erschrocken die Lippen zusammen. Mist! Fettnäpfchen.

»Ich war noch einmal schwanger, aber dann …« Wieder brach Nicole Herber ab.

Natalie, die ebenfalls auf das Bild geblickt hatte, drehte sich zu ihr um und sah, wie Nicole Herber noch weiter in sich zusammensackte. Falsche Frage, Wilfried, dachte sie. Falsche Frage und falscher Zeitpunkt. Aber wer konnte denn so etwas auch schon ahnen? Sie spürte förmlich, wie die Frau sich zusammenreißen musste, um weiterzusprechen.

»Ich habe es im vierten Monat verloren …«

»Das tut mir leid, Frau Herber. Ich wollte keine schmerzhaften Erinnerungen in Ihnen wecken. Wir möchten nur Ihre Lebensumstände verstehen.« Marx durchlief ein Schauer. Was für eine Scheißaufgabe, dann lieber tonnenweise Akten wälzen.

Nicole Herber nickte gedankenverloren. »Schon gut.« Ihr schien jetzt alles egal zu sein.

»Meinen Kollegen haben Sie also gesagt, dass Sie ein Video von Ihrem Sohn bekommen haben. Ist das richtig?« Marx versuchte, das Thema zu wechseln, von einer Folterkammer in die nächste.

Die Frau nickte nur.

»Ich würde es gerne sehen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, fügte er schnell hinzu.

Sie hob den Kopf und ihr Blick wanderte planlos durch den Raum. »Es ist auf meinem Handy. Es kam als Nachricht.« Sie schaute sich verwirrt um. »Wo ist es nur?« Sie stieg wieder hinauf zum Esszimmer und begann zu suchen.

Natalie beobachtete sie. Nicole Herber war eine attraktive Frau. Schlank, nicht zu klein, aber für eine Frau auch nicht zu groß. Ihre dunkelblonden Haare trug sie hochgesteckt, ihre Kleidung stammte garantiert nicht aus einem Versandhandel. Natalie tippte auf ein italienisches Label, das exklusiv in irgendeiner Luxusboutique angeboten wurde.

Nicole Herber suchte immer noch nach dem Telefon und seufzte erleichtert auf, als sie es endlich fand. Sie ging zurück zum großen Esstisch, ließ sich daran nieder und legte das Telefon auf den Tisch. Die beiden Polizisten folgten ihr und hörten in diesem Moment, wie draußen ein Wagen vorfuhr.

»Darf ich?«, fragte Marx schnell, während er bereits nach dem Telefon griff. »Wo finde ich es?«

»WhatsApp«, schluchzte Nicole Herber leise.

Er rief den Messanger auf, der sich sofort in dem Chat »Kai« öffnete. Zuerst viele kurze Nachrichten von der Mutter an den Sohn: »Kai, was ist das?« »So antworte doch!« »Warum gehst Du nicht ans Telefon?« »Kai, bitte, melde Dich!« »Lass den Blödsinn! Ruf mich an!« »Bitte, Kai!!!!!« Marx scrollte hoch und fand die letzte Nachricht ihres Sohnes. Ein Video, das sich mit Kais Gesicht ankündigte. Er wollte es bereits anklicken, als er sich eines Besseren besann und ein paar Schritte zur Seite ging. Er drehte Nicole Herber den Rücken zu, bevor er es startete.

Kais Stimme ertönte aus dem Handy-Lautsprecher. Nicole Herber schluchzte auf. Marx regelte sofort die Lautstärke herunter und stieg die Stufen hinab in den Wohnbereich. Dann sah er sich das Video an. Obwohl er nicht persönlich involviert war, lief es ihm kalt den Rücken herunter. Die Gleise, der Zug, das Hinknien, die Geräusche.

Wie fürchterlich muss es sein, zu wissen, dass man sich den Tod seines Sohnes immer wieder ansehen konnte. Hilflos und quälerisch. Wäre er in Nicole Herbers Situation, würde er dieses Video umgehend löschen. Auf dem Handy wäre es dann zwar verschwunden, aber es würde sicher noch lange Zeit im Kopf bleiben. Wenn nicht sogar für immer. Er wollte es gerade noch einmal starten, als er hinter sich eine schneidende Stimme hörte.

»Was machen Sie da?«

Der Kriminalbeamte drehte sich um und blickte in das erboste Gesicht von Nicole Herbers Ehemann. Dr. Michael Herber trug einen hellgrauen Trenchcoat, darunter sah man einen dunklen Anzug mit einem weißen Hemd und mit der für Rechtsanwälte typischen weißen Krawatte. Vermutlich hatte er heute schon vor Gericht auftreten müssen oder es stand ihm noch bevor.

Herber war fast eins neunzig groß, hatte eine sportliche Figur und volles dunkles Haar, das an den Schläfen bereits einige graue Stellen aufwies. Er erinnerte Marx ein wenig an George Clooney. Auf jeden Fall ein Frauentyp.

»Ich habe Sie etwas gefragt!« Herber kam die Treppe in den Wohnbereich hinunter. Hinter ihm erschien Natalie.

Marx schaltete das Telefon aus und stellte sich vor. »Mein Name ist Marx, ich bin von der Kripo, es geht um den Tod ihres Sohnes.«

»Was hat das mit dem Handy meiner Frau zu tun?« Herber streckte fordernd die Hand danach aus. »Ich glaube kaum, dass der Inhalt des Telefons meiner Frau Sie etwas angeht.«

Marx kannte Herbers forsche Art. Sein Auftreten hier unterschied sich nicht sonderlich von dem im Gerichtssaal. Dort hatte er ihn in dieser Art und Weise schon das ein oder andere Mal erlebt. »Ihr Sohn hat sich umgebracht und wir untersuchen den Fall. Auf dem Telefon Ihrer Frau befindet sich ein Video als eine Art Abschiedsgruß von ihm und das habe ich mir angesehen.«

Herbers Blick wechselte kurz zu seiner Frau, Natalie bemerkte, dass ein böses Funkeln darin lag. Dann heftete sich sein Blick wieder auf Marx. »Geben Sie her!« Der hielt ihm das Telefon hin. Wenige Sekunden später wurde das Video erneut abgespielt. Natalie nutzte die Gelegenheit den Rechtsanwalt dabei aufmerksam zu beobachten. Bis auf ein leichtes Mahlen der Kieferknochen konnte sie keine Reaktion erkennen. Was für ein eiskaltes Arschloch.

Nicole Herber war zu ihnen getreten, sie wirkte eingeschüchtert wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange, und doch konnte sie ihren Blick nicht vom Display des Handys abwenden. Erst als sie aufschluchzend zu weinen begann, nahm ihr Mann sie wahr. Die junge Polizeibeamtin hätte erwartet, dass er tröstend den Arm um sie legte, doch seine Reaktion war ganz anders.

»Geh nach oben!«, forderte er sie mit einer Stimme auf, die darauf hindeutete, dass er gewohnt war, keinen Widerspruch zu hören. »Wir sprechen uns noch!« Nicole Herber zögerte nur eine Sekunde, dann blickte sie die beiden Polizeibeamten noch einmal aus verweinten Augen entschuldigend an, drehte sich um und verließ dann wortlos den Raum.

»Warum quälen Sie meine Frau damit?« Mit dieser Frage warf Herber das Handy seiner Frau achtlos auf den Flügel.

Natalie war vollkommen perplex. Sie stand da und wusste nicht, was sie auf diesen wie aus der Pistole geschossenen Vorwurf sagen sollte. Herbers arrogantes Verhalten hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht.

Aber es hatte sogar Marx überrascht. Der hatte der trauernden Frau hinterhergesehen. Jetzt schnaufte er verärgert, weil ihm der Ton des Rechtsanwaltes nicht gefiel. Dementsprechend grob war nun auch sein Tonfall. »Ich sagte Ihnen bereits, wir ermitteln im Todesfall Ihres Sohnes. Ihre Frau hat uns von dem Video erzählt und ich habe es mir angesehen. Das ist alles.« Seine Stimme klang barsch, aber eine Sekunde später hatte er seine Fassung wiedergewonnen und er riss sich zusammen. »Ich habe Ihre Frau nicht gequält, ich bin sogar extra zur Seite gegangen, damit sie sich das Video nicht noch einmal anzusehen muss.«

Herber wechselte das Thema. »Und was haben Sie gedacht, darauf zu finden? Eine Erklärung, warum mein Sohn sich umgebracht hat?«

»Ja, zum Beispiel. Aber vor allen Dingen wollen wir ausschließen, dass es etwas anderes als ein Suizid sein könnte.« Wie immer in solchen Fällen bemühte Marx sich, das Wort Selbstmord nicht in den Mund zu nehmen.

»Was sollte es denn anderes sein?«, brauste Herber auf. »Mein Sohn war immer schon ein Schwächling und ein Versager. Wundert mich nicht, dass er so geendet ist.«

Natalie glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. So äußerte sich ein Vater, der gerade vom Tod seines Sohnes erfahren hatte? Noch bevor sie etwas dazu sagen konnte, hörte sie einen leisen Aufschrei. Er kam von der Treppe, die ins Obergeschoss führte. Nicole Herber stand auf der obersten Stufe und hielt sich krampfhaft am Geländer fest. Sie hatte alles mit angehört.

»Du sollst nach oben gehen, habe ich dir gesagt!«, fauchte Herber seine Frau an. Als sie nicht reagierte, lief er zu ihr hinauf. Oben auf der Treppe angekommen fasste er sie am Arm, zischte ihr etwas ins Ohr und führte sie dann in den Flur.

Was für ein unfassbarer Widerling, dachte Natalie. Ihr Blick fiel auf das Handy, das immer noch auf dem Flügel lag. Sie vergewisserte sich, dass Herber noch nicht wieder da war, dann klickte sie auf den geschwungenen Pfeil neben dem Video und gab ihre eigene Handynummer als Empfänger ein. Marx sah sie fragend an.

»Wer weiß, wofür wir es noch mal brauchen können? Sicher ist sicher.« Ihr Kollege zuckte mit den Schultern. Sie hatte es gerade wieder auf den Flügel zurückgelegt, als sie bereits hörte, dass die Nachricht mit dem Video auf ihrem Handy angekommen war.

Im selben Augenblick erschien Herber wieder auf dem Treppenabsatz. Wie ein Kapitän auf der Brücke eines alten Segelschiffs blieb er mit den Händen auf das Geländer gestützt stehen und blickte finster auf sie hinab. »Ich finde, Sie haben schon genug Unheil angerichtet, und ich kann nicht glauben, dass Ihr Verhalten im Sinne Ihrer Vorgesetzten ist. Das werde ich natürlich überprüfen lassen, und nun fordere ich Sie umgehend auf, mein Haus zu verlassen.« Er deutete zur Tür.

Mein Haus, nicht unseres, schoss es Natalie durch den Sinn. Nicole Herber hatte hier nichts zu melden. Auch sie war hier nur eine Art Dekoration.

Obwohl sie wütend war, hielt sie Herbers Blick noch eine Sekunde lang stand, bevor sie sich provozierend langsam umdrehte und zusammen mit Marx die Stufen zum Essbereich hinaufstieg. Herber folgte ihnen auf dem Fuße. Im Hinausgehen drehte Marx sich noch einmal um. »Es kann sein, dass wir in dieser Sache noch ein paar Fragen haben, dann …«

Der Rechtsanwalt fiel ihm barsch ins Wort. »In diesem Falle wenden Sie sich an meine Kanzlei. Guten Tag.«

Der Kriminalbeamte wollte darauf noch etwas erwidern, doch kaum war er vor die Tür getreten, wurde diese bereits hinter ihm zugeschlagen. Wieder einmal bestätigte sich seine Meinung, die er sich über Herber gebildet hatte. Er spürte, wie die Wut langsam in ihm hochkochte und Natalie ihm eine Hand auf den Arm legte. In ihren Augen sah er, dass sie genau dasselbe dachte wie er und das beruhigte ihn wieder. Wenn Herbers Verhältnis zu seinem Sohn genauso war, wie zu seiner Frau, dann war es kein Wunder, dass der Junge Selbstmord begangen hatte.

Der Tod der blauen Wale

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