Читать книгу Der Tod der blauen Wale - Joachim H. Peters - Страница 6
ОглавлениеKapitel 3
Oh Gott, sieht der beschissen aus, dachte Natalie Börns, als er ihr die Wohnungstür öffnete. Jürgen Kleekamp, zurzeit suspendierter Oberkommissar der Paderborner Polizei, war zwar gerade mal knapp über fünfzig, aber heute Morgen machte sein unrasiertes und aufgedunsenes Gesicht locker einen Siebzigjährigen aus ihm. Seine Kollegin wusste allerdings, dass er dieses Aussehen nicht einer Krankheit verdankte, sondern seinem Alkoholkonsum. Seit ein paar Wochen war er ständig betrunken, Wer so viel säuft, sollte eine gute körperliche Konstitution haben. Aber Kleekamp war übergewichtig, ernährte sich falsch und war dazu auch noch herzkrank.
Sie kannte ihn nun bereits seit fünf Jahren, aber in letzter Zeit hatte sich sein Zustand zusehends verschlechtert. Als sie, frisch von der Polizeischule kommend, ihren Dienst auf der Wache in der Riemekestraße angetreten hatte, war sie ihm zugeteilt worden und hatte nach dem ersten Tag gedacht, es wäre am besten, sie würde gleich wieder kündigen. Kleekamp hatte sie zu Beginn gemobbt, brüskiert und keine Chance ausgelassen, um sie runterzumachen. Er war ein übler Zyniker, ein Trinker, geschieden, ohne Beziehung, illusionslos und gegenüber den Bürgern genauso ungehobelt, wie er gegenüber seinen Vorgesetzten aufsässig war. Seine Autoritätsresistenz hatte letztendlich dafür gesorgt, dass er zurzeit von allen Dienstgeschäften entbunden war.
Doch er hatte er einen triftigen Grund dafür gehabt, sich unerlaubt aus einem Einsatz zu entfernen, denn dadurch hatte er ihr und einer Kollegin das Leben gerettet. Die Chefetage war allerdings der Auffassung, dieser Alleingang sei nicht nur sehr gefährlich, sondern auch überflüssig gewesen. Er war nun mal nicht beim Sondereinsatzkommando, sondern ein einfacher Streifenbeamter.
Natalie kannte Kleekamp mittlerweile sehr gut, denn sie hatte schon so manche gefährliche Situation mit ihm erlebt, in denen sie sich gegenseitig das Leben hatten retten müssen. Vermutlich war sie in der ganzen Behörde die Einzige, die nicht nur zu ihm hielt, sondern ihn sogar ein bisschen verstand. Okay, Jürgen war ein Großmaul. Er konnte auch ein gewaltiges Arschloch sein, aber er hatte das Herz auf dem rechten Fleck, und würde er sich Mühe geben, wäre er auch ein guter Polizist. Ja, wenn.
Trotz seines Dienstalters war er immer noch Oberkommissar und viele andere waren auf der Beförderungsleiter bereits an ihm vorbeigeklettert, doch das interessierte ihn nicht. Mit dem, was er verdiente, kam er aus, und man hörte ihn nicht selten sagen, das finanzielle Plus, das eine Beförderung mit sich brächte, würde er ohnehin nur seiner geschiedenen Frau in den Rachen werfen müssen. »Und wenn es einen Menschen gibt, dem ich das nicht gönne, dann ist es diese blöde Kuh«, fügte er meist noch verbittert hinzu.
Zu der blöden Kuh hatte er ebenso wenig Kontakt wie zu seinem Sohn oder seiner Tochter. Nach seiner Scheidung war er in dieses Mehrfamilienhaus in der Paderborner Innenstadt gezogen. Hier hauste er in seiner Junggesellenwohnung. Besonders aufgeräumt und sauber hatte sie noch nie ausgesehen, aber als Natalie nun in den Flur trat, hatte sie das Gefühl, sie stünde in einem umgekippten Zirkuswagen. Leere Flaschen, volle Mülltüten, schmutzige Wäsche auf dem Boden und ein Geruch, der zwar nicht genau zu definieren, aber widerlich war. Wie konnte man nur so hausen?
Noch während Kleekamp die Wohnungstür hinter ihr schloss, hatte sie sich bereits die Nase zugehalten, war in die Küche gestürmt und hatte dort das Fenster aufgerissen. Sie atmete ein paar Mal tief durch und drehte sich dann zu ihrem Kollegen um, der mit einer schmuddeligen Jogginghose und einem fleckigen, ehemals weißen Unterhemd bekleidet in der Tür stehen geblieben war und sich nun mit verschränkten Armen an den Rahmen lehnte.
»Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Hier stinkt es wie im Schweinestall, die Bude sieht aus wie Sau und ich frage mich, ob du dich heute mal im Spiegel angesehen hast?«
Kleekamp blickte sie aus geröteten Augen an, verzog aber keine Miene und sagte auch kein Wort. Jeder andere hätte sich mit so einer Ansage postwendend einen verbalen Arschtritt von ihm eingefangen. Vermutlich war Natalie die einzige Person, die sich das bei ihm herausnehmen durfte. Und wenn er ganz ehrlich war, dann hatte sie ja Recht. Er war in einem jämmerlichen Zustand und wusste nicht, wie lange er so noch würde weitermachen können. Als er suspendiert worden war, hatte er zwar den coolen Macho gespielt, aber bereits wenige Tage später festgestellt, dass ihm sein Beruf, über den er so oft gemeckert hatte, doch fehlte. Er hatte ja nichts anderes und konnte auch nichts anderes. Nur Bulle sein.
Er starrte Natalie an, die ihm in seiner dreckigen Küche gegenüberstand und ihn trotz ihrer rüden Frage mit einem traurigen Gesichtsausdruck ansah. Sie hatte sich verändert. Ihre schwarzen Haare trug sie zwar immer noch kurz geschnitten, aber vor fünf Jahren hatte sie ein Babyface gehabt und sich benommen wie ein Teenager, der plötzlich in einem Actionfilm gelandet war. Mittlerweile hatte sie sich bewährt, hatte gelernt, hatte geblutet und war an ihren Problemen und Aufgaben gewachsen. Jetzt stand ihm eine junge, attraktive Frau gegenüber, die selbstbewusst geworden war und ihren Beruf ebenso liebte wie er. Mit dem Unterschied, dass sie es auch zugab. Er bewunderte ihre sportliche Figur, ihre offene Art und vor allen Dingen ihre Fähigkeit, mindestens ebenso häufig zu lächeln, wie er grimmig dreinschaute.
Sie war unverheiratet und, wenn sich in den Wochen seiner Suspendierung nichts geändert hatte, auch immer noch ohne Partner. Manchmal fragte er sich, wann sie sich für einen Mann und möglicherweise auch für Kinder entscheiden würde, denn mit fast dreißig begann auch ihre biologische Uhr langsam zu ticken. Er hatte sie ins Herz geschlossen und er liebte sie, war sich aber darüber klar, dass diese Liebe rein platonisch bleiben würde. Außerdem würde momentan nicht einmal er selbst mit sich ins Bett gehen wollen.
»Was willst du? Bist du nur gekommen, um mich anzupöbeln?«, schnauzte er sie an, um nicht zu verraten, wie nah ihm ihr Besuch ging.
»Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht. Du lässt ja nichts mehr von dir hören.«
Kleekamp schlurfte zu einem der Küchenstühle, um sich darauf ächzend niederzulassen, schob einen Stapel Zeitungen, der darauf lag, achtlos zur Seite, sodass er zu Boden fiel. »Wie soll es mir schon gehen? Blendend, siehst du doch!« Er machte mit dem Arm eine raumgreifende Bewegung durch die Küche. »Ich bin suspendiert und lebe hier in meinem kleinen Paradies, alles bisschen runtergekommen und dreckig, aber immerhin bezahlt.«
Natalie sog deutlich hörbar ein. »Wenn du jetzt auf die Eigentumswohnung anspielen willst, die ich vor drei Wochen gekauft habe, dann …«
Kleekamp stoppte sie, indem er müde abwinkte. »Sorry, war nicht so gemeint.« Er blickte zu Boden und versuchte, das Thema zu wechseln. »Und? Was gibt es Neues auf der Wache? Hat die Alte euch schon alle eingenordet?« Mit der Alten meinte er Katharina Vogt, ihre neue Direktionsleiterin, die seinen ehemaligen Erzfeind Polizeioberrat Hartmann abgelöst hatte.
»Im Großen und Ganzen lässt sie uns in Ruhe, aber momentan ist es auch sehr still in der Stadt, nur ab und zu die üblichen Sondereinsätze im Stadion vom SC.«
Kleekamp lachte bitter auf. »In welcher Liga spielen die momentan überhaupt? Erste, zweite, oder dritte?« Er war kein Fußballfan und interessierte sich daher auch nicht für die heimische Bundesligamannschaft.
Natalie lachte ebenfalls. »Wenn die gegen die Bayern spielen, muss es ja wohl die erste Liga sein.« Dann wurde sie ganz plötzlich ernst. »Vor ein paar Tagen habe ich etwas Schlimmes erlebt.«
Ihre Stimme klang plötzlich so betrübt, dass Kleekamp sie erschrocken anblickte.
»Wir hatten einen Unfall. Ein dreizehnjähriger Junge ist von einem rechtsabbiegenden Laster erfasst und getötet worden.« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und schüttelte sich, als ihr die Erinnerung kalte Scheuer über den Rücken laufen ließ. »Fürchterlich«, hauchte sie.
Kleekamp hatte in seinen Dienstjahren bei der Polizei schon so viel erlebt, dass ihn so etwas kaum noch schocken konnte. Was ihn jedoch berührte, war die Tatsache, wie emotional Natalie darauf reagierte. Wenn man nicht so zynisch und misanthropisch eingestellt war wie er, dann ging einem der Tod eines jungen Menschen immer noch nahe. »Tja, die Problematik mit dem toten Winkel kennen wir ja schon lange«, versuchte er das Gespräch auf eine sachliche Ebene zu lenken.
Natalie schien noch nicht dazu bereit zu sein. »Thomas hat den Unfall aufgenommen. Ich musste nur die Unfallstelle absichern und zum Glück die Todesnachricht nicht überbringen. Auch das hat er gemacht.«
Kleekamp blickte zu Boden und nickte dabei. Thomas Golzig war ihr Dienstgruppenleiter. Bei dem Fall hatte er also gleich zweimal ins Klo gegriffen. Erst die Unfallaufnahme, dann das Überbringen der Todesnachricht. Das war eine der undankbarsten Aufgaben bei der Polizei.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte er, um von diesem beschissenen Thema wegzukommen.
Natalie seufzte noch einmal, drückte dann die Schultern durch und sah sich in der Küche um. »Wenn du in diesem Chaos noch Kaffee findest, gerne. Ansonsten lade ich dich zum Bäcker an der Ecke ein. Aber nur unter einer Voraussetzung.«
»Und die wäre?«
Natalie sah ihn und fing dann an zu lachen. »Dass du dir vorher was anderes anziehst!«
»Wieso, was gefällt dir denn an meinem Outfit nicht?« Er sah grinsend an sich hinunter. »In so einem Unterhemd hat Bruce Willis doch mal Karriere gemacht.«
»Wäre es nicht so dreckig, fände ich es ja auch ganz okay, denn du bist ja so gekleidet wie immer: einfach, aber geschmacklos.«
Kleekamp sah sie mit gespielt empörten Gesichtsausdruck an. »Na, hör mal, was fällt dir denn ein? Das ist …«
»Ich weiß, das ist dein Spruch«, fiel ihm Natalie ins Wort. »Aber nun komm endlich auf die Hufe, ich habe nämlich Durst auf Kaffee.« Sie schüttelte den Kopf, ging hinüber zum Fenster und schloss es wieder.