Читать книгу Herzversagen - Ein Schweden-Krimi - Jonas Moström - Страница 17
Kapitel zwölf
ОглавлениеErik Jensen parkte seinen BMW in der Garage.
Er machte den Motor aus, ließ sich gegen die Rückenlehne sinken und schloss die Augen. Der Arbeitstag war ungewöhnlich anstrengend gewesen, mit zwei Stationen und einem ständig losgehenden Pieper. Er musste erst zur Ruhe kommen, seine Gedanken sammeln, bevor er zu seiner Familie hineinging. Routinemäßig ging er einige der Entscheidungen des Tages durch, um nach Fehlern zu suchen. Als er keine fand, öffnete er die Wagentür und schritt auf das Haus zu. Das gelbe Auge der Sonne brannte immer noch auf die Welt. Der Rasen bleichte an einigen Stellen aus. Jensen sagte sich, dass er abends den Rasensprenger anschalten musste.
Er drückte die Klinke der Haustür und beschloss, die Arbeit hinter sich zu lassen. Im Flur stieg ihm der wohl bekannte Geruch von in Olivenöl angebratenem Knoblauch und gegrilltem Huhn in die Nase. Die Müdigkeit verließ ihn langsam, ihm wurde innerlich warm.
»Hallo, ich bin zu Hause.«
Keine Antwort. Es war ganz still im Haus. Er ging in die Küche, wo das Essen auf dem Herd köchelte. Draußen, auf der Terrasse, war der Tisch gedeckt. Jensen wusste sofort, wo er seine Frauen finden würde. Still schlich er durch die Zimmer des Hauses, überall lagen Spielsachen und Kinderkleider in undefinierbaren Stapeln. Im Schlafzimmer empfing ihn eine lächelnde Sara, die auf einen Arm gestützt im Bett lag. Erika lag nah neben ihr, hatte beide Hände fest in die nackten Brüste ihrer Mutter gekrallt und bemerkte ihn gar nicht.
Jensen legte sich leise neben seine Tochter und hörte dem tiefen Schlucken zu, dem zufriedenen Schmatzen, das die kleinen Pausen während des Essens markierte. Er schloss die Augen und atmete im selben Rhythmus wie der warme Rücken. Gerade als er dabei war einzuschlafen, unterbrach Erika ihre Mahlzeit und wandte sich ihm mit einem Ruck zu, als hätte sie die ganze Zeit seine Nähe gespürt. Sie lächelte sofort breit, sah zur Deckenlampe und zeigte dorthin.
»Da! DA!«
Er hob sie zur Lampe hoch. Sie brabbelte begeistert, und die kleine Hand berührte den Stoffschirm.
»Hallo Ehemann«, sagte Sara und zog sich schnell an. »Wir haben dich vermisst.«
»Ich habe euch auch vermisst.«
»Es gibt Abendbrot. Wir können sofort essen.«
»Wunderbar.«
Sie gingen nach draußen auf die Terrasse. Erika wurde auf eine Decke in einen Berg von Spielzeug gelegt und ständig von mindestens zwei Augen beobachtet, die auf jede Bewegung achteten. Sara hatte eine Flasche Riojawein geöffnet. Sie wollte feiern, dass mehrere ihrer Ölgemälde bei einer internationalen Ausstellung in Italien angenommen worden waren. Sie aßen, tranken und malten sich die bevorstehende Vernissage aus. Wie immer erzählte Sara detailliert von Erikas Ess- und Schlafgewohnheiten. Jensen fühlte sich richtig glücklich, und es gelang ihm, sich an seinen Vorsatz zu halten, nicht an die Arbeit zu denken.
Nach dem Essen ließ er sich in einen der vor kurzem gekauften Sessel fallen, der immer noch unangenehm neu roch. Erika lag auf der Decke und kaute eifrig auf einer Stoffmaus, die nach und nach mit Spucke getränkt wurde. Sara schmiegte sich von hinten an ihren Mann und begann, seine Schultern zu massieren.
»Du musst bald gehen«, flüsterte sie.
»Ich weiß. Ist das in Ordnung?«
»Sicher. Ich bin so glücklich wegen Italien.«
»Wir fahren im Herbst hin.«
»Möchtest du das?«
»Ist der Sommer wunderbar?«
Sie lachte ihr perlendes Lachen und kniff ihn unter den Armen. Er zuckte zusammen, hob ihre offenen Haare an und küsste sie auf den Hals.
»Ich bin spätestens um elf Uhr wieder da. Bleib so lange wach.«
Axberg saß in der Kneipe und wartete. Er war direkt von der Arbeit aus hergekommen und war noch immer aufgeregt nach einem Treffen, bei dem der Polizeichef Ståhl mehrere Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb der Abteilung angekündigt hatte – eine hübsche Umschreibung für die geplanten Kürzungen. Wie sollten sie mit weniger Ressourcen auskommen, wenn sie bereits jetzt auf dem Zahnfleisch gingen?
Axberg versuchte, seine Wut bis morgen zu begraben und wandte sich dem Rennprogramm zu. Er bestellte ein großes Bier und überlegte, auf welches Pferd er dieses Mal setzen sollte. Als das Bier kam, merkte er, wie durstig er war. Sein Mund war wie Sandpapier. Das feuchte Glas war bis an den Rand mit goldgelbem Hopfensaft gefüllt, die Schaummenge war perfekt. Er nahm das Glas und trank, spürte, wie es an den Lippen und am Gaumen kitzelte. Dann floss das Getränk die Speiseröhre hinab, kühlte dabei jeden Winkel und landete schließlich mit einem weichen Überschlag im Bauch. Wohlbehagen floss durch seinen Körper. Er entspannte sich, die Schultern sanken herab, und alles wurde zum Hier und Jetzt. Im selben Augenblick kam Jensen, zwanzig Minuten zu spät.
»Ausgebucht wie immer?«, fragte Axberg sarkastisch.
»Du weißt ja, wie das ist. Alle wollen versorgt sein«, sagte Jensen und bestellte zwei Glas Wasser und ein Bier.
»Schade, dass draußen alles vollbesetzt war.«
»Hier drinnen ist es ruhiger«, sagte Axberg und zündete sich eine Zigarette an.
»Hast du schon den Geheimtipp der Woche entdeckt?«, fragte Jensen und deutete mit dem Kopf auf das Rennprogramm.
»Vielleicht. Spike Lee im vierten Rennen ist in Hochform; das letzte Mal hatte er Pech mit der Bahn, startet aber jetzt als Nummer sechs.«
Jensen sah nicht überzeugt aus.
»Eine unsichere Sache. Aber ich habe mich das letzte Mal blamiert, also bist du dieses Mal mit dem Auswählen dran.«
Axberg und Jensen kannten einander seit dem Gymnasium und trafen sich jeden Mittwoch, um einen Wettschein für die Läufe der Woche in Bergsåker auszufüllen. Früher waren sie oft zusammen auf die Trabrennbahn gegangen. In letzter Zeit war es allerdings immer seltener dazu gekommen, weil beide viel und unregelmäßig arbeiteten. Seit Erika auf die Welt gekommen war, waren sie erst ein Mal dort gewesen und hatten außerdem mehr als üblich verloren. Beide schoben es darauf, dass sie aus der Übung waren. Nachdem sie drei Rennen besprochen hatten, bestellten sie noch ein Bier. Axberg schob das Rennprogramm zur Seite.
»Denkpause«, sagte er und hob sein Glas. »Wie läuft’s bei der Arbeit?«
Jensen lächelte schief.
»Chaotisch. Ferien und Krankenstand passen nicht zusammen.«
»Sind die Leute im Sommer genauso oft krank?«
»Leider ja. Aber es sind andere Sachen, viele merkwürdige Krankheiten.«
Jensen dachte wieder an Maria Backlund. Der Fall hatte ihm keine Ruhe gelassen seit dem Tag, an dem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Er hatte das Bedürfnis, davon zu erzählen. Wenn er ihren Namen nicht nannte, verletzte er auch nicht die ärztliche Schweigepflicht.
»Vor knapp zwei Wochen hatte ich einen seltsamen Fall, eine junge Frau wurde mit Herzstillstand eingeliefert. Ansonsten vollkommen gesund. Sie hatte im Schlaf einfach aufgehört zu atmen. Zufällig war ihre Schwester zu Besuch und merkte es.«
Jensen machte eine Pause.
»Die Schwester hat mit einer Herzmassage begonnen und den Krankenwagen gerufen. Als die Patientin eingeliefert wurde, habe ich sie zum Glück zurückholen können. Sie ist aufgewacht, und hinterher war es, als wäre nichts passiert.«
Axberg hörte fasziniert zu.
»Wir haben keine Erklärung für den Vorfall finden können«, fuhr Jensen fort. »Die Patientin ist völlig gesund, und es geht ihr ausgezeichnet. Ich habe erst gestern noch mit ihr telefoniert.«
Jensen machte mit den Händen eine fragende Geste.
»Man sollte wohl seine Lebensversicherung aufstocken«, sagte Axberg und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
Jensen wägte kurz ab, bevor er fortfuhr. Das Bier und der Wein machten ihn gesprächig. Er sah sich um, das Lokal war so gut wie leer.
»Außerdem hat es in letzter Zeit ungewöhnlich viele Todesfälle im Stadtzentrum gegeben. Menschen, die bis dahin gesund waren, sind ohne offensichtlichen Grund im Schlaf gestorben. In den Fällen, in denen eine Obduktion gemacht wurde, zeigte sich, dass die Todesursache plötzlicher Herztod war.«
Axberg sah ihn fragend an.
»Worauf willst du hinaus?«
»Mir kam der Gedanke, dass es da vielleicht eine Verbindung gibt«, sagte Jensen. »Dass es eben doch kein Zufall war, dass meine Patientin einen Herzstillstand hatte, dass es einen Grund dafür gibt . . .«
Axberg drehte das Bierglas in seiner Hand und sah, wie der Schaum an den Rändern hängen blieb.
»Was sollte das sein?«
»Irgendeine Art von Infektion, ein bisher unbekannter Virus, der den Herzmuskel angreift und das Reizleitungssystem ausschaltet . . . Es könnte sich um eine neue Krankheit handeln, die typisch für den Norden ist, wie das Puumalavirus oder das Sindbisvirus.«
Axberg lächelte.
»Du hast schon immer eine blühende Fantasie gehabt.«
»Ein Forscher muss viel Fantasie haben. Die größten Entdeckungen entstanden immer aus dem Unwahrscheinlichen.«
Axberg versuchte, eine Parallele zur Polizeiarbeit zu ziehen, schaffte es aber nicht.
»Wo hast du das über diese Todesfälle gehört?«, fragte er stattdessen.
Jensen machte eine vage Kopfbewegung.
»Das Krankenhaus ist klein, Gerüchte verbreiten sich schnell. Außerdem habe ich die Krankenblätter von drei verstorbenen Patienten gesehen.«
Axberg ahnte, dass nun eine lange medizinische Erläuterung folgen würde, deswegen schlug er das Rennprogramm wieder auf. Jensen bemerkte es nicht, sondern fuhr fort:
»Wie du weißt, bin ich bald mit meiner Doktorarbeit fertig und brauche eine Idee für eine neue Arbeit.«
Axberg nickte müde.
»Die Idee ist, alle Fakten über die unklaren Todesfälle hier in der Stadt zu sammeln und eine Studie zu machen«, fuhr Jensen fort. »Wenn ich Glück habe, kann daraus etwas werden.«
»Letzteres brauchen wir auch«, sagte Axberg. »Was hältst du von Zorro im vierten Rennen?«
»Keine Chance. Er ist drei Mal hintereinander galoppiert.«
Jensen fuhr mit der Hand durch seine hellen Locken.
»Gib zu, dass es spannend ist. Das wäre doch was. Einer Krankheit den eigenen Namen zu verleihen . . .«
Axberg dachte an Pfarrer Ekstedt und Birgit Öberg. Zum ersten Mal seit ein paar Tagen erinnerte er sich an deren Erzählungen. Ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens breitete sich in seiner Brust aus. Schon wieder diese merkwürdigen Todesfälle.
»Ist in irgendeinem der Fälle die Polizei eingeschaltet worden?«, fragte er.
Jensen zuckte mit den Schultern.
»Nicht dass ich wüsste. Es gab ja eigentlich gar keinen Verdacht auf irgendwas. Die Menschen haben einfach leblos und ganz friedlich in ihren Betten gelegen.«
»Keine Angehörigen, die den Eindruck haben, dass irgendetwas nicht in Ordnung war?«
»Nein, ich glaube nicht, aber ich kenne keine Einzelheiten.«
Axberg schob den Gedanken beiseite, dass es eine Verbindung zu den Todesfällen geben könnte, mit denen er konfrontiert worden war. Er und seine Kollegen hatten bereits genug mit den Verbrechen zu tun, die tatsächlich begangen wurden. Es war unmöglich, allen diffusen Gerüchten nachzugehen, die in der Stadt verbreitet wurden. Axberg zündete eine Zigarette an und ließ die Grübelei hinter sich. Jensen ging sich die Nase pudern. Die Kneipe füllte sich langsam mit Leuten, der Geräuschpegel stieg. Axberg schaute sich um.
An der Theke sah er eine Frau, die zusammen mit zwei Freundinnen Wein trank. Ihre Schönheit nahm Axberg sofort gefangen. Das Gesicht war ungeschminkt, strahlte aber nur so vor Gesundheit und Lebensfreude. Die Augen kastanienbraun, die Lippen himbeerrot. Sie trug ein dünnes Hemd, das auf ihrer sonnengebräunten Haut strahlend weiß leuchtete. Sie lächelte kurz, als sie Blickkontakt hatten. Das Lächeln traf Axberg direkt ins Herz und in die Augen und in die Knie. Mit einer weichen Bewegung ihrer ringlosen linken Hand strich sie ihre blonden Haare hinter das Ohr. Axberg spürte den Impuls, etwas zu unternehmen. Aber er wollte sich nicht wieder verlieben. Außerdem war die Situation zwischen ihm und Carolina ziemlich kompliziert. Er wusste nicht, was er mit seinem Leben tun wollte, fühlte sich eingesperrt, und das war nicht gut. Es schadet ja nichts hinzusehen, dachte er im selben Moment, als Jensen mit zwei neuen Bieren an den Tisch zurückkam.
»Wie geht’s der Tochter?«, hörte Axberg sich selbst fragen.
»Ausgezeichnet. Du musst irgendwann mal zu Besuch kommen.«
Wieder ein Blick von der Frau an der Theke. Halte das Gespräch am Laufen, dachte Axberg.
»Seid ihr mit euren Umzugsplänen weitergekommen?«
Jensen lächelte.
»Meine Pläne, meinst du? Nein, Sara weigert sich, Sundsvall zu verlassen. Aber es ist noch nichts abgemacht. Ich habe mich am Karolinska auf ein paar Stellen beworben und warte auf Antwort. Danach sehen wir mal.«
Axberg sah, wie die Frau an der Theke sich vorlehnte und etwas bestellte. Das Hemd rutschte hinten etwas hoch und ließ eine spinnenartige Tätowierung unten am Rücken sehen. Die Ouvertüre von Wilhelm Tell erklang durch das Gemurmel der Kneipe. Jensen holte das Handy hervor und antwortete. Das Gespräch war kurz und einsilbig.
»Ich muss los«, seufzte er. »Die Kleine schläft nicht ein. Gibst du den Zettel ab?«
Mit einer Verabredung für nächste Woche am selben Ort ging Jensen. Axberg beschloss, noch zu bleiben. Auf einem Großbildfernseher hinten im Lokal lief ein Fußballspiel und eine Gruppe Männer im mittleren Alter saß dort und schrie ihre Reaktionen immer lauter heraus.
Axberg dachte an das, was Jensen erzählt hatte. Er dachte an Carolina, die heute Abend bei ihren Eltern zum Abendessen war. Er konnte ihre ausweichende Antwort hören, als die Mutter fragte, warum er nicht mitgekommen war. Die Unruhe in ihm wurde wieder stärker, die Fragen drängten von allen Seiten auf ihn ein. Hatte er etwas übersehen, als er das Pfarrhaus besucht hatte? Gab es da etwas, das ihm entging? War der Schatten, den Birgit Öberg gesehen hatte, doch keine Einbildung? Wie ging es mit ihm und Carolina in der Zukunft weiter? Sollte er ein Familienvater werden wie Jensen? Würde er das überhaupt schaffen?
Seine Grübelei wurde dadurch unterbrochen, dass zwei der drei Frauen an der Theke von den Barhockern stiegen, ihre Handtaschen über die Schulter hingen und sich umarmten. Axberg sah sofort seine Chance. Die Blonde saß noch da. Sie drehte ihr Weinglas, machte keine Anstalten zu gehen und warf ihm interessierte Blicke zu. Axberg wusste, dass er in eine andere Richtung schauen, am besten das Lokal verlassen sollte. Aber es war zu spät, die Falle war bereits zugeschnappt.
Hinterher erinnerte er sich daran, wie lustig es gewesen war, an ihren Duft und ihr warmes Lachen. Ihre Berührung und wie er sich mit ihrem Gewicht auf sich ganz real fühlte.
Die Festigkeit, die Befreiung, die Freiheit.
Er nahm sich vor, das im Gedächtnis zu behalten, als er in ihrem Bett aufwachte, weil ihm die Sonne in die Augen schien. Er zog sich schnell an, trank in der Küche zwei Glas Wasser, schrieb einen Zettel ohne seine Telefonnummer und ging. Ein Wecker zeigte halb neun.
Draußen auf der Straße war viel los, als sei nichts passiert. Und das war es auch nicht, beschloss er. Der Gedanke war kaum gedacht, als ihn die Angst überkam.
Was das Schlimmste war, wusste er nicht.
Der Kater, die Angst davor, was Carolina sagen würde, oder das, was Jensen über die merkwürdigen Todesfälle erzählt hatte.