Читать книгу Der Tod der blauen Wale - Joachim H. Peters - Страница 15

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Kapitel 12

Natalie aß seit Jahren kein Fleisch mehr. Vor etlichen Jahren war sie mit ihren Eltern in deren Auto in den Urlaub gefahren. Ihre Mutter hatte ihr netterweise den Beifahrersitz überlassen und sich freiwillig nach hinten gesetzt. Die Reise nach Bayern dauerte viele Stunden und da Natalie langweilig geworden war, hatte sie begonnen zu lesen. Sie blickte nur noch ab und zu mal sporadisch von ihrer spannenden Lektüre auf, wenn ihr Vater mal zum Überholen ausscherte oder abbremsen musste. Ein solches Bremsmanöver erfolgte dermaßen plötzlich und dementsprechend heftig, dass nur der Sicherheitsgurt Natalie daran hinderte, sich den Kopf am Armaturenbrett einzuschlagen.

Noch vollkommen erschrocken blickte sie auf und wurde mit dem riesigen Auge einer Kuh konfrontiert. Es gehörte zu dem Foto eines Kuhschädels, das auf die Rückfront eines Lastwagens geklebt worden war und sich über die gesamte Breite des Lkw erstreckte. Das riesige Auge dominierte das Bild. Was Natalie aber noch mehr erschreckte, war der Aufdruck, der darunter zu lesen war. »Meine Reise in den Tod ist die Hölle!« Im selben Moment, in dem Natalie das las, glaubte sie die Todesangst in dem Auge der Kuh zu erkennen.

Ihr Vater fluchte und scherte hinter dem Lkw aus, vor dem er hatte abbremsen müssen, weil ein schneller Sportwagen von hinten genau in dem Moment angerast gekommen war, als er zum Überholen ansetzen wollte. Natalie hielt ihr aufgeklapptes Buch immer noch in der Hand und kam kaum darüber weg, was das Bild auf dem Lkw in ihr ausgelöst hatte. Plötzlich sah sie Kühe vor sich, die mit gebrochenen Beinen in einem Viehtransporter lagen; Schweine, die ihre Schnauzen durch die kleinen Schlitze in den Seitenwänden steckten, um wenigstens etwas frische Luft zu ergattern; und Hühner, die für elendig lange Strecken in enge Transportkisten gequetscht worden waren.

Im Urlaubsort angekommen, bestellte sich ihr Vater, der von all dem nichts bemerkt hatte, eine Schweinshaxe mit Sauerkraut. Kaum war die serviert worden, wurde Natalie schlecht. Sie sprang auf, rannte auf die Toilette und übergab sich. Von diesem Moment an brachte sie kein Stückchen Fleisch mehr runter.

Genau deshalb saß sie im Aufenthaltsraum der Kriminalpolizei jetzt vor einem Salat und wollte gerade anfangen zu essen, als das Telefon klingelte. »Ach, da bist du ja«, freute sich ein Kollege, sie gefunden zu haben. »Hier unten ist jemand, der wegen dieses Jungen gekommen ist, der Selbstmord begangen hat. Man hat mir gesagt, dass Marx und du dafür zuständig seid, aber Wilfried finde ich im Moment nicht.«

Natalie verschloss ihre Salatschüssel wieder mit dem Deckel. »Der ist zur Staatsanwaltschaft rüber, schick den Mann in mein Büro, ich nehme ihn da in Empfang.«

Nur wenige Minuten, nachdem sie in ihr Büro zurückgekehrt war, klopfte es auch bereits. Dann wurde die Tür geöffnet und der Besucher blickte sie fragend an. »Guten Morgen, mein Name ist Oliver Weiler, sind Sie Frau Börns?«

Natalie nickte freundlich. »Ja, was kann ich für Sie tun?« Gleichzeitig stand sie auf, streckte ihrem Besucher die Hand hin und bot ihm einen Stuhl vor dem Schreibtisch an.

Weiler zog den Stuhl zu sich heran und nahm Platz. »Ja, also ich komme wegen Kai«, erklärte er. »Kai Herber«, fügte er erläuternd hinzu.

Natalie fand, dass er plötzlich traurig aussah. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Weiler räusperte sich, bevor er weitersprach. »Ich bin der Klassenlehrer von Kai. Wir haben einen Anruf von seinem Vater bekommen, in dem er uns mitgeteilt hat, was passiert ist.«

Natalie antwortete nicht. Weiler war von sich aus gekommen und würde ihr sicherlich bald erzählen, warum er hier war. Sie ließ ihm Zeit und nahm sich selbst auch welche, um ihn genauer zu betrachten. Er hatte volles dunkles Haar und braune Augen, am Kinn ein Muttermal. Schlanke Statur, durchtrainiert, und so wie er vorhin hereingekommen war, schätzte sie ihn auf 1,80 Meter. Er durfte wohl Mitte vierzig sein. Kein unattraktiver Mann in den besten Jahren.

»Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um meine Schülerinnen und Schüler mache. Sie alle sind sehr geschockt nach dem, was mit Kai passiert ist.«

Sie nickte verständnisvoll und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. Vielleicht erfuhr sie ja durch Weiler mehr über die Hintergründe und die möglichen Ursachen für Kais Selbstmord.

»Als man es mir mitgeteilt hat, bin ich sofort in die Klasse gegangen und habe diese Information weitergegeben. Ich wollte nicht, dass meine Schüler es durch irgendwelche Medien oder soziale Netzwerke erfahren. Ich hoffe, das war richtig?« Weiler blickte Natalie fragend an.

»Das müssen Sie entscheiden, ich bin Polizeibeamtin, weder Pädagogin noch Psychologin. Aber menschlich gesehen finde ich es genau richtig.«

Weiler nickte befriedigt. »Ich weiß, ich wollte nur gerne Ihre Meinung dazu hören, Sie haben ja wohl öfter mit so etwas …«, er zögerte etwas, »… also mit solchen Todesfällen zu tun, oder?«

Natalie senkte den Blick und atmete durch. Natürlich hatte sie schon mehrfach mit getöteten Menschen zu tun gehabt, aber das hier war ihr erster Fall von Selbstmord eines jungen Menschen, der sein ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte. Das wühlte sie alles noch viel zu sehr auf, und sie war nicht bereit, über ihre Gefühle oder Gedanken zu sprechen, daher nickte sie nur.

»Es ist so, dass ich hier bin, weil ich eine Bitte an Sie habe.« Weiler hatte die Hände im Schoß gefaltet.

»Und die wäre?«, fragte Natalie mit einem unguten Gefühl. Sie hoffte, dass Weiler nicht auf die Idee kam …

»Ich dachte, dass Sie vielleicht unsere Klasse besuchen könnten, um mit den Schülerinnen und Schülern mal über den Fall zu sprechen. Über Ihre Erfahrungen mit solchen Situationen und darüber, wie es den Eltern von Kindern geht, die sich das Leben nehmen.«

Genau das hatte sie befürchtet. Wenn es etwas gab, worüber sie garantiert nicht sprechen wollte, dann waren es die Gefühle von Eltern suizidaler Kinder, denn genau das hatte sie ja gerade hautnah miterleben müssen. »Tut mir leid, das kann ich nicht. Sie sollten sich da besser an einen Notfallseelsorger wenden, die sind für so etwas ausgebildet.« Natalie brauchte dringend frische Luft, denn dieses Thema raubte ihr den Atem. Es war extrem beklemmend für sie. Nachdem sie das Fenster weit geöffnet und tief durchgeatmet hatte, wandte sie sich wieder an Weiler. »Wie gesagt, ich bin da nicht die richtige Ansprechpartnerin. Aber da Sie schon mal hier sind, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

Weiler blickte sie einen Augenblick lang überrascht an, stimmte dann aber zu. »Natürlich, wenn ich Ihnen damit helfen kann.«

»Gut.« Natalie begann hinter ihrem Schreibtisch auf und ab zu gehen. »Zunächst einmal: Was für ein Typ Mensch war Kai Herber?«

Weiler dachte länger nach, bevor er antwortete. »Kai war ein eher introvertierter Junge. Mittelmäßiger Schüler, wenig Freunde.«

»Hatte er schulische Probleme?« Die junge Polizistin war stehengeblieben und blickte auf Weiler hinab.

»Nein, er war in allen Fächern Mittelmaß, seine Versetzung war nie gefährdet, aber er war auch noch nie Klassenbester.« Er schnaufte verdrießlich. »Sehr zum Leidwesen seines Vaters. Der hätte ihn gerne als Überflieger gesehen.« Er blickte Natalie fragend an. »Kennen Sie seinen Vater?«

Sie blieb kurz stehen. »Ich habe bereits heute Vormittag die Ehre gehabt, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Er …« Sie stockte, sollte aufpassen, was sie über den Angehörigen gegenüber Dritten sagte, auch wenn der sie noch so sehr in inneren Aufruhr versetzt hatte. Umgehend nahm sie ihre Wanderung hinter dem Schreibtisch wieder auf. »Gab es Hinweise auf einen Selbstmord?«

Weiler brauste auf. »Na, hören Sie mal, glauben Sie, ich hätte geschwiegen, wenn ich irgendeinen Verdacht gehabt hätte?«

Natalie wurde von diesem Gefühlsausbruch völlig überrascht. »Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass wir dem Geschehen auf den Grund gehen möchten. Daher meine Fragen. Wie sah es mit Liebeskummer, Depressionen, Krankheiten aus?«

»Soweit ich weiß, nichts von alledem, aber das sollten Sie wirklich besser seine Eltern fragen.« Weiler erhob sich. Natalie merkte ihm an, dass ihm dieses Thema nun selbst zu unangenehm wurde. »Haben Sie noch weitere Fragen? Wenn nicht, dann würde ich jetzt gerne zurück in die Schule fahren, ich muss noch einen Bericht schreiben.«

»Wen würden sie denn als Kais besten Freund bezeichnen oder besser, wer stand ihm besonders nahe?« Natalie ließ sich auf ihren Schreibtischsessel fallen und zog einen Block zu sich heran.

Wieder musste Weiler eine Zeit nachdenken, bevor er antwortete. »Also richtige Freunde hatte er wie gesagt keine, ich würde meinen, Lena stand ihm wohl am nächsten. Sie war eine Freundin, aber nicht in dem Sinne von … also eben eine Freundin, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Lena, und weiter?«

»Lena Bartels.« Natalie notierte sich den Namen, wollte noch die Anschrift wissen. »Die weiß ich aus dem Kopf leider nicht, da müsste ich in der Schule nachsehen und sie Ihnen später durchgeben.« Dann räusperte er sich vernehmlich. »Wenn das alles ist, würde ich mich jetzt gerne entschuldigen, oder haben Sie noch andere Fragen?«

»Nein, das wäre fürs Erste alles«, bekannte Natalie, dann verbesserte sie sich. »Ich brauche nur noch Ihre Personalien.«

»Warum das denn?« Der Lehrer schien erstaunt. »Ich habe doch eigentlich mit der ganzen Sache gar nichts zu tun.«

»Bei uns nennt man das Auskunftsperson«, klärte sie ihn auf, dann notierte sie sich Weilers Daten und entließ ihn.

Nachdem der Lehrer das Büro verlassen hatte, saß die junge Polizistin am Schreibtisch und schaute aus dem Fenster, aber selbst wenn sich in diesem Moment die Sonne verfinstert hätte, wäre es ihr nicht aufgefallen. Sie war tief in Gedanken versunken und brütete über eine Sache, die ihr keine Ruhe ließ. Es hatte mit dem Handy des Jungen zu tun. Sie erhob sich und ging zu dem kleinen Tisch, der neben dem Aktenschrank stand und auf dem sich jede Menge Papier angesammelt hatte. Dort lag auch ihre Schreibmappe und in ihr die Plastiktüte mit Kais Handy.

Sie nahm es heraus, kehrte zum Schreibtischstuhl zurück und legte es vor sich hin. Es war komplett zerstört. Das Gehäuse gebrochen, die Scheibe des Displays zersplittert, die Akkuabdeckung fehlte. Irgendwie irritierte sie dieses Stück Elektronikschrott. Sie wusste nicht warum, aber sie war sicher, dass es ihr irgendwann einfallen würde. Mit solchen Dingen war es wie mit Namen, die man vergessen hatte. Sie ließen einem keine Ruhe, bis man sich wieder an sie erinnerte.

Sie betrachtete das Handy, als wolle sie es nur mit Blicken dazu zwingen, ihr sein Geheimnis preiszugeben. Dann holte sie ihr eigenes Handy aus der Tasche und spielte Kai Herbers letztes Video noch mal ab. Dann noch mal und noch mal und noch mal. Und dann wusste sie, was ihr auf dem Video aufgefallen war. Die Worte zart und zerbrechlich kamen ihr wieder in den Sinn.

Der Tod der blauen Wale

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