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Kleine Anthologie der trauernden Eltern
ОглавлениеDie vorliegende Sammlung versucht, eine Reihe von authentischen Einzelschicksalen anhand von Dokumenten, seien es Tagebücher, Briefe, Gedichte, Romankapitel, Bildwerke oder musikalische Kompositionen, vorzustellen, die aus Anlass solch eines Verlustes entstanden sind. Es sind Berichte ohne Ausschmückung oder Wehleidigkeit, ohne psychologisierende Zergliederung oder Besserwisserei, rein faktographische Darstellungen, die für sich sprechen sollen. Jeder der chronologisch geordneten Artikel möchte gleichzeitig, obwohl er hauptsächlich auf den Verlust des Kindes und den Trauerprozess zentriert ist, auch ein knappes Lebensbild des Betroffenen vermitteln. Die Darstellung greift etwas weiter aus bei Persönlichkeiten, die zwar berühmt sind, deren Biographie aber beim Leser nicht ohne weiteres als bekannt vorausgesetzt werden kann.
Kinderfriedhof auf dem Berg Takao (Japan).
Die Auswahl der Beispiele, die auf einer breiten Recherche beruht, wurde aus verschiedenen Epochen und Ländern des abendländischen Kulturkreises – Tagore ist eine Ausnahme – mit Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert getroffen. Alle diese Fälle erschütterten das Leben der Eltern – Hofmannsthal starb zwei Tage nach dem Freitod seines Ältesten, Kaiserin Elisabeth trug Trauerkleidung bis ans Ende ihres Lebens – und wurden Anlass zu einer langen »Trauerarbeit«, ob die Trauernden nun tiefgläubige Christen waren wie Andres, Eichendorff und Rückert, oder überzeugte Atheisten wie Marx und Freud. In solch tragischen Situationen ist auch der Unterschied zwischen einem Sonnenkönig und einem Revolutionär nicht gewaltig; wenn die Axt an die Wurzeln gelegt wird, erweist sich fast jedes Vaterherz als weich und verwundbar.
Die sprachliche Vielfalt der Texte hat zur Folge, dass alle nichtdeutschen Texte in Übersetzungen aufgenommen wurden. Um dennoch einen Hauch des Originals zu vermitteln, schien es angebracht, auch eine Reihe von Kern-Zitaten in der Originalsprache einzustreuen (mit Übersetzung oder Umschreibung). Zudem bedient sich der Trauernde meist nur des schlichten Grundwortschatzes, weithergeholte Ausdrücke und Metaphern sind dem Gegenstand wenig angemessen.
Eine besondere Aussagekraft kommt dem Bildmaterial zu. Wer z.B. das große Familienportrait A. Manzonis mit seinen Kindern sieht, von denen sieben ihm im Tode vorausgingen, ermisst mit einem Blick das tragische Familienleben des gefeierten Dichters; die Aufzeichnung der »letzten Worte« Olga Janaceks, deren »Sprechmelodien« teilweise in die Oper »Jenufa« eingeflossen sind, vergegenwärtigt fast unerträglich grell die Agonie des Mädchens und die Verzweiflung des Vaters.
Vielleicht hilft es Eltern, die einen ähnlichen Verlust erlitten haben, zu erkennen, wie sich andere Menschen, sogenannte »berühmte« Menschen, ihre Schicksalsgenossen in der »Brüderschaft der vom Schmerze Gezeichneten« (Schweitzer), zu einem Ausdruck durchrangen, oft wieder neuen Halt gewannen oder sich wenigstens mit ihrem Leid abfanden. Für den verschonten oder »ungeprüften« Leser können diese Artikel ein Anlass sein, ein besseres Verständnis für die Lage und das vielleicht andersartige Benehmen der trauernden Eltern zu finden, ein Benehmen, das man ihnen leicht übel nimmt: ihre Scheu, ihr Schweigen, ihre latente Schwermut, ihr unfrohes Lachen, ihr geringes Interesse am Treiben der Welt, am Jahrmarkt der Eitelkeiten. Der neuerdings gebrauchte Ausdruck von »verwaisten Eltern« umschreibt wohl am nächsten, in Ermangelung einer adäquaten sprachlichen Bezeichnung, ihre seelische Verfassung. Das Buch möchte auch Brücken schlagen zwischen den zwei Welten, über den Abgrund hinweg, der die glücklichen Eltern von den einst auch glücklichen, aber jetzt trauernden Eltern trennt.
Paul Badde: Ungetaufte Kinder dürfen ins Paradies. 22.4.2007. https://www.welt.de/politik/ausland/article827376/Ungetaufte-Kinder-duerfen-ins-Paradies.html (Zugriff: 8.7.2021).
Ninja Charbonneau: Kindersterblichkeit: Warum sterben eigentlich Kinder?. 18.9.2020. https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/kindersterblichkeit-weltweit-warumsterben-kinder/199492 (Zugriff: 8.7.2021).
Jean Delhôtel: Avioth. Bref recueil de l’état de l’églisede Notre-Dame d’Avioth (1668). Colmar 1981.
Peter Eggenberger, Susi Ulrich Bochsler, Kathrin Utz Tremp et al.: Das mittelalterliche Marienheiligtum Oberbüren. Chilchmatt. Hefte zur Archäologie im Kanton Bern 4. 2018.
Sigmund Freund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915). Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Hugo Heller. Wien 1915.
Martin Heidegger: Le Dasein Etre-pour-la-mort et angoisse. Gallimard. Paris 1986.
Jean et Brigitte Massin: Wolfgang Amadeus Mozart. Librairie Fayard. Paris 1970.
Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Piper. München 2007.
Ginette Raimbault: Lorsque l’enfant disparaît. O. Jacob. Paris 2011.
Statistisches Bundesamt: Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland nach Geschlecht in den Jahren von 1950 bis 2060. Juli 2020. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/273406/umfrage/entwicklung-der-lebenserwartung-bei-geburt--in-deutschland-nach-geschlecht/ (Zugriff: 8.7.2021).
UNICEF: Rapport Innocenti. Firenze 2011.