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[39] Von der Defizit- zur Ressourcenorientierung

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Wie gelingt es, den Blick auf positive Aspekte des eigenen Lebens zu richten, anstatt immer auf das nicht Funktionierende, auf die Katastrophen, auf das Chaos? Zahlreiche Eltern vergessen in der Sorge um ihre Kinder ganz, deren Fähigkeiten und Anstrengungen zu würdigen.

„Eine problemorientierte Sicht ist mehr vergangenheitsorientiert – eine lösungsorientierte Sicht ist eher zukunftsorientiert.“

Winfried Palmowski Der Blick auf die Stärken orientiert sich an den Erkenntnissen des Medizinsoziologen und Stressforschers Aaron Antonovsky, der seit Mitte des letzten Jahrhunderts die „Ursprünge der Gesundheit“ untersuchte (vgl. Antonovsky 1997, S. 17). Unter dem Begriff „Salutogenese“ (Salus, lat.: Unverletztheit, Heil, Glück; Genese: griech.: Entstehung) hat er den Paradigmenwechsel hin zur ganzheitlichen Gesundheitsförderung entscheidend mit geprägt. Die salutogenetischen Fragestellungen lauten: Was stärkt uns? Was schützt uns? Was hält Menschen trotz vieler potenzieller gesundheitsgefährdender Einflüsse körperlich, emotional und sozial gesund?

Im Gegensatz dazu, sagt er, steht die heute immer noch vorherrschende Denk- und Handlungsprämisse der pathogenetischen Sichtweise (Pathos, griech.: Leid, Leiden, Leidenschaft). Diese fragt vorrangig danach, warum jemand krank, auffällig, süchtig oder gewalttätig wird, mit dem Ziel, die endgültig wirksame Strategie zu finden, mit der zukünftige Störungen möglichst vermieden werden können. Antonovsky benutzt zur Erklärung seines Ansatzes folgende Metapher: „Die pathogenetische Herangehensweise möchte Menschen mit hohem Aufwand aus einem reißenden Fluss retten, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie sie da hineingeraten sind und warum sie nicht besser schwimmen können“ (Bengel u.a. 2000, S. 24f.).

Das gleiche Denken herrscht oft auch bei Eltern vor. Aufgrund ihrer Unsicherheit vertrauen sie ihren Selbsthilfekräften wenig. Zur eigenen Beruhigung suchen sie schon bei kleinsten „Auffälligkeiten“ psychologische Beratungsstellen auf, um dort mit Hilfe von Tests Störungssymptome (wie beispielsweise Dyskalkulie, oder Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom/ADS), feststellen zu lassen.

[40] In den Seminaren schildern Mütter oder Väter oft, dass ihre Kinder nur deswegen auffällig geworden seien, weil an der betreffenden Schule oder im Wohnumfeld der Familie oder aus anderen Gründen, die außerhalb der Familie liegen, etwas nicht in Ordnung sei. Ein typisches Thema ist immer wieder: der „schlechte Einfluss“ der Clique oder die „falschen“ Freunde, die das eigene Kind vom „rechten“ Weg abbringen.

Wenn nur der Schüler, der meine Tochter zum Haschischkonsum oder zum Schule schwänzen verleitet hat, von der Schule verwiesen würde, würde sicher alles wieder anders, oder Mein Sohn wäre allein niemals darauf gekommen zu klauen,

hoffen sie. Am liebsten würden sie Maßnahmen von örtlichen Beratungsstellen, von der Schulbehörde oder von der Polizei fordern. Die sofortige Vermeidung des Problems wäre ihr größter Wunsch.

Auch hier versuche ich als Dialogbegleiter, die Elterngruppe sowohl über ihre konkreten Ängste als auch Erfahrungen im Umgang mit ähnlich gelagerten Situationen miteinander ins Gespräch zu bringen.


[41] Wer kennt ähnliche Ängste bei sich oder bei Leuten, die Ihnen nahe stehen?

Ist Ihnen bekannt, wie diese Personen mit der entsprechenden Situation umgegangen sind?

Wollen Sie von anderen hören, wie sie an Ihrer Stelle handeln würden?

Gibt es jemanden hier im Raum, der so etwas noch nie erlebt hat?

Was haben Sie bisher unternommen?

Wer, glauben Sie, könnte die richtige Person sein, die Ihnen oder Ihrem Kind jetzt am besten helfen könnte?

Dieses Vorgehen entlastet gerade diejenigen Eltern, die zuvor eine konkrete Situation aus ihrem Erziehungsalltag geschildert hatten. Sie lernen dadurch, bestimmte Dinge anders einzuordnen; denn es wird offensichtlich, dass sich einerseits bestimmte „jugendtypische“ Verhaltensweisen durchaus „auswachsen“ können oder sich im Laufe der Zeit von selbst regulieren, dass wir andererseits aber auch nicht alle Macht in der Hand haben, das Verhalten unserer Kinder störungsfrei zu steuern.

„Es ist ernüchternd, dass es kein Rezept gibt, aber ich weiß jetzt, dass ich mein Kind begleiten und mit ihm im Gespräch bleiben muss.“

„Manchmal muss man wohl hoffen und darauf vertrauen, dass es gut laufen wird.“

„Wir haben die Zügel nicht in der Hand; ein Schuss Glück ist auch dabei.“

„Vom Erziehen habe ich niemals sehr viel gehalten, das heißt, ich habe stets starke Zweifel daran gehabt, ob der Mensch durch Erziehung überhaupt irgendwie geändert, verbessert werden könne.“

Hermann Hesse Dies sind drei Rückmeldungen aus Elternseminaren. Womöglich merken jene Eltern, deren brennende Probleme in der Gesprächsrunde betrachtet wurden, im Verlauf des Abends aber auch, dass sie viel zu wenig von ihrem Kind wissen, und sie hören von anderen, wie sie den Kontakt mit ihren „Halbwüchsigen“ halten bzw. wiederherstellen können. Sie sehen durch den Dialog meist eher einen Ausweg, als wenn ich als Fachreferent eine „kluge“ fachliche Antwort gegeben hätte.

Antonovsky propagiert übrigens auf keinen Fall die völlige Aufgabe der pathogenetischen Orientierung, sondern plädiert dafür, „die beiden Orientierungen als komplementär zu betrachten“ (Antonovsky 1997, S. 30). Er sieht Gesundheit und Krankheit nicht als Gegensätze, sondern als Endpunkte eines Kontinuums.

[42] krank (-)------------------------------------(+) gesund

Wir alle, sagt er, bewegen uns Zeit unseres Lebens immer zwischen diesen beiden Polen „gesund“ (+) und „krank“ (-) wie ein Seiltänzer, der immer wieder die Balance auf dem Hochseil findet, während er von der einen zur anderen Seite schwebt (Antonovsky 1997, S. 91). Der Mensch ist nicht entweder krank oder gesund, sondern er ist sowohl-als-auch krank und/oder gesund. Beides gehört also untrennbar zu unserem Leben.

„Gemeinsam durchlebte Konflikte stärken die Beziehung, vermiedene Konflikte schwächen sie.“

Mathias Wais „Antonovskys sozialpsychologisches Konzept der Stressoren und Widerstandsressourcen ist ein wichtiger Beitrag, das Leben als kohärent und in sich stimmig zu begreifen, das solange lebbar bleibt, bis der Tod eintritt“ (aus: Philosophische Überlegungen zu A. Antonovsky, Weinheim 2000/ Internet). Die Protagonisten des „fit-for-fun Lifestyles“ mit ihrem Körper-Gesundheits-Kult müssen sich damit genauso konfrontiert fühlen, wie Lehrer, die sich unkomplizierte und leicht führbare Schüler wünschen, und Eltern, die die Hoffnung auf ein störungsfreies Aufwachsen ihrer Kinder noch nicht aufgegeben haben.

Eltern Stärken. Die Dialogische Haltung in Seminar und Beratung

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