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Kindergräber

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Das »Schengener Kindchen«

Wer die Gräberzeilen eines Friedhofs durchwandert und die Lebensdaten der Epitaphen auch nur flüchtig liest, kann etwas von der Häufigkeit und der Tiefe dieser Familientragödien ahnen. Die Denkmäler sind meist anders, ausdrucksreicher, pathetischer als das schlichte Kreuz oder die glatte Marmorplatte. Sie tragen oft Abbildungen der Begrabenen oder allegorische Szenen, in denen die Engelsflügel ein übliches Attribut sind. Vielfach scheinen sie dem »Andenken eines Engels« gewidmet. Kindergräber werden mit größerer Sorgfalt und Innigkeit gepflegt, niemand besucht häufiger ein Grab als »verwaiste« Eltern. Solange sie leben oder ihre Füße sie tragen, sind sie ängstlich bemüht, um zu verhindern, dass »schon ernstes Moos« die »frühen Gräber« bewächst, wie Klopstock so empfindsam klagt.

In früheren Zeiten wurden die Kinder auch mancherorts an privilegierter Stelle beigesetzt, in geschlossenen oder geweihten Räumen. Unerträglich war für die Eltern die Vorstellung, dass der wehrlose Leichnam ihres Kindes »bösen Geistern« ausgeliefert oder einfach den Unbilden der Jahreszeiten ausgesetzt sei. Die Nähe des Altars und der Heiligenreliquien schenkte Schutz und Geborgenheit. Ein aufschlussreiches Beispiel unter zahlreichen anderen liefert das kleine luxemburgische Moseldorf Schengen, das durch den Vertrag über die Abschaffung der europäischen Grenzkontrollen 1985 zu unverhoffter Berühmtheit gelangte. Während der napoleonischen Zeit rügte der Geistliche in einer Klageschrift den »ordnungswidrigen« Brauch der Schengener, alle Kinder in der Kirche zu begraben, obwohl der Friedhof sich unmittelbar neben der Kirche befand – »… contre le bon ordre tous les enfants furent enterrés dans l’interieur de l’église.« – Der Präfekt des Departements Lacoste verhängte daraufhin ein strenges Verbot, und die Schengener mussten sich fügen, zähneknirschend. Kurze Zeit darauf erwirkten sie die Versetzung des missliebigen Geistlichen. Erhalten geblieben ist ein bedeutsamer Kindergrabstein aus dem Jahr 1616. Die sehr früh verstorbene Anna-Appolonia von Hous wird als kraushaariges Wickelkind dargestellt, umgeben von Familienwappen und geflügelten Engelsköpfen. Seit vielen Generationen umspinnt eine fromme Sage das »Schengener Kindchen«: Sofort nach seiner Geburt habe das Kind sprechen können, es habe seine Eltern angefleht, unverzüglich getauft zu werden und sei bald darauf »in Gott verschieden«.

Heute belegen auf manchen Friedhöfen die Frühverstorbenen eigene Grabfelder. Buntes Spielzeug erinnert an das harmlose Dasein der Kinder, die um das reife Leben betrogen worden sind. Dennoch, in den meisten Fällen künden nur die nackten Zahlen und Lettern der Epitaphen von den außergewöhnlichen Schicksalsschlägen. Sie überlassen es der Vorstellungskraft des Besuchers, sich das unsichtbare und unbekannte Schicksal der Betroffenen, der Toten wie der Trauernden, auszumalen.

Wie ein schöpferischer Mensch von einem Kinderfriedhof berührt und inspiriert werden kann, das bezeugt der französische Komponist Jérémie Rhorer (*1973), der 2005/2008 das Klavier- und Orchester-Werk »Le Cimetière des enfants« (»Der Kinderfriedhof«) geschrieben hat: »Die Idee zum ›Kinderfriedhof‹ ist mir in Venedig am Allerheiligenfest gekommen. Ich begab mich auf die Isola San Michele, auf den Insel-Friedhof, wo Igor Strawinsky ruht. Bei der Rückkehr verirrte ich mich in jenen Teil, der den Kindern gewidmet ist. Ihre Fotos, die auf den Gräbern erstarrt sind, haben mich erschüttert, und ich habe mir die Geschichte dieser geopferten Kinder ausgemalt, ihre Träume, ihre Augen, und ihren vergeblichen wie tragischen Kampf gegen das Schicksal.« (September 2005)

Requiem für ein Kind

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