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Kapitel zwei
ОглавлениеIm ersten Jahr des neuen Jahrtausends kam der Frühling Ende Mai nach Sundsvall.
Er kam ein wenig zögernd, wie ein schüchterner Gast. Zum ersten Mal seit Ende August wärmten die Sonnenstrahlen, und aus den Bäumen, die mitten im Stadtzentrum angepflanzt waren, hörte man Vogelgezwitscher. Kriminalkommissar Johan Axberg trug seine schwarze Lederjacke über der Schulter und ging im Menschengewimmel in westlicher Richtung zum Polizeirevier. Das Licht blendete ihn, und der Kopf tat ihm weh. Die Ausschweifungen am Samstagabend hatten deutliche Spuren hinterlassen. Er kannte nicht einmal den Namen der Frau, mit der er die Nacht verbracht hatte. Wieder einmal hatte die Sehnsucht eines Augenblicks Konsequenzen gehabt, die er am nächsten Tag bereute. Ein Liebesspiel mit der Betonung auf Spiel. Er hatte das Gefühl, ein Wochenendabonnent einzelner Nummern von unterschiedlicher Qualität zu sein. Und als solcher musste man natürlich die Leere und die ewigen Fragen beim Aufwachen aushalten.
Er kämpfte sich mühsam im Zickzack voran und grüßte flüchtig die bekannten Gesichter, die an ihm vorbeihuschten. Als er aus dem Augenwinkel einen Kollegen aus der Technik näher kommen sah, starrte Axberg stur vor sich hin und ging vorbei. Das, was er sich im Moment am allerweningsten wünschte, waren allgemeine Höflichkeitsphrasen und Kommentare über das schöne Wetter.
Am Ende der Fußgängerzone war das Gedrängel vorbei. Die Menschen waren wie fortgeweht. Nur ein Mann mit einem Hund ging schnell auf der anderen Seite des Rondells vorbei, jenseits der Autos, die in einem konstanten Verkehrsstrom vorüberrauschten. Axberg lenkte seine Schritte in Richtung der Storgata.
Das Polizeirevier stand noch so da, wie er es verlassen hatte, stumm und braun, still und langweilig. Die Sonne spiegelte sich in der Fassade, ohne jedoch das Gebäude einladender erscheinen zu lassen. Axberg überquerte den Parkplatz hinter dem Gebäude und betrat es durch den Personaleingang. Auf dem Schreibtisch kämpften drei halb leergetrunkene Kaffeetassen gegen die Übermacht von Papierstapeln, Ordnern, einer Tasche mit Sportbekleidung und seinem Laptop um einen Platz. Er stellte die Tasche fort und die Tassen in den Personalraum, dann trank er lange direkt aus dem Wasserhahn, und das Kopfweh ließ ein wenig nach. Er warf einen Blick in den Wandspiegel. Die Bartstoppeln waren deutlich zu sehen, obwohl er sich erst gestern Abend vor dem Kneipenbesuch das letzte Mal rasiert hatte.
Er kehrte dem deprimierenden Anblick den Rücken zu und ging in sein Büro zurück. Jetzt lagen noch die schon Monate alte Ermittlung wegen Drogenhandels im Stadtzentrum und ein weiterer Fall von häuslicher Gewalt auf dem Schreibtisch. Axberg wünschte sich einen Augenblick lang, dass er auch diese Papierstapel wegräumen, sie jemand anderem auf den Schreibtisch legen und dann ganz von vorn anfangen könnte. Er zündete eine Zigarette an und stellte sich ans Fenster. Der Mann mit dem Hund ging an der Pizzeria auf der anderen Straßenseite vorbei und grüßte Nikos, der dort an einem seiner eigenen Tische saß und sich sonnte.
Nikos’ Pizzeria befand sich ganz unten in einem der fünf Hochhäuser auf der anderen Seite der Storgata. Das Essen dort war ausgezeichnet. Axberg hatte die Speisekarte schon mehrmals rauf- und runtergegessen, ohne ihrer überdrüssig zu werden.
Er ließ seinen Blick über die fünf schmutzig gelben Fassaden auf der gegenüberliegenden Straßenseite schweifen. Ohne diese Monumente einer misslungenen Architektur könnte ich bis zum Fluss und dem Park sehen, dachte er und blies eine Rauchwolke gegen die Fensterscheibe. Dadurch wurde die Sicht für ein paar Sekunden noch schlechter. Ich mauere mich hier in mein eigenes Gefängnis ein, grübelte er weiter. Ich isoliere mich von der Welt, konzentriere mich auf meine Arbeit.
Axberg hatte seit den Weihnachtsferien durchgearbeitet, oft an mehreren komplizierten Straftaten gleichzeitig. So war die Sonntagsarbeit zur Routine geworden, und sie gefiel ihm, durch die Stille im Haus konnte er sich besser konzentrieren und arbeitete effektiver. Dann bekam er oft neue Ideen und entdeckte Zusammenhänge, die die Ermittlungen weiterbrachten. Viele der großen Fälle waren aufgeklärt worden, seit er vor zwei Jahren die Stelle als Leiter der Kriminalpolizei dieses Regierungsbezirks angetreten hatte. Axberg war sowohl stolz als auch froh gewesen, dass man ihm diese Stellung angeboten hatte, besonders da er erst vierunddreißig Jahre alt war. Hätte er jedoch gewusst, wie viel Verwaltungs- und Personalarbeit dieser Posten mit sich brachte, hätte er wohl nicht so schnell zugesagt.
Im Flur näherten sich schnelle Schritte. Ein neu angestellter Polizeianwärter ging mit nachdenklicher Miene vorbei. Die Wochenendstreife hat jetzt, da es warm wird, alle Hände voll zu tun, dachte Axberg und setzte sich an seinen Schreibtisch. Daran zu denken, dass andere hart arbeiteten, machte ihm Lust darauf, sich seinen eigenen Aufgaben zu widmen. Er sah von einem Papierstapel zum anderen und fragte sich, mit welchem er beginnen sollte. Häusliche Gewalt untersuchte er eigentlich nicht sonderlich gern, aber da sie auch eines der Verbrechen war, die er am meisten verabscheute, las er den Bericht über Lars und Katarina Karlsson aus Timrå zum dritten Mal.
Die Buchstaben wuselten bald über das Papier wie Ameisen.
Axberg wachte auf, weil ihm die Stirn weh tat. Er war mit dem Kopf auf Seite vier des Vernehmungsprotokolls eingeschlafen und hatte nicht die leiseste Ahnung, was er gelesen hatte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er zwanzig Minuten geschlafen hatte. Das Blatt Papier vor ihm war während des Nickerchens zerknittert worden. Verschlafen ging er zum Kopierer und machte eine Kopie, um die zerknüllte Seite zu ersetzen. Axberg beschloss, seinem Körper eine Chance zu geben. Er nahm die Tasche mit den Sportsachen und ging in den Fitnessraum im Keller. Eine Stunde lang schlug er schweißnass auf den Sandsack ein, radelte auf dem Heimtrainer und mühte sich am Rudergerät. Danach duschte er lange und überlegte, dass sein Körper eigentlich ungewöhnlich widerstandsfähig war angesichts der ungesunden Lebensweise, die er sich während der letzten Jahre angewöhnt hatte. Und doch war seine Kondition weit von der entfernt, die er Ende der achtziger Jahre gehabt hatte, als er Bronze bei den Landesschwimmmeisterschaften gewann. Trotzdem war er beim jährlichen Sporttest der Polizei immer noch unter den Besten, weswegen er auch keinen triftigen Grund sah, seine Lebensweise zu ändern.
Als er durch den Flur in sein Büro zurückging, hörte er die schrille Melodie, die ihm schon lange nicht mehr gefiel; trotzdem brachte er es nicht über sich, sie zu ändern. Er beeilte sich, ins Zimmer zu kommen und holte das Handy aus der Jackentasche.
»Hallo, hier ist Carolina.«
Axberg spürte, wie ihn freudige Erwartung überkam.
»Hallo, lange her . . . Wie geht’s dir?«
»Gut. Und dir?«
»Alles klar. Ich bin bei der Arbeit und erledige ein bisschen Papierkram«, sagte er und fing an, um den Schreibtisch herumzugehen, suchte nach den richtigen Worten.
Carolina Lind war die Frau in Axbergs Leben. Nicht immer war sie wirklich körperlich anwesend, aber in ihren Gedanken waren sie einander immer nah. Seit sie sich in der zwölften Klasse zum ersten Mal ineinander verliebt hatten, waren sie immer wieder aufeinandergetroffen, wie zwei Planeten, die sich ab und zu die Umlaufbahn teilten. Zwei Mal hatten sie sogar ein paar Monate zusammengewohnt. Jetzt jedoch hatten sie sich seit sechs Wochen nicht mehr getroffen, nach einem Streit, dessen Einzelheiten Axberg vergessen hatte. Dennoch hatte er das Gefühl, im Unrecht gewesen zu sein, und war froh, dass sie nun anrief. Endlich.
»Ich dachte, vielleicht hast du ja Zeit für ein Treffen, wir könnten zusammen Kaffee trinken oder so«, fragte sie vorsichtig.
»Klar. Ich bekomme hier ja doch nichts erledigt.«
»In einer halben Stunde bei Tinells?«
»Perfekt.«
Axberg lächelte, die Arbeitslust war wie weggeblasen. Die Papiere werden am Montag auch noch da sein, dachte er und holte einen Rasierer aus der Schreibtischschublade. Als er sich nach der Rasur das Gesicht wusch, fühlte es sich so an, als verschwände der Kater zusammen mit dem Rasierschaum endgültig im Waschbecken.
Da draußen wartete der Frühling auf ihn.