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Kapitel 11

Schwarz und schwer hatte sich die Nacht über die altehrwürdige Domstadt gesenkt. Seeleute würden die Zeit, in der Frank Bergmann auf abgetretenen Schuhen und in einem verdreckten Mantel durch die Paderborner Innenstadt schlich, als letzte Stunde der Hundswache bezeichnen, denn es war kurz vor vier Uhr morgens. Bergmann war kalt, seine Knochen taten ihm weh und zusätzlich plagten ihn heftige Kopfschmerzen. Aber nicht nur die Kopfschmerzen machten ihm zu schaffen, sondern auch das, was er vorgestern mitten in der Nacht beobachtet hatte.

Bergmann lebte nun schon mehr als zehn Jahre auf der Straße. Vorher war sein Leben eigentlich vollkommen normal verlaufen. Er hatte die Schule abgeschlossen, eine Lehre als Schlosser begonnen, diese aber nach wenigen Monaten bereits wieder abgebrochen, als er feststellte, dass der Umgang mit Metall nichts für ihn war. Es folgte eine weitere Lehre als Drucker, die ihm schon mehr zusagte, aber als das Druckgewerbe sich schnell und umfangreich änderte, musste er feststellen, dass er und die modernen Computer vermutlich keine Freunde werden würden. So lange es ging, versuchte er, sich vor den entsprechenden Schulungen zu drücken, doch irgendwann musste er sich dieser Herausforderung stellen. Das war genau zu der Zeit, als seine Freundin ihre niederschmetternde Brustkrebsdiagnose bekam und die Mitteilung, dass der Krebs schon heftig gestreut hatte. Fast zur gleichen Zeit bekam er Probleme auf der Arbeit und man drohte ihm mit Kündigung.

Bis dahin war Bergmann zwar kein Kind von Traurigkeit gewesen und er hatte gern mal einen über den Durst getrunken, aber er hatte keine Probleme mit dem Alkohol. Doch als ihn all diese Schicksalsschläge ereilten, wurde der Sprit nicht mehr nur Teil seiner Freizeitaktivitäten, sondern zu dem Pfuhl, in dem er seine Sorgen zu ertränken versuchte. Er schaffte es kaum noch ins Krankenhaus, um seine Freundin zu besuchen, weil er nicht wusste, wie er ihr hätte begegnen sollen. Was sollte er ihr sagen? Wie sollte er sie trösten? Anstatt sich dieser Aufgabe zu stellen, lief er vor ihr und seiner Freundin davon. Als Nächstes bekam er Streit mit ihrer Mutter, die ihn immer wieder aufforderte, ihre Tochter gerade jetzt nicht im Stich zu lassen. Doch je mehr Druck sie aufbaute, umso mehr weigerte er sich.

Dann verlor er seine Wohnung. Sein Vermieter war ein kleiner übellauniger Mann, der mit seinem eigenen Leben nicht klarkam und seine Wut über sein verpfuschtes Dasein unter anderem an Bergmann ausließ. Nach einem Streit, bei dem sich der Vermieter über falsch abgestellte Mülltonnen aufgeregt hatte, lag einen Tag später die Kündigung im Briefkasten. Bergmann war sich sicher, dass der Eigenbedarf nur vorgeschoben war, denn er bezweifelte, dass die Schwester, die ihren Bruder ebenfalls nicht leiden konnte, gerade in dessen Haus ziehen würde. Aber er hatte nicht die Kraft, sich mit dieser Sache auseinanderzusetzen. Auch jetzt versuchte er, dem Problem aus dem Weg zu gehen, indem er es einfach ignorierte. Er bemühte sich weder darum, eine neue Wohnung zu finden, noch die alte zu räumen. Er schaffte es zwar jeden Abend in die Kneipe, um sich zu besaufen, war aber nicht fähig, irgendetwas zu regeln.

Seine täglichen Alkoholexzesse führten dazu, dass er weder pünktlich noch regelmäßig zur Arbeit erschien und sein Arbeitgeber ihn nach einer angemessenen Zeit auf die Straße setzte. Eine Weile reichte das Geld für die Kneipenbesuche, doch auch da war er schon ein nicht gern gesehener Gast geworden, weil er nur noch jammerte, wie schlecht es ihm ginge und wie übel ihm alle mitgespielt hätten. Doch das wollten die anderen Gäste nicht jeden Abend hören und so blieben die Hocker rechts und links neben ihm immer öfter leer.

Aber irgendwann reichte sein Geld nicht mehr für die Sauftouren am Tresen. Sprit vom Discounter war angesagt. War er früher ein markentreuer Zecher, der Wert auf bestimmte Spirituosen legte, so ging es ihm in diesem Stadium schon mehr um Quantität als um Qualität. Viel Alkohol für wenig Geld.

Irgendjemand sagte später, er habe den Räumungstermin seiner Wohnung gar nicht richtig miterlebt und in der mittlerweile sehr verwahrlosten Wohnung habe man einen Stapel von ungeöffneten Briefumschlägen gefunden. Alles Schreiben von Behörden, Anwälten und Gerichten. Seine Wohnung wurde also geräumt und der Inhalt als Sperrmüll entsorgt. Er versuchte zunächst, bei Bekannten und Freunden Unterschlupf zu finden, doch es gab bald niemanden mehr, der bereit gewesen wäre, ihn aufzunehmen oder in anderer Weise zu unterstützen. Seine Freundin war zwischenzeitlich ihrer Krankheit erlegen, aber da er sie nie mehr besucht hatte, erfuhr er auch das nur durch Zufall.

So landete er am Ende dieses Weges auf der Straße und brauchte lange, um sich dort zurechtzufinden. Wo sollte er schlafen? Wie kam er an Essen? Vor allem aber, wie kam er an den dringend benötigten Alkohol, der ihn zwar nicht mehr glücklich machte, ihm aber im Vollrausch wenigstens für ein paar Stunden die Besinnung raubte? Er fand Leidensgenossen, Gleichgesinnte und Feinde. Man kämpfte um die guten Schlafplätze, man traf sich an bestimmten Orten und zankte sich um die besten Stellen, an denen man ein paar Münzen erbetteln konnte. Er lernte, wo man eine warme Suppe bekam, er lernte, zu stehlen und sich nicht erwischen zu lassen, und irgendwie schaffte er es sogar, zu überleben.

Zwar war er durch den Alkohol auf die Straße geraten, aber im Gegensatz zu anderen Menschen, die hier lebten, entsagte er ihm immer mehr. Als er endlich begriff, dass er ganz unten angekommen war, wurde ihm bald klar, dass er ihm nicht half. Natürlich trank er hin und wieder noch einen Schluck, vor allem wenn es besonders kalt war, aber das geschah immer seltener. Er schien fast so, als hätte er keine Sorgen mehr und müsste sie deshalb auch nicht ertränken. Und weil er in Bezug auf den Alkoholkonsum immer öfter so sauber wie ein frisch gewaschenes Betttuch war, blieb irgendwann mal der von einem anderen Obdachlosen für ihn gefundene Spitzname Laken an ihm hängen.

Unter diesem Namen kannte ihn auch der ein oder andere Polizist, der ihn gelegentlich kontrollierte, ihn bei nicht geglückten Ladendiebstählen erwischte und mitnahm oder ihn ab und zu von seinem angestammten Schlafplatz verscheuchte, wenn er die braven Bürger dort mit seiner Anwesenheit mal wieder störte. Mit einem der Paderborner Polizisten, einem gewissen Kleekamp, hatte er anfangs erhebliche Schwierigkeiten gehabt, denn der schien kein Verständnis für seine Situation zu haben. Da waren ihm dessen Kolleginnen schon deutlich lieber gewesen. Die waren immer freundlich zu ihm.

Dieser Kleekamp hingegen hatte ihn am Anfang behandelt wie den letzten Arsch. Erst im Januar letzten Jahres hatte sich das geändert. Er war von der Treppe gefallen, die hinter dem Dom hinab zu den Paderquellen führte, und lag dort mehr als eine halbe Stunde auf dem eiskalten Boden, bis sich jemand um ihn kümmerte. Etliche Passanten gingen an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen oder sein Wimmern zu beachten. Sein Bein war gebrochen und er hatte starke Schmerzen. Aber auch Kleekamp, der irgendwann zusammen mit einem Kollegen erschien, hielt ihn zunächst für betrunken. Aber er war nüchtern gewesen und den Sturz hatte keine Brennstoffzufuhr, sondern eine der glatten Treppenstufen verursacht. Kleekamp fuhr ihn barsch an und wollte ihn grob auf die Beine ziehen, doch als er Bergmanns Schmerzensschrei hörte, wurde ihm schnell deutlich, was hier Sache war.

Und dann blieb er nicht nur bei ihm und redete mit ihm, bis der Krankenwagen kam, sondern besuchte ihn sogar zwei Tage später im Krankenhaus und ließ ihm ein paar warme Sachen zum Anziehen und etwas Bargeld da. Auf Bergmanns Frage, warum er das mache, bekam er keine Antwort. Aber sein auf der Straße erworbenes feines Gespür für Menschen und einige von Kleekamps Bemerkungen sagten ihm, dass der ebenfalls Probleme hatte. Er hätte nicht sagen können, welcher Art sie waren, aber er spürte es deutlich.

Seit diesem Vorfall unterhielten sie sich öfter mal, wenn ihre Wege sich kreuzten und ab und zu lud Kleekamp ihn zu einem Kaffee oder einem Imbiss ein. Meist dann, wenn sie sich in der Fußgängerzone trafen, wo der Polizist ab und zu mal Fußstreife ging. Irgendwann stellte er fest, dass Kleekamp ihn anders behandelte, wenn dessen Kollegen dabei waren. Es schien fast so, als schämte er sich dann, ihn zu kennen. Bergmann stellte sich darauf ein und hielt sich dann ebenfalls zurück, denn er wollte den Kontakt nicht verlieren. Als er eines Tages bemerkte, dass Kleekamp eine große Anzahl anderer Penner, wie sie in der Bevölkerung verächtlich genannt wurden, auch ganz gut kannte, wurde er sogar ein bisschen eifersüchtig.

Manchmal konnte Bergmann sich für einen Kaffee oder eine Currywurst mit einer Information bei Kleekamp revanchieren, ohne zum Denunzianten zu werden. Aber ab und zu suchte Kleekamp eine Person oder ein Fahrzeug, und wer auf der Straße lebte, der sah viel.

Doch was er vorletzte Nacht gesehen hatte, dass hatte ihm den Atem verschlagen und fürchterliche Angst eingeflößt. Den ganzen gestrigen Tag war er herumgelaufen und hatte darüber nachgedacht, ob er Kleekamp erzählen sollte, was er beobachtet hatte. Aber dann würde er sicherlich zu einem Zeugen in einem Verfahren werden, in das er auf keinen Fall hineingezogen werden wollte. Es würde seine Ruhe stören, die er so sehr schätzte. Doch andererseits war das Beobachtete so schlimm gewesen, dass man es nicht ungestraft lassen sollte.

Jetzt tigerte er durch die Stadt und versuchte, sich zu einer Lösung durchzuringen. Letztendlich kam er zu dem Schluss, eine Entscheidung davon abhängig zu machen, ob Kleekamp ihm über den Weg laufen würde. Sollte also das Scheißschicksal entscheiden, das ihm schon oft so übel mitgespielt hatte.

Der Tod der blauen Wale

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