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Kapitel 9

Natalie zog eine leere Kaffeetasse von der Mitte des Tisches zu sich heran. »Glaubst du eigentlich an Gott?« Nachdem sie zurück zur Dienststelle gefahren waren, hatten die beiden sich in den Aufenthaltsraum begeben und Marx hatte die Kaffeemaschine in Gang gesetzt.

»Schwerlich«, gestand dieser. »Was sollte das denn für ein Gott sein, der zulässt, dass sich junge Menschen so etwas antun.«

Natalie musste immer noch daran denken, was sie empfunden hatte, als sie sich das heimlich weitergeleitete Video noch einmal angesehen hatte. Dieser Junge war noch so jung gewesen und hatte sein ganzes Leben noch vor sich gehabt. Ihr war ebenfalls aufgefallen, wie zart und zerbrechlich er ausgesehen hatte. Er hatte nicht diesen manchmal verbitterten oder aufsässigen Gesichtsausdruck anderer Jugendlicher. Der Junge hingegen kam Natalie eher verletzt vor. Ob es das Werk seines Vaters war? Sie schüttelte sich bei der Erinnerung an dessen barsche Worte.

Ihr Kollege holte sie aus diesen düsteren Gedankengängen, indem er die Kanne mit frisch gebrühtem Kaffee vor sie hinstellte. Natalie lächelte ihn dankbar an und bediente sich. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Getränk und blickte Marx dann über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Sag mal Wilfried, werden einem die vielen toten Menschen irgendwann einmal egal oder machen sie einem ein ganzes Polizistenleben lang zu schaffen?«

Marx seufzte und ließ sich gegenüber seiner jungen Kollegin auf einen Stuhl fallen. Er schwieg einen Moment, musste erst überlegen, was er ihr antworten sollte. »Ich glaube, es kommt immer darauf an, wer gestorben ist.« Marx legte beide Hände um die Kaffeetasse, als ob er sich daran wärmen wollte. »Wenn es um Kinder oder um Jugendliche wie diesen Kai Herber geht, dann bleibt es, glaube ich, immer schwer, sich damit abfinden zu müssen. Andere hingegen sterben auf Raten, und man weiß schon frühzeitig, dass sie irgendwann dran sind.«

Natalie warf ihm einen forschenden Blick zu. »Wer stirbt auf Raten?«

»Leute mit unheilbaren Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs. Dann unsere Junkies, die sich irgendwann totspritzen, oder die Alkoholiker, die sich mit der Flasche umbringen. Oder psychisch Kranke, die so lange versuchen, sich umzubringen, bis sie es endlich geschafft haben. Da rechnest du einfach damit, sie irgendwann mal tot aufzufinden, aber wenn der Tod so unerwartet kommt …« Marx sprach nicht mehr weiter. Es war zwar ein Scheißthema, aber er konnte verstehen, dass seine junge Kollegin nach Antworten suchte. Das hatte er in ihrem Alter auch gemacht.

»Meinst du, die Eltern von Kai haben nicht gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte?« Auf ihrer Stirn war ein großes Fragezeichen zu sehen.

Marx zuckte mit den Achseln. »Seinem Vater war er anscheinend egal. Es kam mir fast so vor, als sei er froh, dass er ihn endlich los ist.«

Natalie blickte ihn erschrocken an. »Okay, er schien nicht sonderlich zu trauern, aber froh?«

»So, als ob er durch den Tod eine Last losgeworden wäre. Aber wie gesagt, ist nur so ein Bauchgefühl von mir.«

»Was sollte Kai seinem Vater denn für einen Kummer gemacht haben? Ich habe ihn mal durch unseren Computer laufen lassen. Er ist sauber wie frisch gefallener Schnee. Keinerlei Einträge.«

Marx strich sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn. »Vielleicht gab es ja schulische Probleme? Vielleicht erfüllte er die Erwartungen des großen Dr. Herbers nicht?« Marx schob seine Kaffeetasse von sich weg und blickte Natalie in die Augen. »Aber denke bitte daran, dass dieser Fall als Suizid eingestuft worden ist. Es wird keine weiteren Ermittlungen mehr geben, da keine Straftat vorliegt. Nur um die können wir uns kümmern. Auch wenn Onkel Herbert mit allen Mitteln versucht, unsere personelle Situation zu verbessern, so müssen die neuen Kolleginnen und Kollegen doch erst einmal ausgebildet werden. Es dauert also noch, bis sie in den Dienststellen ankommen. Bis dahin müssen wir die ganze Arbeit noch alleine machen.«

Natalie musste lächeln, weil Marx ihren Innenminister Reul Onkel Herbert genannt hatte. Der Mann mochte vielleicht jovial aussehen, aber er packte endlich mal Dinge konsequent an und kümmerte sich um die Polizei seines Bundeslandes. Aber Wilfried Marx hatte Recht, wenn er an die Personalnot in allen Behörden und allen Bereichen der Polizei erinnerte. Jürgen Kleekamp hatte ihr das mal mit nur einem Satz beschrieben. »Die haben uns kaputtgespart!«

Marx streckte sich. »Ich habe letzte Woche zufällig ein Zitat von Winston Churchill gelesen, das auch auf unsere Situation passt: Noch nie haben so viele so wenigen so viel zu verdanken gehabt.«

Natalie musste schmunzeln. »Ich glaube das würde Jürgen auch gefallen«, sagte sie und überlegte, was ihr suspendierter Kollege wohl im Moment gerade machte.

***

Sie hätte sich gewundert, wenn sie gewusst hätte, dass Jürgen Kleekamp sich ganz in ihrer Nähe befand, denn in dem Moment, in dem sie an ihn dachte, betrat er soeben die Wache im Erdgeschoss und damit das Reich von Willi Martini. Der dicke Hauptkommissar thronte hinter dem Wachtisch in einem Bürosessel, den er mit seiner Leibesfülle komplett ausfüllte.

»Na, was willst du denn hier? Darf ich dich überhaupt reinlassen? Du bist doch Staatsfeind Nummer eins oder etwa nicht mehr?«, grinste der Dicke übers ganze Gesicht.

Martini war schon ewig Wachhabender in Kleekamps Dienstgruppe und nicht aus der Ruhe zu bringen. Weder von aufgebrachten Bürgern noch von seinen Vorgesetzten, egal welchen Dienstgrad sie hatten. Sein Motto war: Was können Sie mir tun? Leid können Sie mir tun! Jetzt wuchtete er sich ächzend aus dem Sessel und kam auf Kleekamp zu.

»Wird wohl besser sein, dass du nicht mit mir sprichst«, unkte Kleekamp, »sonst verdächtigt man dich noch, mit mir unter einer Decke zu stecken.«

Martini legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das wird garantiert nicht passieren. Erstens bin ich nicht schwul und krieche schon deswegen nicht mit dir unter eine Decke. Zweitens gibt es keine Decke, die so groß wäre, dass sie für uns beide reicht und drittens schert es mich einen feuchten Kehricht, was man von mir denkt. Schön, dich wiederzusehen.«

Kleekamp blickte den Wachhabenden skeptisch an, aber er fand keinen Anhaltspunkt dafür, dass Martini nicht die Wahrheit gesagt hatte, vor allem im letzten Punkt.

»Also, was willst du hier? Hat man dich zur Kreuzigung eingeladen?«, machte Martini sich über das disziplinare Vorermittlungsverfahren lustig.

»Ich sehe, du kannst immer noch Gedanken lesen«, grinste Kleekamp.

»War ja nicht schwer, das zu erraten, schließlich bist du frisch rasiert und gewaschen. Außerdem kämst du freiwillig wohl kaum hierher oder hattest du so eine große Sehnsucht nach mir?«

»Eher nach Natalie als nach dir, du Fettwanst!«

Martini lachte dröhnend. »Ich sehe, dein großes Maul haben sie dir immer noch nicht gestopft, aber ich bin sicher, das werden sie noch.«

»Na, dann träum mal schön weiter.« Kleekamp mochte diese für Außenstehende oft ruppig anmutenden Wortgefechte mit Martini. »Aber sag mal, was macht Natalie eigentlich gerade?«

»Bunny ist zurzeit doch immer noch bei der Kripo. Sie müsste jetzt gerade oben sein, habe sie vorhin mit Marx reinkommen sehen.« Den Spitznamen Bunny hatte Kleekamp Natalie an ihrem ersten Tag verpasst, als sie verkündet hatte, sie sei Vegetarierin. Seitdem war sie ihn nie wieder losgeworden.

Kleekamp nickte und sah dann zur Wanduhr. »Mist, ich muss auch nach oben. Habe um zehn Uhr einen Termin beim Vorermittlungsführer.«

Martini sah ihn von der Seite an. »Muss ich dich vorher nach Waffen durchsuchen oder die Schnauze zunähen? Ist ja beides gleichermaßen gefährlich.«

Kleekamp grunzte nur abfällig. »Die Kanone hat unsere Chefin schon kassiert und die Schnauze hat mir mein Rechtsanwalt mit Seife ausgewaschen. Ich muss los.«

Martini wackelte zu seinem Sessel zurück. »Na, dann viel Glück und vergiss nicht, vor Inbetriebnahme deiner großen Schnauze dein Gehirn einzuschalten, sonst kannst du demnächst wieder auf der Straße Dienst machen. Aber mit einem Kehrbesen.«

»Arschloch«, brummte Kleekamp und verließ die Wache mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Der Tod der blauen Wale

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