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Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und sterben. Hugo von Hofmannsthal

Dass wir alle sterben werden, dass unsere Existenz also nur ein »Da-Sein zum Tode« (Heidegger) ist, das ist die einzige Gewissheit, die das Leben uns beschert. Diese banale Wahrheit wird tagtäglich so tausendfach bestätigt, dass wir ihr kaum noch Beachtung schenken oder sie aber mit allen Mitteln aus unserem Bewusstsein zu verdrängen suchen. Dabei sterben bei weitem nicht alle wie in Deutschland im statistischen Durchschnittsalter von 78,9 Jahren für den Mann und 83,6 Jahren für die Frau (Statistisches Bundesamt, 2020). In Afrika und Asien wird wesentlich jünger gestorben.

Ein alter Spruch besagt, dass jeder Mensch, sobald er geboren ist, schon alt genug zum Sterben ist. Aber der frühzeitige Tod – »mors immatura«, »der unreife Tod«, wie die Römer sagten – wurde immer als besonders schmerzlich empfunden. Indem er die natürliche Ordnung umkehrt, zwingt er die Eltern, ihre eigenen Kinder zu begraben. Nichts ist tragischer als die Unterbrechung der Generationenkette, das Auslöschen der Zukunftsperspektiven.

Dank besserer Gesundheitssysteme, Impfungen, besserer Ernährung und Trinkwasserversorgung geht die weltweite Kindersterblichkeit glücklicherweise konsequent zurück. Laut einer aktuellen Schätzung der Vereinten Nationen (UNICEF, WHO) hat sie sich in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert, d.h. von 12,5 Millionen Kindern unter fünf Jahren (1990) auf 5,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren (2019). Immerhin sterben weltweit täglich noch rund 14.000 Kinder in dieser Altersstufe. Hinter dieser Zahl von Verlusten verbirgt sich ein unvorstellbarer Abgrund menschlicher Tragödien, den der UNICEF-Bericht von 2001 treffend zum Ausdruck gebracht hat: »The true scale of the children injury tragedy should be gauged by its depth and its breadth – by asking not only how many families are affected but also how severely. And in this case the multiplier – the depth of grief and anguish involved in the death of a child – is beyond all measuring.« Der Schmerz über den Verlust eines Kindes übersteigt jegliches Maß.

»Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und sterben« – der unfassbar heimliche Übergang vom ahnungslosen Wachstum zum jähen Sterben kann nicht prägnanter zum Ausdruck kommen als in den bekannten Versen Hugo von Hofmannsthals. Unwissenheit und Unschuld sind die Eigenschaften, die man den Kindern in den meisten Kulturkreisen seit jeher zuschreibt. Sie haben sich nicht gegen göttliche oder menschliche Gesetze verfehlt oder »versündigt« und kehren makellos zum Ursprung zurück. Für die Kindergräber hat die Antike den schönen Spruch gefunden: »Die Erde sei dir leicht!«, da auch die Frühverstorbenen die Erde nicht belastet haben, weder durch ihr Gewicht noch durch ihre Taten.


Niobe beweint ihre Kinder.

Für die überlebenden Eltern indes bricht eine Welt zusammen. Der Mythos der Niobe illustriert es greifbar: Nach dem jähen Tod ihrer Kinder ist die Mutter so untröstlich, dass der Schmerz sie zu Stein erstarren lässt. Der geduldige Hiob akzeptiert den Tod seiner 50 Söhne und Töchter mit dem berühmten Satz: »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat es genommen.« Aber Hiob ist nur die paradigmatische Figur eines Lehrgedichts, kein Mensch aus Fleisch und Blut. Rachel beweint ihre Kinder, König Davids Klagerufe über den Tod des aufrührerischen Sohnes Absalom – »Absalom, Absalom, mein Sohn, o wäre ich doch an deiner Stelle gestorben!« – hallen durch den Palast und zeigen uns den biblischen Menschen in seinem ganz unheroischen Trauerschmerz. Maria gilt als die »Mater dolorosa«, als die schmerzensreiche Mutter schlechthin. Wie sie unter dem Kreuz steht oder den Leichnam ihres Sohnes auf ihren Knien trägt, das hat die abendländische Kunst zu zahllosen »Stabat mater«- und »Pietà«-Darstellungen inspiriert. Und nicht selten wird auf diese fast archetypischen Situationen unaussprechlichen Leides die Klage des Propheten Jeremias angewandt: »O vos omnes qui tansitis, animadvertite et videte, si quis dolor similis est dolori meo« (»O ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut doch und seht, ob ein Schmerz meinem Schmerze ähnlich ist«). Gerade die Erfahrung des Leides erklärt, warum man Maria seit jeher als Trösterin in allen leidvollen Lagen anruft, warum der Marienkult so tiefe Wurzeln im Volk schlagen konnte.

Die zahlreichen Zeugnisse der Vergangenheit lassen vermuten, dass seit jeher der Verlust eines Kindes als das schlimmste Unglück empfunden wurde, das Eltern widerfahren kann. Das scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Noch einen Schritt weiter geht die französische Psychologin Ginette Raimbault, indem sie behauptet: »Der Schmerz über den Verlust eines Kindes ist in einer Epoche so intensiv wie in der andern.« Vielleicht drängt sich dennoch eine differenziertere Beurteilung auf, die den historischen Umständen Rechnung trägt.

Requiem für ein Kind

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