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In absentia lucis tenbrae vincunt

(In Abwesenheit des Lichtes obsiegen die Schatten)

Kapitel 1

»Du bist ein Parasit. Du bist hässlich und ich wollte dich nie haben. Ich wünschte, du wärst tot! Du dummes, abscheuliches Balg!«

Sie wusste nicht, ob es der Regen war, der ihr über das Gesicht lief und ihre Erinnerungen freigespült hatte, oder ob es einfach nur mal wieder an der Zeit war, dass sie hochkamen. Denn sie kehrten zurück, immer wieder, egal wie sehr sie sich auch bemühte, die Worte ihrer Mutter zu verdrängen.

Augenblicklich sah sie die Alte wieder in ihrem fleckigen Sessel mit den abgewetzten Lehnen sitzen. Ihr Haar ungepflegt, dünn und strähnig, die Fingernägel schmutzig und lang wie Krallen, das Gesicht aufgedunsen von Alkohol und Medikamenten, die Augäpfel so gelb wie ihre Finger. Zwischen ihnen immer eine Zigarette, zuerst Filter, dann aus Kostengründen selbstgedreht. Vor ihr auf dem Tisch der überquellende Aschenbecher, der stets von leeren Bierflaschen umringt war.

Sie sah auch das schmutzige Zimmer wieder vor sich. Dreckige Fensterscheiben, ein Teppichboden, dessen Farbe man kaum noch erkennen konnte, die gelben Gardinen und die schmierigen Tapeten. Dunkle Stellen an den Türrahmen, an denen sich ihre Mutter immer abgestützt hatte, wenn sie ins Bad getorkelt war, um sich mal wieder zu übergeben. Die verbrauchte Luft roch nach Urin und Schweiß, denen sich eine säuerliche Duftnote beimischte.

Früher war dieser Raum mal das Wohnzimmer gewesen. Hier hatten Familienfeiern stattgefunden. Hier hatte zu Weihnachten der Tannenbaum gestanden. Hier war an Sonntagen der Tisch mit dem guten Geschirr gedeckt worden. Hier waren die meisten Familienfotos gemacht worden. Bilder aus glücklicheren Tagen.

Auch das letzte von Vater, bevor er starb. Sie sah ihn wieder in dem damals noch gepflegten Sessel sitzen, in dem ihre Mutter später vor sich hinvegetierte. Ihr Vater war nicht sehr alt geworden, gerade mal dreiundfünfzig Jahre. Als die Ärzte endlich herausgefunden hatten, was ihm fehlte, war es bereits zu spät. Er wehrte sich zwar noch ein dreiviertel Jahr, aber er verlor diesen Kampf gegen den Krebs.

»Das ist doch kein Alter«, sagten die Nachbarn am Grab zu ihr. Es war schon schlimm genug, dass er gestorben war, aber unerträglich war, dass mit seiner Beisetzung auch das letzte bisschen an Liebe begraben wurde, dass man ihr bis dahin entgegengebracht hatte.

Ihre Mutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ein unerwünschtes Kind war. Ein Kind, mit dem es die Liebe, aber vor allem die Aufmerksamkeit ihres Mannes teilen musste. Ein Kind, das all ihre Zukunftsträume zerstörte. Die Möllenbergs hatten immer den Traum gehabt, irgendwann einmal nach Kanada auszuwandern und dort zu leben. Aber als sie auf die Welt kam, zerplatzte dieser Traum wie eine Seifenblase.

»Wir müssen unserem Kind doch eine gute Zukunft ermöglichen«, hatte ihr Vater seiner Frau erklärt. »Wir müssen hierbleiben, denn hier haben wir Arbeit. Wer weiß denn schon, was in Kanada ist?« Ihre Mutter hasste sie dafür, dass sie ihr diesen Traum zerstört hatte.

Sie. Das Kind, das nichts dafürkonnte. Nicht ihr Mann, der diese Entscheidung gefällt hatte, war für sie der Schuldige, sondern das Kind. Ihn liebte sie trotzdem.

Aber weil sie ihre Wut an ihm nicht auslassen konnte und wollte, richtete sie ihren ganzen Frust auf sie. Auf das Kind, das sie nie hatte haben wollen. Später, als ihre Tochter es nicht mehr ertragen konnte und aus dem Haus floh, sogar gegen sich selbst. Sie wurde zu einer verbitterten Frau voller aufgestauter Wut, die nur noch zurück- und nicht mehr vorwärtsblicken konnte. Oder wollte. Jemand, der die anderen dafür verantwortlich machte, ihr Leben nicht gelebt, es unumkehrbar verpfuscht und verschwendet zu haben.

Zurück in der Gegenwart schüttelte sie die Regentropfen ab und hoffte, damit auch die düsteren Erinnerungen loszuwerden. Dabei schob sie ihr Fahrrad mit den beiden schweren Packtaschen weiter bergan. Beim nächsten Haus lehnte sie es neben der Tür an die Wand und kramte mit geübtem Griff drei Zeitungen aus der Tasche.

Was an den Worten ihrer Mutter besonders schlimm war, war die Tatsache, dass ein großer Teil davon stimmte. Sie war dumm. Und sie war wirklich hässlich. Mit einer Größe von 1,57 m war sie sehr klein und mit einem Gewicht von über 80 Kilogramm für ihre Größe eindeutig zu dick. Die strohige Struktur ihrer Haare hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die rote Farbe von ihrem Vater. Das hatte ihr in der Schule den Spitznamen Pumuckl eingebracht. Ein Name, mit dem ihre Mitschüler sie bis zur Entlassung hänselten. Dabei fand sie ihren eigentlichen Namen schon schlimm genug. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter absichtlich einen dermaßen schrecklichen Vornamen für sie ausgesucht hatte, um sie dadurch ihr ganzes Leben lang daran zu erinnern, dass sie unerwünscht zur Welt gekommen war.

Das Feuermal, das den rechten Teil ihres Gesichtes bedeckte, sah aus, als habe ein betrunkener Maskenbildner ihre Visage rot und violett geschminkt, um aus ihrem Gesicht eine Zombiemaske zu machen, und bei der Hälfte aufgegeben. Viele Leute auf der Straße drehten sich nach ihr um, und die Tatsache, dass sie aufgrund eines Hüftschadens auch noch leicht humpelte, ließ sie wie ein hässlicher Zwerg aus einer abstrusen Fantasy-Welt aussehen. Vielleicht war sie das ja auch? Ein hässlicher, böser Gnom. Der die Dunkelheit liebte, weil sie seine Missbildungen gnädig verdeckte.

So war sie zu einem Geschöpf der Nacht geworden. Sie hatte gelernt, mit der Finsternis zu verschmelzen. Eine Einheit mit ihr zu bilden. Die Zeitungen, die sie austrug, wurden sehr früh gedruckt und angeliefert. Dadurch schaffte sie es, ihre Arbeit so zeitig zu beenden, dass sie noch vor Morgengrauen wieder von der Straße verschwunden war.

Mittlerweile scheute sie sogar wie ein Vampir das Sonnenlicht und war froh, wenn sie sich in ihrer Behausung davor verstecken konnte. Hier lebte sie allein, hatte weder Bekannte, noch Freunde. Allerdings wusste sie gar nicht genau, was Freunde eigentlich waren, denn sie hatte noch nie welche gehabt.

Bis vor ein paar Tagen hatte sie auch nur sehr selten mit jemandem gesprochen. Manchmal redete sie mit sich selbst, nur um zu prüfen, ob sie überhaupt noch sprechen konnte. Denn bisweilen überkam sie das Gefühl, dass ihr diese Fähigkeit langsam aber sicher abhandenkam.

Doch dann hatte sie ihn getroffen. In ihrer gewohnten Umgebung. In der Dunkelheit. Und nun hoffte sie, dass er wieder da war, wenn ihre Runde sie gleich an den Ort ihrer ersten Begegnung führen würde. Sie hatten nicht viel geredet, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, aber sie hatte sich sofort zu ihm hingezogen gefühlt. Ein Gefühl, dass sie bis dahin nur bei ihrem Vater gespürt hatte.

Hastig stopfte sie die Zeitungen in die Briefkästen und eilte zu ihrem Fahrrad zurück. Im strömenden Regen, der jeden anderen in schlechte Laune versetzt hätte, hellte sich ihre Miene in dem Moment auf, als sie um die nächste Ecke bog und ihn sah.

Der Tod der blauen Wale

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