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Kapitel 2

Das war mal wieder einer von diesen Tagen. Eigentlich wollte Nicole Herber bis Mittag alles erledigt haben, um dann ins Fitnessstudio gehen zu können, aber andauernd war ihr etwas dazwischengekommen. Erst leuchtete die Entkalkungsanzeige am Kaffeevollautomaten auf, dann war das Fuselsieb an der Waschmaschine verstopft und zu allem Überfluss ließ sich die Tür des Trockners nicht mehr öffnen. Und als sei das alles noch nicht genug, rief jetzt auch noch Ellen an. Und wenn die einen erst mal an der Strippe hatte, wurde man sie ebenso schwer wieder los wie Nagelpilz.

Ellen war zwar etwas älter als Nicole, aber ihre beste Freundin. Man konnte sich auf sie verlassen, doch manchmal war sie eine nervige Quasselstrippe. Heute rief sie an, weil sie Nicole unbedingt von ihrem gestrigen Date berichten wollte. Von ihrem Treffen mit Rainer, einem Feuerwehrmann, in den sie sich sofort unsterblich verliebt hatte. Ein Traum von einem Mann und auch nicht schüchtern, was dazu geführt hatte, dass beide schon eine Stunde nach dem Kennenlern-Kaffee in der Kiste gelandet waren. Für Ellen nicht ungewöhnlich. Seit sie die Möglichkeiten erkannt hatte, die diverse Datingportale und Partnerbörsen ihr eröffneten, verliebte sie sich zwar nicht alle elf Sekunden, aber sie hatte nach all den Ehejahren in den letzten zehn Wochen mehr Sex mit verschiedenen Männern gehabt, als in den ersten Monaten nach der Scheidung von Volker.

Ellen fühlte sich mit ihren neunundvierzig Jahren plötzlich wieder jung, hatte aber leider auch das Bedürfnis entwickelt, ihrer Freundin jedes Abenteuer peinlich genau zu schildern. Darauf war Nicole noch nie sonderlich erpicht gewesen, vor allem heute nicht, wo sie so viel zu erledigen hatte.

Sie musste zu ihrer Mutter, die zwar alt und gebrechlich war, aber immer noch allein wohnte. Die alte Dame kochte und putzte selbst, aber die Einkäufe musste Nicole ihr abnehmen. Also war sie zweimal in der Woche erst im Supermarkt und schleppte dann alles die drei Treppen zu ihr hinauf. Ein Ritual, für das es feste Wochentage gab. Dienstag und Freitag. Andere Tage kamen für ihre Mutter nicht infrage. Das habe sie früher schon so gemacht, als ihr Mann noch lebte, und so sollte es bis in alle Ewigkeit bleiben. Nicole hatte mehrmals versucht, aus dieser starren Zeitplanung herauszukommen, aber in dieser Beziehung war ihre Mutter völlig beratungsresistent und unnachgiebig. Dienstags und freitags. Vormittags um elf Uhr. Ende der Debatte.

Nicole suchte nach ihrem Handy, das soeben vibriert und den Eingang einer WhatsApp-Nachricht ankündigt hatte. Mit dem Festnetztelefon in der Hand und Ellen am Ohr lief sie los, um das verflixte Ding zu finden. Michael hätte dabei belustigt zugesehen. Ihr Mann wunderte sich schon seit Jahren nicht mehr darüber, wie gut seine Frau ihre Sachen verlegen konnte. Sie fluchte lautlos. Es musste hier im Raum sein, denn der Benachrichtigungston war sehr deutlich zu hören gewesen. Wo war das verflixte Ding nur? Nebenbei hörte sie sich, vollkommen uninteressiert, weiter Ellens neuste Bettgeschichte an und kommentierte sie nur ab und zu mit einem zustimmenden Brummen. In der Zwischenzeit wühlte sie zwischen den Kissen auf der Couch und hob Zeitschriften auf dem Wohnzimmertisch an. Ohne Erfolg.

Ellen war schon beim Nachspiel, als sie das verflixte Ding endlich fand. Es lag neben der Couch auf dem Boden. Vermutlich war es ihr gestern Abend von der Lehne gerutscht. Sie bückte sich danach und blickte auf das Display. Eine Nachricht von Kai, ihrem fünfzehnjährigen Sohn. Hatte er mal wieder irgendetwas für die Schule vergessen und wollte, dass sie es ihm brachte? Das fehlte ihr noch.

Gerade als sie die Nachricht öffnen wollte, klingelte es an der Haustür. Auch das noch, jemand musste das Eingangstor aufgelassen haben, das auf das Grundstück führte! Nicole warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und spürte das Aufkommen einer Panikattacke. Das geschah fast immer, wenn ihr Zeitplan durcheinandergeriet.

Sie war auf Ellens erotische Erlebnisse zwar nicht erpicht und gönnte sie ihr auch, aber sie musste nicht das Gefühl haben, neben ihrer Freundin und ihrem zeitweiligen Lover im Bett zu liegen. »Ellen, ich muss jetzt Schluss machen!«, versuchte Nicole erneut, sie zu unterbrechen, und trat vor die hohe, schmale Glasscheibe neben der Haustür, um nachzusehen wer geschellt hatte. Oh, nein, nicht jetzt auch noch Ilse!

»Ellen, noch mal, ich muss Schluss machen, der Briefträger hat geklingelt«, log Nicole und würgte das Gespräch dann mit einem Tschüss brutal ab. Sie atmete noch einmal tief durch. Ilse hatte sie natürlich schon durch die Scheibe gesehen, und so war die Chance vertan, sich totzustellen. Sie öffnete.

»Hallo, Nicole, gut, dass du da bist.« Ilse Bremer, ihre ältliche Nachbarin, war schon im Kaffeekränzchenoutfit, und Nicole wusste, was nun auf sie zukam. Wachdienst! »Ich muss ganz dringend in die Stadt und ich wollte dich fragen, ob du heute zu Hause bist und ab und zu mal einen Blick auf mein Haus werfen kannst?«

Ilse war pensionierte Finanzbeamtin und wohnte im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Seit vor ein paar Wochen in der Nähe eingebrochen worden war, hatte sie panische Angst, die Täter könnten es auch auf sie abgesehen haben. Umgehend hatte sie sich eine sehr preiswerte Alarmanlage installieren lassen, aber die war ständig von allein losgegangen und hatte wohl eher die Nachbarschaft in Schrecken versetzt und die Polizei auf Trab gehalten, als mögliche Einbrecher zu verscheuchen. Die meisten Fehlalarme ereigneten sich mitten in der Nacht und taten ihre überflüssige Warnung in Form einer nervtötenden Sirene unter dem Giebel kund. Die schaltete sich jedoch nach der vorgeschriebenen Zeitspanne nicht nur nicht aus, sondern hielt minutenlang auch noch jedem manuellen Abschaltversuch stand. Als Ilse die dritte Rechnung des Elektrikers für die ohnehin vergebliche Behebung des Problems bekam, war die Anlage schnell wieder abgeschaltet und sie baute nun auf die Wachsamkeit ihrer Nachbarn. Vor allen Dingen auf die von Nicole, die als Hausfrau und Mutter ja schließlich immer daheim war und auf Ilses Haus aufpassen konnte.

Nicole wollte schon einwenden, dass sie ebenfalls auf dem Sprung war, ließ es aber, da Ilse dafür kein Verständnis gehabt hätte. Für endlose Debatten mit Argumenten, wie »Kannst du das nicht heute Nachmittag machen?« oder »Was hast du als Hausfrau denn schon Wichtiges zu erledigen?« fehlte ihr, vor allem heute, sowohl die Zeit, als auch die Lust.

»Ja, ich habe ein Auge drauf, kannst dich auf mich verlassen«, sicherte sie ihrer Nachbarin zu und hob dabei das Telefon hoch. »Sorry, Ilse, ich habe Kais Lehrer am Telefon.« Die nächste Notlüge.

Ihre Nachbarin war nicht gerade begeistert darüber, dass das Gespräch so abrupt beendet wurde, denn sie hätte Nicole gerne noch ein paar Verhaltensmaßregeln für die Art der Bewachung mit auf den Weg gegeben. So wie jedes Mal. Auch ruhig mal um das Haus herumgehen, hinten nach dem Rechten sehen, verdächtige Personen fotografieren, Autokennzeichen notieren und im Zweifelsfall sofort die Polizei informieren. All das wiederholte sie jedes Mal, denn sie wollte ja schließlich nicht, dass ausgerechnet sie zum Opfer reisender Diebesbanden wurde. Heute blieb ihr allerdings nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass ihre Nachbarin das alles noch wusste und danach handeln würde. Hätte sie gewusst, dass Nicole bereits plante, ihren Wachtposten schnellstmöglich zu verlassen, hätte sie vermutlich der Schlag getroffen.

Nachdem Nicole endlich die Tür geschlossen hatte, drehte sie sich um und lehnte sich einen Moment lang von innen dagegen. Erleichtert atmete sie auf. Auch Ilse war ja ganz nett, konnte aber ebenso nervig sein wie Ellen. Dann stutzte sie. Die beiden hatten sie völlig aus dem Konzept gebracht. Was hatte sie gerade machen wollen? Ach ja, die Einkäufe für ihre Mutter.

Als sie am Wohnzimmertisch vorbeikam, fiel ihr Blick auf das Handy und sie erinnerte sich an die Nachricht ihres Sohnes. Was der wohl wollte? Sie hoffte, dass er ihr nur eine belanglose Nachricht geschickt hatte und sie nicht wirklich zur Schule musste, um ihm sein Erdkundeheft oder das Sportzeug hinterherzutragen. Sie öffnete die App und sah, dass es sich um ein selbst gedrehtes Video handelte, wie sie am Gesicht ihres Sohnes bemerkte, das als Standbild unten in dem Chatverlauf angezeigt wurde.

Auf dem Weg in die Küche legte sie das Gerät auf die Arbeitsplatte und tippte auf das kleine Dreieck in der Vorschau. Die Übertragung des Inhalts begann. Als sie Einkaufstasche und Portemonnaie danebengelegt hatte, war diese beendet und das Video startete automatisch.

Aber anstatt der quietschenden Stimme einer Zeichentrickfigur hörte sie Windgeräusche und die Worte ihres Sohnes. Sie drehte sich um und schaute auf das Display. Wo war der denn? Im Hintergrund erkannte sie ein Feld. Warum war er nicht in der Schule? Sie war sich sicher, dass der heutige Unterricht erst am frühen Nachmittag zu Ende sein würde. Überrascht stützte sie sich mit beiden Händen auf die Arbeitsplatte und hörte ihm zu.

»Sorry Mum, ich wollte dir nur sagen, dass Papa und du nichts falsch gemacht haben. Das, was ich jetzt tue, ist meine eigene Entscheidung und ich weiß, dass sie die richtige für mich ist.«

Nicole sah, wie das Gesicht ihres Sohnes aus dem Blickwinkel der Kamera verschwand und etwas erschien, das ihr sofort panische Angst einflößte.

Kai stand mitten auf einem Bahngleis. Wieder erschien sein Gesicht in der Kamera. »Lebt wohl! Ich weiß, wir werden uns eines Tages wiedersehen. Seid nicht traurig, mir geht es bald viel besser. Ich liebe euch!«

Nicole wollte schreien, als sie im hinteren Teil des Bildes den Nahverkehrszug sah, der mit einem gellenden Hupton auf ihren Sohn zujagte.

Hilflos musste sie mit ansehen, wie ihr Sohn sich auf den Gleisen niederkniete und dabei das Handy fallen ließ. Sie hörte noch ein Klappern, erblickte ganz kurz Schottersteine, dann nur noch den Himmel und ein paar Sträucher.

Und auch wenn sie nichts anderes mehr sah, so musste sie doch das Quietschen der Zugbremsen und einen dumpfen Schlag mit anhören. Ihr wurde übel, sie verlor den Halt und sank ohnmächtig zu Boden.

Der Tod der blauen Wale

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