Читать книгу Herzversagen - Ein Schweden-Krimi - Jonas Moström - Страница 13

Kapitel acht

Оглавление

Erik Jensen schaffte es, wach zu bleiben, genau wie er es sich vorgenommen hatte.

Er saß im Konferenzzimmer der Notaufnahme 9 und wartete auf die Morgenvisite. Der Schlafmangel machte sich langsam bemerkbar, und er hatte während der letzten Stunde vier Tassen Kaffee getrunken. Der Effekt war mäßig. Mit müden Augen sah er aus dem Fenster. Zwei Frauen in der offiziellen blauen Arbeitskleidung standen vor der Patientinnenannahme der Geburtsstation und rauchten. Jensen hatte es schon zu oft gesehen, als dass er noch darauf reagierte.

Klinikchef Bolinder kam herein. Er setzte sich auf seinen Platz am Tisch und schlug den ersten Visitenordner auf. Wie immer trug er ein gebügeltes, weißes Hemd und einen stramm gebundenen Schlips. Er zog seinen schwarzen Füller mit einem solchen Ernst aus der linken Brusttasche seines Arztkittels, dass man an einen Ritter erinnert wurde, der im Kampf sein Schwert zieht. Zu beiden Seiten Bolinders saß je eine Schwester mit einem Stapel Krankenberichte.

»Sie sehen aus, als hätten Sie Ihre Pflicht erfüllt«, sagte Bolinder und nickte in Jensens Richtung, während er gleichzeitig demonstrativ den Daumen über den Papierstapel mit den Patientenaufnahmen der Nacht zog.

»Ich habe nicht gerade sanft geschlummert«, antwortete Jensen.

Die Morgenbesprechung des Mittsommertages verlief ohne größere Überraschungen. Jensen bewegte seine Füße unterm Tisch hin und her, um sich wach zu halten. Er antwortete kurz und sachlich auf die wenigen Fragen, die Bolinder stellte. Erik Jensen war ein kompetenter Internist und Kardiologe, der in der Klinik einen sehr guten Ruf hatte, sogar bei Bolinder, der ansonsten in seinem Urteil ziemlich hart war. Jensen würde außerdem bald mit seiner Doktorarbeit fertig sein, die er gemeinsam mit einem Professor vom Karolinska Institut schrieb. Obwohl erst dreiunddreißig, war er der strahlendste Stern in der Klinik und hätte mit Leichtigkeit überall im Land eine Stelle bekommen – und sich damit einen Traum erfüllen können. Das Problem war, dass seine Frau Sara Sundsvall auf gar keinen Fall verlassen wollte. Sie hatte alle ihre Freunde und ihre ganze Familie in der Nähe, besonders ihre Mama. Und seit ihre Tochter Erika vor acht Monaten geboren worden war, stand ein Umzug ohnehin nicht mehr zur Diskussion.

Jensen ließ seinen Gedanken freien Lauf, während er darauf wartete, dass Maria Backlund auf die Tagesordnung kam. Es dauerte zwei Stunden und vierundzwanzig Patienten, bis Bolinder den Daumen befeuchtete und zum letzten Mal in dieser Sitzung umblätterte.

»Maria Backlund, sechsundsechzig geboren«, sagte er mit seiner unermüdlichen Stimme. »Kam im Krankenwagen wegen eines Herzstillstandes.«

Bolinder grübelte lange schweigend über dem Bericht.

»Das haben Sie gut gemacht, Erik«, sagte er schließlich. »Gibt es eine Erklärung für den Stillstand?«

»Nein«, sagte Jensen. »Aber ich hatte noch keine Zeit, mit der Patientin zu sprechen.«

»Merkwürdige Geschichte«, sagte Bolinder und wandte sich den Krankenschwestern zu. »Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?«

Die Gesprächigere der beiden, die ein handgemaltes Namensschild aus Holz mit dem Namen Eva trug, antwortete:

»Eigentlich nicht. Die Patientin war so müde, dass sie sofort eingeschlafen ist. Und die große Schwester so aufgeregt, dass nichts Vernünftiges aus ihr herauszubekommen war. Wir haben ihr dann schließlich fünf Milligramm Oxazepam gegeben, damit sie sich beruhigt.«

Bolinder runzelte die Stirn und vergrub sich wieder in den Bericht.

»Alle Blutwerte sehen gut aus, abgesehen von den üblichen Auffälligkeiten durch zu langes Stauen bei der Blutabnahme, die sich jetzt wieder normalisiert haben. Das EKG zeigt keine Arrhythmien oder andere Abweichungen. Der niedrige Puls kann ein Zeichen dafür sein, dass sie viel Sport treibt. Wurde ein Herzultraschall gemacht?«

Wieder antwortete Schwester Eva.

»Ja, der wurde gemacht. Thorstenson war heute früh da.«

Sie holte ein Blatt Papier hervor, an dessen eine Ecke kleine, schwarzweiße Fotokopien geheftet waren.

»Völlig normale Werte«, stellte Bolinder fest.

Er tippte mit dem Stift auf den Tisch und dachte nach.

»Kniffliger Fall. Mit ihrem Herz ist jedenfalls alles in Ordnung. Sie kann nach Hause gehen und soll in zwei Wochen zur Nachuntersuchung in meine Sprechstunde kommen.«

Jensen reagierte instinktiv.

»Sollte sie nicht zur Beobachtung bleiben? Wäre es nicht sinnvoll, nach einem Grund zu suchen, bevor wir den Fall ruhen lassen?«

Bolinder hob den Blick. Die Augenbrauen nahmen wieder ihre spitze Form an.

»Sie wissen genauso gut wie ich, wie sehr wir überbelegt sind. Wir haben einfach keinen Platz für gesunde Patienten.«

Jensen sah ein, dass es keine gute Idee wäre, den Beschluss in Frage zu stellen. Bolinder setzte die Kappe auf seinen Füller und steckte ihn wieder in die Brusttasche. Alle am Tisch wussten, dass dies das Signal zum Ende der Besprechung war und dass nun die vormittägliche Kaffeepause anstand. Rund um den Tisch hörte man kleine Aufbruchsgeräusche, Stuhlbeine wurden über den Boden geschoben, Notizbücher und Ordner raschelnd eingesteckt.

Die beiden Krankenschwestern nahmen jeweils ihren Visitewagen, und als sie an Jensen vorbeikamen, schnappte er sich Maria Backlunds Unterlagen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Bolinder in Richtung des Flurs marschierte, mit seinem Hofstaat im Schlepptau.

Jensen fand die richtige Tür und schaute durch das rechteckige Plexiglasfenster hinein. Maria Backlund und ihre Schwester saßen jeweils auf ihrem Bett und sprachen miteinander. Jenson klopfte an und trat ein.

»Guten Morgen, mein Name ist Erik Jensen. Ich bin Arzt hier und habe Sie gestern Nacht behandelt.«

Maria Backlund, die näher an der Tür saß, hob ein leeres Frühstückstablett vom Bett.

»Hallo. Kommen Sie doch herein.«

Jensen setzte sich in den einzigen Besuchersessel des Zimmers. Obwohl die Jalousien heruntergezogen waren, schien die Morgensonne hinein und warf Flecken auf die gelben Gipswände. Jensen fiel auf, dass Maria Backlund fast genauso blass war wie bei der Einlieferung in die Notaufnahme. Sie war klein und schmal, sah sehnig und durchtrainiert aus. Ihr Gesicht strahlte Stärke aus, der Blick war ehrlich und wach. Große, rote Locken fielen auf ihre Schultern. Jensen konnte sich nicht erinnern, je so auffallende Haare gesehen zu haben. Maria Backlund goss Hagebuttentee aus einer rostfreien Kanne, die auf dem Nachttisch stand und nippte nachdenklich daran.

»Ich weiß eigentlich gar nicht, was passiert ist«, sagte sie. »Sie haben gesagt, dass ich eine Weile weg war?«

Jensen lächelte kurz.

»Das ist das Mindeste, was man sagen kann . . .«

Dann erklärte er detailliert, was passiert war. Maria Backlund hörte aufmerksam zu, ohne etwas zu sagen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte zwischen Überraschung und Angst.

»Sie werden verstehen, dass ich viele Ihrer Fragen im Augenblick nicht beantworten kann«, sagte Jensen abschließend. »Aber vielleicht verfügen Sie selbst ja über einige der Antworten?«

Er sah von einer Schwester zur anderen. Sie saßen still da und dachten nach. Das einzige Geräusch, das man hörte, war die Lüftung, die an einem unbestimmbaren Platz im Zimmer surrte. Jensen wandte sich mit der nächsten Frage an Maria.

»Abgesehen von den Problemen mit der Galle sind Sie also völlig gesund?«

»Ja. Außerdem habe ich die sehr selten, nur wenn ich etwas Falsches gegessen habe.«

»Und Sie haben in letzter Zeit keine Medikamente genommen?«

Sie schüttelte den Kopf. Die roten Locken tanzten um ihre Ohren.

»Maria ist einer der gesündesten Menschen, die ich kenne«, warf ihre Schwester Berit ein und rückte ihre runde Brille zurecht. »Sie ist fast nie krank.«

»Hatten Sie in den letzten Wochen eine Erkältung oder irgendeine andere Infektion?«

»Nein, gar nichts.«

Jensen schrieb eine Null auf seinen Notizblock.

»Wie fühlten Sie sich gestern Abend, bevor Sie ins Bett gingen?«

»Gut. Sehr gut. Wir haben Surströmming gegessen, gegorenen Hering, und Karten gespielt. Ungefähr gegen halb zwölf sind wir ins Bett gegangen, und ich bin sofort eingeschlafen. Dann erinnere ich mich an nichts mehr, bis ich hier im Krankenhaus aufgewacht bin.«

»Haben Sie Alkohol getrunken?«

Die Schwestern wechselten schnell einen Blick. Berit nickte ernst.

»Jede einen Schnaps und ein Bier«, sagte Maria und sah ihn besorgt an. »Glauben Sie, dass das der Grund . . .«

»Nein, auf keinen Fall«, sagte Jensen beruhigend. »Gab es sonst noch etwas, das seltsam oder anders war?«

In Marias Augen tanzten wieder kleine Flammen.

»Nichts.«

Jensen war ein bisschen enttäuscht. Er hatte gehofft, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, etwas, das zumindest ein bisschen Licht auf diesen unerwarteten Herzstillstand werfen konnte. Er wandte sich an Berit, die gerade ihre Brille putzte.

»Können Sie erzählen, was passiert ist?«

Berit schob die Brille zur Stirn hoch und atmete tief ein.

»Wie gesagt, ich bin gegen drei Uhr aufgewacht und auf die Toilette gegangen. Mir war ein wenig übel, so dass ich bestimmt zwanzig Minuten da saß. Wir hatten ja Surströmming gegessen, wie Sie wissen . . .«

Jensen nickte.

»Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, fühlte sich irgendwas komisch an. Ich weiß nicht, was. Dann habe ich auf Maria gesehen, die im Bett neben meinem lag. Sie sah blass aus und die Stirn war ganz kalt. Ich habe dann die Lampe angeschaltet und bemerkt, dass sie nicht atmete.«

Berit legte eine Hand auf die Brust und machte die Augen weit auf.

»Ich habe Panik bekommen, habe nach ihrem Puls gefühlt, zehn Sekunden lang kein Schlag.«

»Wo haben Sie den Puls gefühlt?«

»Am Handgelenk«, sagte Berit und zeigte mit dem Finger die Stelle. »Dann habe ich 112 gewählt und mit der Herzmassage begonnen.«

Jensen sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Er legte seine Hand auf ihre Schulter.

»Das war sehr geistesgegenwärtig und sehr gut von Ihnen. Sie haben ihr wahrscheinlich das Leben gerettet.«

Auch Maria bekam jetzt feuchte Augen. Die beiden Schwestern umarmten einander schnell. Jensen blickte auf das Gekritzel in seinem Notizblock. Er sah ein, dass er des Rätsels Lösung dort wohl kaum finden würde. Die ganze Situation hatte etwas Absurdes. Aber Maria Backlund lebte, und das war die Hauptsache. Und vielleicht sollte er nicht mehr in diesem Fall herumwühlen, ihn auf sich beruhen lassen. Er beendete das Gespräch und verabschiedete sich von den beiden Schwestern.

Im Kaffeeraum war der größte Andrang vorüber. Jensen goss sich eine Tasse Kaffee ein, ließ sich auf ein Sofa fallen und sah sich die Morgennachrichten an. Während die Bilder auf dem Bildschirm vorbeiflimmerten, ging er diesen seltsamen Fall noch einmal durch. Es gab da etwas, aus dem er nicht schlau wurde. Konnte er wirklich alles beiseitelegen und weitermachen?

Er wurde immer unruhiger. Das Gespräch mit dem Bezirksarzt im Kaffeeraum kam ihm wieder ins Gedächtnis. Was hatte er eigentlich genau erzählt?

Plötzlich wusste Jensen, was er zu tun hatte. Er stand auf und ging ins nächste Arztzimmer. In einem ziemlich abgenutzten Ärzteverzeichnis fand er die Nummer von Doktor Nyström in Bergsåker und wählte. Eine muntere Männerstimme antwortete. Jensen stellte sich vor und erzählte kurz von Maria Backlund. Dann fragte er Nyström, ob er die Gerüchte kenne, die Jensen im Personalraum gehört hatte.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Nyström. »Die Nachtdienste der letzten Monate waren wirklich schrecklich. Wenn das so weitergeht, dann höre ich mit Extradiensten auf. Ich habe keine Nacht mehr als drei Stunden schlafen können.«

»Lag das daran, dass Sie zu ungewöhnlich vielen Todesfällen gerufen wurden?«

»Nicht nur. Es gab auch ein paar Krankenhauseinweisungen. Aber es gab deutlich mehr Todesfälle zu Hause als üblich. Zum Glück nur im Zentrum, so dass ich keine weiten Wege hatte.«

Jensen schwieg ein paar Sekunden und dachte darüber nach, was Nyström gesagt hatte.

»Was meinen Sie mit Zentrum?«

»Das Stadtzentrum. Es ist schon seltsam, aber bis auf einen Fall waren alle in der Altstadt. Es müssen insgesamt wohl sechs solcher Todesfälle während der letzten vier Dienste gewesen sein.«

»Wie alt waren die Leute?«

»Unterschiedlich. Die meisten natürlich schon älter, aber zwei gerade mal fünfzig.«

»Was waren die Todesursachen?«

»Plötzlicher Herztod in den drei Fällen, die obduziert wurden. Die anderen waren so alt und krank, dass ich von einer Obduktion abgesehen habe . . .«

Ein paar Sekunden lang war die Leitung still, bis Nyström fortfuhr.

»Es ist schon ein merkwürdiger Zufall. Sicher, die Patienten, die an plötzlichem Herztod gestorben sind, hatten laut Obduktionsbericht alle Arteriosklerose, und doch . . . Im Großen und Ganzen waren sie alle gesund, bevor sie starben.«

Jensen blätterte seinen Block um und machte sich weiter Notizen.

»Fällt Ihnen sonst noch etwas dazu ein?«, fragte er.

Nyström überlegte einen Moment lang.

»Eigentlich nicht. Das Anstrengende ist, sich um die Angehörigen zu kümmern. Wenn jemand relativ Junges stirbt, dann sind die Reaktionen oft heftig. Das ist manchmal wirklich ziemlich hart.«

Jensen bedankte sich und legte auf. Er blieb reglos auf dem Stuhl sitzen und starrte aus dem Fenster. In seinem Kopf drehte sich alles, und er war zu müde, um seine halbgaren Gedanken zu ordnen. Sein Kittel wurde ihm langsam zu warm und zu eng. Er würde jetzt zum Umkleideraum gehen und sich umziehen. Danach würde er nach Hause fahren und duschen.

Falls er es noch schaffte, gäbe es dann ein schnelles Mittagessen.

Wenn nicht, würde es direkt ins Bett gehen.

Herzversagen - Ein Schweden-Krimi

Подняться наверх