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Kapitel zehn

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Am 4. Juli um zehn Uhr vormittags hatte die Sonne das Lüftungssystem des Polizeireviers besiegt. Diejenigen, die noch nicht im Urlaub waren, ertrugen die Hitze, so gut sie konnten, und versuchten, so wenig wie möglich zu tun. Niemand hatte mehr den Nerv, das Wetter zu kommentieren.

Axberg hatte gerade beschlossen, selbst zum Empfang hinunterzugehen und Birgit Öberg abzuholen. Aus Erfahrung wusste er, dass Besucher sich oft auf dem Revier verliefen, was angesichts der Tatsache, dass der Grundriss aller Etagen identisch war, nicht verwunderte. Im Sommer gab es außerdem nur wenige Leute im Flur, die jemandem, der sich verirrt hatte, den Weg zeigen konnten.

Vor zwei Tagen war Axberg angerufen worden. Ihm war sofort klar, dass es sich bei dem Anruf um etwas handelte, um das er sich so schnell wie möglich kümmern musste. Bevor das nicht erledigt wäre, würde er keine Ruhe zum Arbeiten finden.

Birgit Öberg hatte darum gebeten, ihn so bald wie möglich treffen zu können. Sie müsse ihm etwas erzählen. Was, wollte sie am Telefon nicht sagen. Zunächst war Axberg verärgert gewesen, und normalerweise lehnte er solche Anfragen ab. Er konnte sich unmöglich mit allen Leuten treffen, die anriefen und behaupteten, sie hätten etwas Wichtiges zu melden. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass es sich dabei allzu oft um Leute handelte, die nur Bagatellen zu berichten hatten, oder um notorische Lügner, die sich irgendeine verrückte Geschichte ausgedacht hatten. Gerade als er auflegen wollte, erwähnte Birgit Öberg, dass Pfarrer Ekstedt ihr gesagt habe, sie solle anrufen. Da hatte Axberg gewusst, dass es sich nicht um ein Allerweitsgespräch handelte.

Der Pfarrer hatte sich weiterhin täglich bei Axberg und seinen Kollegen gemeldet, um ihnen klarzumachen, dass seine Mutter keines natürlichen Todes gestorben wäre. Allerdings konnte er nicht genauer erklären, warum er so sicher war, dass jemand im Haus gewesen war. Außer einem eventuell gestohlenen Wecker hatten sich in diesem Fall keine neuen Beweise ergeben. Niemand hatte diese Sache ernst genommen, stattdessen war es zu einem beliebten Witz auf dem Revier geworden, nach den letzten Neuigkeiten vom Pfarrer zu fragen.

Birgit Öberg saß auf einer Bank in der Eingangshalle und wartete. Trotz der Wärme trug sie einen grauen, knielangen Mantel und eine Cordhose, die über soliden Wanderschuhen Falten warf. Auf ihren Knien lag eine Handtasche, die sie die ganze Zeit mit beiden Händen festhielt. Axberg schätzte sie auf ungefähr fünfundfünfzig. Sie hatte freundliche, braune Augen und glatte Haut, was auch daran lag, dass sie ein paar Kilo Übergewicht hatte. Ihr Händedruck war fest und warm.

Sie gingen an dem Glaskasten vorbei, in dem Monika Roos saß und alle begutachtete, die vorüberkamen. Mit dem Headset auf dem Kopf führte sie gerade ein lebhaftes Gespräch. Sie lachte und winkte Axberg zu, der nickte und sich bemühte, das Lächeln zu erwidern.

Im Flur vor Axbergs Zimmer stand Sven Hamrin gegen die Wand gelehnt und wartete. Axberg hatte ihn darum gebeten, bei dem Gespräch dabei zu sein, da er im Haus des Pfarrers gewesen war. Axberg bat sie hinein und hoffte, dass der Zigarettenrauch durchs Lüften verschwunden war.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Axberg und zeigte auf den Besucherstuhl.

Birgit Öberg setzte sich und behielt den Mantel an. Hamrin stellte sich wie ein tragender Pfeiler an die Wand links neben Axberg.

»Sie wollten mir etwas erzählen?«, begann Axberg.

»Ja, und ich bin dankbar, dass ich kommen durfte.«

Birgit Öberg umfasste den Griff der Handtasche, als müsse sie Kraft zum Sprechen tanken.

»Mein Mann ist vor einem Monat ganz plötzlich gestorben. Es war ein großer Schock für mich.«

Axberg nickte mitfühlend.

»Es kam alles so unerwartet. Kent war nicht krank und fühlte sich auch nicht irgendwie unwohl. Als wir abends zu Bett gingen, war alles genau wie immer. Und als ich morgens aufwachte, war er . . .«

Sie schaffte es nicht, das letzte Wort auszusprechen. Stattdessen öffnete sie ihre Tasche und nahm ein Taschentuch heraus. Durch das leicht geöffnete Fenster drangen die Geräusche des Sommers. Vogelgezwitscher, ein Moped, das unten auf der Straße vorbeifuhr, ein Kind, das schrie.

»Die Beerdigung war letzte Woche«, fuhr die Witwe nach einer Weile fort.

Axberg sah, wie sie mit den Daumen immer wieder über das Taschentuch fuhr.

»Ich verstehe, dass das schwer für Sie ist«, sagte er. »Wie können wir Ihnen helfen?«

»Das weiß ich nicht. Ich fange vorne an. Ich habe etwas erlebt, das mir keine Ruhe lässt.«

»Vielleicht hilft es, wenn Sie davon erzählen«, sagte Hamrin und schlug seine Beine übereinander, während er weiter an der Wand lehnte.

Axberg hatte Hamrin vor dem Treffen gesagt, er solle sich zurückhalten und nur zuhören. Birgit Öberg sah Hamrin schüchtern an und wandte sich dann wieder an Axberg.

»Es ist alles so seltsam. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. In der Nacht, in der Kent starb, schien es, als sei jemand im Zimmer.«

Axberg holte seinen Notizblock aus der Schreibtischschublade. Er merkte instinktiv, dass das hier ungeahnte Ausmaße annahm.

»Wie meinen Sie das?«

Birgit Öberg sah ihn bittend an.

»Sie müssen mir versprechen, dass Sie mich nicht für verrückt halten.«

»Keine Sorge«, rief Hamrin aus.

Axberg sah ihn mahnend an.

»Es war, als wäre ein Schatten im Zimmer«, begann sie erneut. »Irgendwann mitten in der Nacht wachte ich auf, nicht so, dass ich ganz wach war, aber doch etwas.«

Sie nahm erneut Anlauf, bevor sie fortfuhr.

»Je mehr ich darüber nachdenke, umso überzeugter bin ich, dass ein schwarzer Schatten sich über Kent beugte.«

Sie sah von Axberg zu Hamrin, um deren Reaktion einzuschätzen.

»Ich weiß, dass das merkwürdig klingt, aber es ist wahr«, fügte sie dann bestimmt hinzu.

Hamrin versuchte, seine Hände in die vorderen Taschen seiner Jeans zu stecken. Doch nur seine Fingerspitzen fanden Platz, während die Knöchel über der Taschenkante weiß wurden.

»Warum kommen Sie damit erst jetzt zu uns?«, fragte er.

»Zuerst habe ich versucht, es als Traum oder Einbildung abzutun. Ich wollte niemandem zur Last fallen. Aber dieses Hirngespinst will einfach nicht verschwinden, es quält mich seitdem ständig.«

Sie fing an, ihr Taschentuch methodisch Kante auf Kante zu falten.

»Dann habe ich nach der Beerdigung mit Pfarrer Ekstedt gesprochen. Ich habe ihm dasselbe erzählt wie Ihnen.«

»Was hat der Pfarrer dazu gesagt?«, fragte Axberg.

»Dass er ein ähnliches Erlebnis hatte.«

Hamrin seufzte und zog die Hände aus den Taschen.

»Fahren Sie fort«, bat Axberg.

»Seine alte Mutter ist vor kurzem gestorben. Er hat auch erzählt, dass jemand in der Nacht, in der sie starb, im Pfarrhaus gewesen sei . . .«

Hamrin wollte etwas einwerfen. Axberg hob abwehrend eine Hand.

»Was hat er sonst noch gesagt?«

Birgit Öberg sah verlegen aus, zögerte.

»Dass die Polizei ihre Arbeit nicht erledigt.«

Hamrin verzog das Gesicht, ging quer durchs Zimmer und stellte sich an die gegenüberliegende Wand.

Axberg dachte nach, bevor er fortfuhr.

»Diesen Schatten, den Sie gesehen haben, können Sie den genauer beschreiben?«

Birgit Öberg machte eine Handbewegung.

»Er war einfach da, er stand an Kents Seite vom Bett. Ohne sich zu bewegen.«

»Können Sie etwas präziser werden? Sah es wie ein Mensch aus oder war es eine Art Geist, der schwebte?«

Birgit Öberg sah Axberg traurig an. Er begriff, dass er eine Grenze überschritten hatte.

»Es tut mir leid, falls ich übertreibe, aber ich versuche zu verstehen, was Sie erlebt haben.«

»Ich kann es nicht besser beschreiben, das Bild ist in meiner Erinnerung nicht ganz klar.«

Axberg änderte die Herangehensweise.

»Als Sie morgens aufwachten, gab es da irgendein Anzeichen dafür, dass jemand im Haus gewesen war?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, außer einem starken Gefühl des Unbehagens. Aber alles war so chaotisch.«

»Ich verstehe«, sagte Axberg und wischte sich Schweiß aus dem Nacken. »Und es fehlte nichts?«

»Nicht dass ich es bemerkt hätte. Aber ich habe seitdem nicht mehr zu Hause geschlafen. Ich wohne im Augenblick bei meinem Sohn.«

Axberg betrachtete die Frau, die ihm am Schreibtisch gegenübersaß. Worum ging es hier eigentlich? Um die versteckte Kamera?

»Gibt es noch etwas, das nicht so ist, wie es sein sollte?«, sagte er versuchsweise.

»Ich finde, dass das schon reicht«, unterbrach sie ihn.

Axberg sah ein, dass er seine Worte besser wählen musste.

»Weiß man, woran Kent gestorben ist?«

Die Antwort kam unerwartet schnell.

»Ja. Er wurde obduziert.«

Sie knipste die Handtasche wieder auf und holte ein Blatt Papier heraus, das sie Axberg gab.

»Hier ist eine Kopie des Berichtes.«

Axberg sah sich den Text an und fasste zusammen:

»Hier steht, dass er an plötzlichem Herztod verstorben ist, eventuell einem kleinen Herzinfarkt. Nichts deutet darauf hin, dass ein Verbrechen verübt wurde.«

Axberg sah Birgit Öberg in die Augen, ohne ihre Gedanken erahnen zu können. Hamrin machte einen Schritt ins Zimmer hinein und schaltete sich in das Gespräch ein.

»Ich kann Ihnen sagen, dass ich persönlich draußen beim Pfarrer war, nachdem seine Mutter gestorben war. Wir haben nicht das kleinste Anzeichen dafür gefunden, dass jemand im Haus gewesen ist.«

Hamrin lehnte sich mit den Händen auf den Schreibtisch und schaute Birgit Öberg in die Augen.

»Ich finde, Sie sollten jetzt nach Hause gehen und alles vergessen.«

Sie warf Axberg einen flehenden Blick zu. Er hielt ihm schweigend stand und signalisierte ihr so, dass er Hamrins Meinung war. Auch wenn er sich etwas diplomatischer ausgedrückt hätte. Manchmal war Hamrins direkte Art gut, aber genauso oft war sie einfach nur unpassend.

»Wir werden über das, was Sie uns erzählt haben, nachdenken«, sagte Axberg abschließend. »Wir nehmen Ihre Sorgen ernst. Aber Sie werden verstehen, dass es schwer für uns ist, etwas zu unternehmen, wenn wir nicht mehr haben, mit dem wir arbeiten können.«

Das Gespräch war vorbei. Axberg begleitete Birgit Öberg bis zum Empfang. Er sah ihr lange nach, nachdem sie durch die Glastüren gegangen war. Er hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Zwei Menschen, die innerhalb weniger Wochen den Verdacht hatten, dass ihre Angehörigen keines natürlichen Todes gestorben waren. Konnte das Zufall sein?

Axberg beschloss, Pfarrer Ekstedt heute noch anzurufen. Wenn aus keinem anderen Grund, dann, um ihn zu fragen, was er damit meinte, die Polizei erledige ihre Arbeit nicht.

Hamrin wartete in seinem Büro.

»Was denkst du?«, fragte Axberg.

»Dass der Pfarrer einen an der Waffel hat.«

Axberg nickte.

»Glaube ich auch. Ich werde ihn später mal anrufen und nachfragen, was los ist. Hast du noch was hinzuzufügen, außer dem, was schon im Bericht steht?«

Hamrin sah ihn verwundert an.

»Nein, was sollte das denn sein?«

Axberg zuckte mit den Schultern.

»Irgendein Detail, etwas, das man besser wissen sollte . . .«

»Alles, was wert war, notiert zu werden, steht da«, antwortete Hamrin. »Was bedeutet, überhaupt gar nichts. Kann ich wieder zu meinem Kram zurück?«

»Klar.«

Axberg sah auf die Uhr. Halb zwölf. Er beschloss, einen Anruf zu erledigen, bevor er zum Mittagessen nach Hause fuhr. Nach ein paar Minuten in der Warteschleife hörte er Doktor Conrads wohl bekannte Mischung aus einem amerikanischen Akzent und Västerbottener Dialekt am anderen Ende der Leitung.

Jeff Conrad war ein weißhaariger, großer und schmaler Mann Mitte fünfzig. Ursprünglich kam er aus Los Angeles, wo er über fünfundzwanzig Jahre in einer international anerkannten Pathologieabteilung gearbeitet hatte. Jetzt war er über den Atlantik gezogen, um eine zwanzig Jahre jüngere Doktorandin zu heiraten. Das lag zu einem großen Teil daran, dass ihm neun Monate nach einem Pathologiekongress in Stockholm am Telefon eine nicht ganz geplante Tochter vorgestellt worden war.

Die Tochter war inzwischen fast drei Jahre alt, und genauso lang war Jeff Conrad nun Leiter des rechtsmedizinischen Instituts in Umeå. Er war ein erfahrener Pathologe, der daran gewöhnt war, viel brutalere Morde zu begutachten, als in seiner neuen Heimat üblicherweise vorkamen. Axberg kannte ihn trotz der relativ kurzen Bekanntschaft bereits ziemlich gut.

»Hallo Johan. Wie geht’s?«

Conrad sprach ihn in jedem zweiten Satz mit Namen an, eine Angewohnheit, mit der Axberg sich immer noch nicht ganz wohl fühlte.

»Gut, danke. Die Hitze könnte aber langsam mal nachlassen.«

»Beschwer dich nicht, Johan. Ich finde, dass es hier oben kalt ist. Zweiundzwanzig Grad im Schatten, aber man gewöhnt sich wohl daran.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Je älter man wird, umso stärker friert man.«

Conrad lachte sein heiseres Lachen.

»Wenn das das einzige Problem im Alter wäre, sollte man eigentlich froh sein. Aber du rufst bestimmt nicht an, um über das Wetter und das Alter zu reden?«

»Nein. Ich hänge hier bei einer Sache fest . . . Wahrscheinlich steckt gar nichts dahinter, aber ich hätte trotzdem gern deine Meinung gehört.«

Axberg erzählte ausführlich, was er über Gerd Ekstedt und Birgit Öbergs Mann wusste. Er erwähnte sogar, dass Pfarrer Ekstedt ständig Druck ausübte. Jeff Conrad lauschte aufmerksam, warf nur ab und zu ein »Ja« oder »Ja, ja« ein.

»Hast du den Verdacht, dass hinter den Todesfällen ein Verbrechen steckt?«, fragte Conrad schließlich.

»Nein, eigentlich nicht. Aber ich möchte trotzdem überprüfen, ob im Fall Gerd Ekstedt etwas unklar ist, bevor ich mit ihrem Sohn spreche.«

Conrad kicherte.

»Ich kann dir sagen, Johan, dass Frau Ekstedt, die ich selbst obduziert habe, eines völlig natürlichen Todes gestorben ist. Das Herz hat es einfach nicht mehr geschafft. Sie kannst du abhaken. Was den anderen Mann angeht, kann ich nicht mehr sagen, als dass es ziemlich seltsam klingt.«

Conrads Kommentar beruhigte Axberg. Natürlich war alles nur Einbildung.

Um fünf vor zwölf verließ er das Polizeirevier. Sofort brannte die Sonne auf sein schwarzes T-Shirt und seine Jeans. Die Poren waren weit geöffnet, er war schweißgebadet. Die Tische und Stühle vor den Restaurants waren voller Mittagsgäste. Auf den Straßen lag eine dünne Staubschicht. Das Handy klingelte. Axberg musste mit der Hand das Display von der Sonne abschirmen, um die Buchstaben lesen zu können.

Carolina.

Axberg antwortete nicht, und als die Melodie aufhörte, schaltete er das Handy aus. Er hatte versprochen, nach der Arbeit mit ihr zu Ikea zu fahren. Jetzt bereute er sein Versprechen. Er wusste nur noch nicht, ob er es mit einer Notlüge oder mit der Wahrheit versuchen sollte. Das Zusammensein war in letzter Zeit viel zu intensiv geworden, und es fiel ihm schwer, ein echtes Gleichgewicht zu finden. Entweder war er voll und ganz dabei, oder er zog sich völlig zurück. War verschlossen wie eine Auster. Wenn es um Carolina ging, konnte er keine Kompromisse eingehen. Sie war wie ein Gift, eine angenehme Droge, von der er nicht genug bekommen konnte. Bis er sich plötzlich selbst verlor und sich mit einem Katapult wegschoss. Ikea war die Grenze. Damit käme er nie klar.

Jetzt würde er nach Hause gehen und duschen, danach gab’s einen Teller Dickmilch mit Knäckebrotstücken.

Dann würde er Carolina anrufen. Vielleicht.

Herzversagen - Ein Schweden-Krimi

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