Читать книгу Der Fotograf - Tagebuch eines Killers - J.S. Ranket - Страница 12
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ОглавлениеAuf dem Weg zu seinem Wagen führte Walker noch ein kurzes Telefongespräch. Zehn Minuten später saß er in seinem Range Rover und nach weiteren zehn rutschte Alice auf den Beifahrersitz.
„Es hat niemand mitgekriegt, dass ich bei Ihnen eingestiegen bin“, stieß sie atemlos hervor, als sie die Tür zuzog und ihren kleinen Rucksack in den Fußraum fallen ließ. Offensichtlich hatte es Alice sehr eilig gehabt, zu ihm zu kommen.
„Sehr schön“, bestätigte Walker. Dann legte er seine Stirn in besorgte Falten. „Darf ich dich bitten, dein Smartphone auszuschalten.“
„Ja … klar … kein Problem“, antwortete Alice zögerlich, während sie ihr Gerät hervorkramte.
„Bitte verstehe mich nicht falsch und ich selbst würde das bestimmt auch niemals tun …“, setzte Walker zu einer Erklärung an, „… aber manche Eltern installieren auf den Handys ihrer Kinder eine geheime App mit der sie sie tracken können.“ Dann holte er tief Luft. „Es wäre doch jammerschade, wenn sie feststellen, dass du nicht dort bist, wo du eigentlich sein solltest. Ich nehme einmal an, dass das mit deinem Bruder nur eine klitzekleine Ausrede war.“
Alice musterte ihr Smartphone, als wäre es von der CIA verwanzt worden. Emilys Vater hatte genau ins Schwarze getroffen, denn das würde ihren Eltern verdammt ähnlich sehen. Ohne noch länger darüber nachzudenken, schaltete sie es mit einem entschlossenen Tastendruck aus.
Erst als das Display rabenschwarz wurde, startete Walker den schweren SUV. Jetzt saß Alice in der Falle. Sie wusste es nur noch nicht.
„Wann kam dir denn die Idee mit dem Höschen“, fuhr er sichtlich entspannt fort.
„Als Emily sagte, dass Sie auch kommen werden“, antwortete Alice stolz. „Ich habe einfach ein bisschen gepokert und halterlose Strümpfe angezogen. Und als ich Ihnen dann den Kaffee geholt habe, ging es ganz schnell.“
Zum Beweis zog sie ihren Rock ein wenig nach oben, sodass über der schwarzen Spitze die helle Haut zum Vorschein kam. Vor lauter Verblüffung wäre Walker fast in ein Taxi gebrettert. Das kleine Miststück war ja noch gerissener, als er gedacht hatte.
„Sie können es wohl kaum erwarten“, kommentierte sie, in völliger Verkennung der Situation, den Beinahe-Unfall. Dann stellte sie fest, dass sie nicht zu Walkers Haus fuhren. „Sie entführen mich doch nicht etwa?“, schob sie kichernd hinterher.
„Wenn bei Robyn etwas schiefläuft und Emily plötzlich doch nach Hause kommt, dann könnte das sehr peinlich werden“; antwortete Walker selbstsicher. Jetzt hatte er sich wieder völlig im Griff. „Keine Tochter möchte ihren Vater beim Sex überraschen. Und bei dem mit einer Klassenkamerdin noch weniger. Ich hoffe doch sehr, dass dir das, was ich deshalb für uns ausgesucht habe, gefällt.“
„Sie denken aber auch wirklich an alles“, stellte Alice beeindruckt fest. Sie konnte sich nicht ernsthaft vorstellen, dass sie von seinem Geschmack enttäuscht werden könnte.
Und genau so kam es dann auch.
Ein paar Meilen südlich von Greenwich bremste Walker den schweren Wagen vorsichtig ab. Dann bog er in einen parkähnlichen Garten ein und fuhr nur noch im Schritttempo weiter. Der feine Kies des Weges, auf dem die Reifen jetzt knirschten, würde auch gar keine höhere Geschwindigkeit zulassen. Nach knapp hundert Yards kam hinter dichtem Rhododendron eine riesige Villa in Sicht, vor der ein schnittiger Porsche und ein gediegener Jaguar standen. Emilys Vater parkte sein Gefährt daneben, stellte den Motor ab und stieg aus. Dann umrundete er seinen Range Rover und öffnete Alice formvollendet die Tür.
„Was ist das denn hier?“, wollte sie mit einem skeptischen Blick wissen, während sie ausstieg.
„Ein sehr exklusives Etablissement, in dem viel Wert auf absolute Diskretion gelegt wird“, zerstreute er ihre Zweifel. „Ich habe mir vorhin, auf dem Weg zu meinem Wagen, erlaubt, den Roten Salon für uns zu reservieren.“
Als sie kurz darauf in der luxuriösen Eingangshalle standen, fühlte sich Alice wie eine Prinzessin. Die hohe Decke wurde von beeindruckenden Marmorsäulen getragen und die alten Meisterwerke an den Wänden schienen tatsächlich echt zu sein.
Noch während sie sich interessiert umschaute, tauchte wie aus dem Nichts eine äußerst attraktive Frau auf. Sie hatte sich ihre schwarzen Haare zu einem straffen Zopf geflochten und trug zu ihrem scharfen Mini lediglich eine glänzende Korsage, die ihre schlanke Figur betonte. Mit ihren knöchelhohen Stiefeletten wirkte sie ein bisschen wie eine der Cyber-Kämpferinnen aus „Matrix“ oder einem anderen abgefahrenen Science-Fiction-Film.
„Guten Abend Jacob“, flötete sie, während sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte.
„Hallo Scarlett“, antwortete Walker mit einem schelmischen Grinsen.
„Das ist sie also“, stellte sie mit einem bewundernden Blick auf den Teenager fest. Dann zupfte sie prüfend an der Schuluniform herum.
„Ja genau, das ist sie“, bestätigte er.
„Du hast einen wirklich exquisiten Geschmack“, stellte sie fest, bevor sie das Revers von Alice’ Jackett behutsam glatt strich. „Ich glaube mit ihr werden wir jede Menge Spaß haben.“
Augenblicklich erstarrte die junge Frau zur Salzsäule. Bestimmt hatte sie sich nur verhört oder war auf einen extrem blöden Scherz hereingefallen.
„Was … was … was ist hier los?“, stotterte Alice verwirrt.
Statt einer Antwort wurde sie herumgewirbelt und knallte mit der Brust gegen eine der Säulen. Doch ehe sie auch nur an Gegenwehr denken konnte, riss ihr Scarlett an den Haaren den Kopf in den Nacken und verdrehte ihr schmerzhaft den Arm. Die Kälte des Marmors breitete sich mit einem Schlag in ihrem gesamten Körper aus, als wäre sie gerade in eine Wanne mit Eiswasser gefallen.
„Du machst deinen hübschen Mund nur auf, wenn du gefragt wirst, verstanden!“, zischte Scarlett unmittelbar neben ihrem Ohr.
Zur Demonstration, wie ernst sie das meinte, drehte sie den Arm noch ein bisschen weiter nach oben. sodass Alice wimmernd auf die Zehenspitzen gehen musste.
„Okay … okay … ich hab’s kapiert“, stieß sie mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor, während ihr die Tränen in die Augen schossen.
Augenblicklich ließ der Druck nach. Doch Scarlett gönnte ihr keine Zeit, um Luft zu holen. Sie krallte sich in ihren Haaren fest und schleifte den Teenager einfach durch die Halle.
Kurz vor der Treppe, die in den Keller führte, überrannte Alice schließlich die nackte Panik. Kreischend stolperte sie die Stufen hinab und hatte alle Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Unten torkelte sie wie eine Betrunkene ihrer Peinigerin hinterher, die sie immer noch mit einem eisernen Griff gefangen hielt. Es ging einen schmalen Gang entlang, dann flog eine Tür und Alice wurde mit einem kräftigen Schubs direkt vor einen niedrigen Käfig befördert.
Anschließend packte Scarlett sie am Kragen, stopfte sie hinein und knallte die Tür hinter ihr zu. Es folgte das Schnappen eines Schlosses und sich entfernende Schritte, dann war sie allein.
Erst als das Kratzen in ihrem Hals immer stärker wurde, fiel Alice auf, dass sie immer noch schrie. Voller Verzweiflung trat sie wie eine Irre gegen das schwere Gitter, bis ihre Kräfte sie verließen und sie förmlich in sich zusammensackte.
Aber so richtig zusammensacken konnte sie eigentlich nicht.
In dem niedrigen Ding konnte sie nicht einmal gebückt stehen, geschweige denn auch nur einen einzigen Schritt tun. Im Prinzip konnte sie nur auf dem Boden hocken und darauf warten, was sich ihre Peiniger für sie ausgedacht hatten.
Wie hatte sie auch nur so dämlich sein können?
Sie wusste absolut nichts über Walker. Außer dass er Emilys Vater war, als Fotograf arbeitete und irgendwie toll aussah. Aber in Wahrheit war er ein perverser Kidnapper, der sich zusammen mit seiner Komplizin sicher gerade überlegte, ob er ihr lieber bei lebendigem Leib die Haut abziehen oder sie mit einem Lötkolben zu Tode foltern sollte.
Nur leider würde seine Tochter nie etwas davon erfahren. Denn wenn sie mit ihr fertig waren, würde ihr bleicher Körper mit Sicherheit in den Fluten der Themse versinken.
Durch diese plötzliche Erkenntnis setzte Alice’ Herz für ein paar quälende Sekunden aus. In der unheimlichen Stille, die dadurch entstand, hörte sie mit einem Mal ein seltsames Geräusch. Es klang, als ob irgendjemand über den Fußboden rutschte.
Aber das konnte ja eigentlich nicht sein.
Doch durch den gemeinen Überfall und das Herunterschleifen in den Keller, hatte Alice um sich herum überhaupt nichts anderes wahrnehmen können. Es war, als wären bei ihr alle Sinne ausgeschaltet gewesen, die sich jetzt aber nach und nach wieder zu Wort meldeten.
Zoll um Zoll tasteten ihre Augen das schummerige Gewölbe ab, das sie auf grausame Weise an einen mittelalterlichen Kerker erinnerte. Nur keine hastigen Bewegungen! Wenn da irgendjemand war, dann wollte sie auf keinen Fall dessen Aufmerksamkeit erregen.
Doch als sie den zweiten Käfig sah, stockte ihr trotzdem der Atem. Und nachdem sie das andere Mädchen darin erblickte, stand die Zeit für eine ganze Weile still.
Ihre Leidensgenossin war offensichtlich ein paar Jahre älter, vielleicht zwanzig oder so, und sie war splitternackt!
„Du musst leise sein und wenn sie dich holen, dann darfst du dich nicht wehren“, flüsterte sie mit großen Augen, während sie ihr Gesicht gegen die Stäbe presste. „Wenn du schreist, dann tun sie dir umso mehr weh und wenn du dich wehrst, dann stachelt sie das erst richtig an.“
Alice blieb das Wort förmlich im Hals stecken. Erst nach einer halben Ewigkeit schaffte sie es, eine Frage herauszupressen.
„Die … wer sind die?“, hauchte sie ängstlich.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
„Weiß nicht … es sind immer andere …“
In Alice Kopf startete gerade ein Düsenjet. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Die andere Gefangene hatte genauso langes Haar wie sie selbst und war ebenfalls auffallend hübsch. Offensichtlich befanden sie sich in den Fängen von perversen Vergewaltigern, die es auf blutjunge Schönheiten abgesehen hatten. Sie hasste plötzlich ihre Schuluniform und den Teil ihres Gehirns, der ihr vorgeschlagen hatte, halterlose Strümpfe anzuziehen. Beides zusammen war ja praktisch eine regelrechte Einladung für ein paar ganz besondere Spielchen.
Doch als sich das andere Mädchen ein wenig zur Seite drehte, öffnete sich unter Alice das Tor zur Hölle.
Über ihren Rücken zogen sich rote Striemen, die auf den ersten Blick wie eine bizarre Tätowierung aussahen. Erst auf den zweiten konnte man erkennen, dass das blutige Muster von Schlägen stammte.
„Wenn du nicht tust, was sie sagen, dann peitschen sie dich aus oder schnallen dich auf den Stuhl“, flüsterte sie so leise, als könnte ein zu lautes Wort ihre Folterknechte herbeirufen.
„Stuhl … was für ein Stuhl?“, murmelte Alice abwesend.
„Na so einer wie beim Frauenarzt“, bestätigte das Mädchen ihre schlimmsten Befürchtungen.
Plötzlich schmeckte sie das Sandwich, das sie am Nachmittag in der Schule gegessen hatte, überdeutlich in ihrem Rachen. Alice presste sich ihre Hand auf den Mund und würgte den sauren Brei hinunter, der gerade auf dem Weg nach oben war.
Aber zu viel mehr kam sie nicht, weil gerade ein heller Lichtstreifen in ihr Gefängnis fiel.
Starr vor Entsetzen beobachtete Alice, wie sich die hohen Stiefeletten ihrem Käfig näherten. Doch bevor sie einen Herzinfarkt bekommen konnte, drehten sie zu dem anderen ab. Dann klirrte das Schloss, die Tür schwang auf und ohne dass es einer Aufforderung bedurfte, kroch das andere Mädchen heraus. Wortlos legte Scarlett ihr ein ledernes Halsband um und zog sie anschließend daran hinaus auf den Gang.
Alice konnte es kaum fassen. Was hatten sie nur alles mit ihr angestellt, dass sie sich einfach so wegführen ließ wie einen Hund? Bei dem Gedanken, dass ihr selbst ein ähnliches Schicksal bevorstand, machte sich das Sandwich erneut auf den Weg nach oben.
Wenig später hörte sie die Schreie.
Alice presste sich ihre Hände so fest auf die Ohren, dass es weh tat. Aber trotzdem fand das schrille Kreischen einen Weg in ihr Gehirn. Zum Glück pumpte ihr Körper genau in diesem Moment so viele Stresshormone in ihre Blutbahn, dass die schrecklichen Geräusche vom Hämmern ihres eigenen Pulses überdeckt wurden. Der Keller verschwamm in milchigen Wolken, die ihr wie Watte im Hals stecken blieben und so das Atmen zur Qual machten. Alice hatte das Gefühl, dass zäher Schleim ihre Lungen verstopfte und hustete schon nach wenigen Minuten wie eine Asthmakranke nach einer Bergwanderung.
Sie war so sehr auf sich selbst konzentriert, dass sie ihre Peinigerin erst bemerkte, als sie direkt vor ihrem Gitter hockte. Augenblicklich verschwand der Nebel und sie sah alles glasklar. Die sorgfältig manikürten Fingernägel und Scarletts blitzende Augen, die sie mit einem interessierten Blick musterten. So wie ein Forscher, der seinem Versuchskaninchen gleich den todbringenden Cocktail verabreichen will. Dann wurde das Vorhängeschloss geöffnet, sodass die schwere Tür zeitlupenlangsam aufschwingen konnte.
„Du bist dran“, hauchte Scarlett zuckersüß, während sie ihre Hand in den Käfig streckte und versonnen mit einer Haarsträhne ihres Opfers spielte.
Doch genauso gut hätte ihre Peinigerin sie auffordern können, ohne Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen. Alice war nur noch ein Schatten ihrer selbst und zu absolut keiner Bewegung fähig.
Bis Scarlett einen elektrischen Viehtreiber zückte.
Das Knistern der Entladungen riss Alice augenblicklich in die Realität zurück. Nie und nimmer wollte sie mit dem Ding Bekanntschaft machen. Vielleicht, wenn sie ganz, ganz brav war, würden sie womöglich nicht so hart mit ihr umspringen. Aber in Wirklichkeit wusste sie nicht, wie es war, gefoltert zu werden.
„Wenn du nicht gleich da herauskommst, dann muss ich dir leider weh tun“, fuhr Scarlett etwas strenger fort.
Alice setzte sich wie eine Marionette in Bewegung. Sie kroch auf allen vieren aus dem Käfig, als würde sie von unsichtbaren Fäden gezogen, und stoppte dann artig neben ihrer Peinigerin. Dabei wagte sie nicht, ihren Kopf zu bewegen. Stattdessen fixierte sie die glänzenden Stiefeletten, in denen sich die Beleuchtung des Kellerganges spiegelte.
„Steh auf!“, forderte Scarlett.
Alice hatte große Mühe, dem Befehl nachzukommen, weil sich alles um sie herum drehte. Aber schließlich schaffte sie es, halbwegs gerade dazustehen. Scarlett drückte ihr den Schocker gegen das Kinn und zwang sie so, erneut auf den Zehenspitzen zu tanzen.
„Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, nicht zu Fremden ins Auto zu steigen?“, wollte sie mit einem strengen Blick wissen.
„D … doch“, stieß Alice zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen hervor. Dabei presste sie mit aller Kraft ihre Schenkel zusammen, weil sich gerade ihre Harnblase meldete.
„Und warum hast du es dann bei Jacob Walker getan?“, forschte Scarlett weiter.
„Ich … ich … ich …“, stotterte Alice.
Plötzlich ließ der Druck an ihrem Kinn nach und Scarletts Mund verzog sich zu einem amüsierten Grinsen.
„Na dann hoffe ich, dass du deine Lektion gelernt hast“, fuhr sie in einem lehrerhaften Tonfall fort. Dann hielt sie dem Mädchen ihr Smartphone vor die Augen. „Das Ding ist übrigens sauber.“
Völlig entgeistert starrte Alice auf das Gerät. Sie hatte es in Walkers Wagen ausgeschaltet und wahrscheinlich war es aus dem Blazer ihrer Schuluniform gefallen, als sie überwältigt worden war. Jetzt war es angeschaltet und hatte sich auch bereits in das Mobilfunknetz eingewählt. Aber als Scarlett es ihr einfach in die Hand drückte, war ihre Verblüffung perfekt.
Von einer Sekunde zur nächsten fiel es Alice wie Schuppen von den Augen, was hier gerade lief. Sie war einer sehr drastischen Demonstration dessen, was hätte passieren können, auf den Leim gegangen. Der ganze Keller begann auf einmal zu schwanken, sodass sie sich unwillkürlich an Scarlett festklammern musste, um nicht das Gleichwicht zu verlieren. Sie kam sich auf einmal vor wie eine Fahranfängerin, die unbedingt in der Formel 1 mitfahren wollte und in der ersten Kurve böse in die Leitplanke gekracht war. Denn dämlicher ging es ja kaum. Wie hatte sie auch nur ernsthaft annehmen können, dass sich Emilys Vater zu einer heißen Nummer mit einem Teenager hinreißen ließ. Doch statt besserwisserisch mit dem Zeigefinger zu drohen, hatte er einen Warnschuss abgegeben, der ihr bestimmt noch ewig in den Ohren klingeln würde.
Dann kamen die Tränen.
Alice brauchte eine halbe Ewigkeit, um sich zu beruhigen. Mit Scarletts Hilfe gelang es ihr schließlich, sich aus dem Keller nach oben zu schleppen. Fürsorglich, wie von einer großen Schwester, wurde sie in eines der Zimmer geführt, das offensichtlich besagter Roter Salon war.
Die gesamte Einrichtung des großen Raumes wirkte viktorianisch. Mit schweren Sesseln, samtenen Vorhängen und einem riesigen Himmelbett, in dessen Pfosten stählerne Ringe eingelassen waren. Für Alice gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, was hier alles so abging. Erst recht, nachdem sie eine große Truhe entdeckt hatte, auf der in verschnörkelter Schrift „Toys“ zu lesen war.
Hätte Emilys Vater etwas Böses im Schilde geführt, dann hätten Scarlett und er sie hier so richtig auseinandernehmen können. Und zwar ohne dass irgendjemand auf der Welt wusste, wo sie war. Sicher hatte er alles organisiert, während er in seinem Wagen auf sie gewartet hatte. Und sie hatte in ihrer hochgradig schwachsinnigen Selbstüberschätzung sogar eigenhändig ihr Smartphone ausgeschaltet.
Alice ließ sich völlig erschöpft in einen der Sessel plumpsen, zog ein Kleenex aus einer Box, die auf einem niedrigen Tischchen stand, und putzte sich umständlich die Nase.
„Jacob hat einen klitzekleinen Tochter-Komplex, der sich darin äußert, dass er versucht, alle jungen Mädchen zu beschützen“, klärte Scarlett die Aktion auf. „Leider warst du ein wenig zu hartnäckig und deshalb klappte das bei dir nur auf die harte Tour.“
„Aber … aber … was ist denn mit dem anderen Mädchen?“, wollte Alice besorgt wissen.
„Ach Süße …“, seufzte Scarlett mit einem mitleidigen Lächeln. „Lucy lässt sich für ihre Neigungen von unseren Gästen fürstlich entlohnen.“ Dann deutete sie mit der Hand auf das Fenster, unter dem sich der kleine Parkplatz befand. „Der Porsche da draußen ist ihrer.“
Alice fielen fast die Augen aus dem Kopf.
„Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“, wechselte Scarlett abrupt das Thema. „Das hier hätte mächtig schief gehen können.“
„Keine Ahnung“, schniefte Alice. Sie zitterte immer noch am ganzen Leib und kam sich mit einem Mal unheimlich blöd vor.
Scarlett, der der Zustand des Mädchens natürlich nicht entgangen war, kramte in einem kleinen Barschrank herum und drückte kurz darauf dem schlotternden Teenager ein schweres Glas in die Hand.
„Dein Geklapper kann ich mir nicht länger mit ansehen“, kommentierte sie den Drink.
Vorsichtig hielt Alice ihre Nase darüber. Es war eiskalt, duftete nach Alkohol und irgendwie zimtig.
„Nicht riechen, trinken!“, forderte Scarlett, während sie das Glas behutsam in Richtung von Alice’ Lippen schob.
Todesmutig kippte sie den Inhalt hinunter und dachte im ersten Moment sie müsste sterben. Ihr Rachen schien plötzlich zu einem Eisberg geworden zu sein, der jedoch sehr schnell Feuer fing.
„Ach du Scheiße!“, keuchte sie mit hochrotem Gesicht. „Was ist das denn?“
„Das nennt sich AfterShock“, grinste Scarlett. „Du warst noch nie auf einer richtigen Party, oder?“
Alice schüttelte benebelt den Kopf. Das Zeug hatte es wirklich in sich, aber es wirkte. Das Zittern verschwand wie von Zauberhand und auch ihr Puls normalisierte sich auf geheimnisvolle Weise.
„Emilys Vater wartet übrigens draußen im Wagen auf dich“, lautete die nächste Hiobsbotschaft.
„Ich .. ich geh da nicht raus“, stellte sie mit Bestimmtheit fest. „Niemals!“
„Na so jedenfalls nicht“, bestätigte Scarlett, während sie Alice von oben bis unten musterte. Die Bluse des Mädchens hing zerknittert heraus und an den Knien ihrer schwarzen Strümpfe klafften mehrere Löcher. „Im Badezimmer liegt dein Rucksack mit dem Höschen“, grinste sie. „Und eine neue Strumpfhose finde ich bestimmt auch noch für dich.“
Nach einer knappen Viertelstunde tapste Alice wie ein begossener Pudel hinaus in die Dunkelheit. Sie sah wieder ganz passabel aus, nur ihr Kopf war so rot wie eine Tomate. Wahrscheinlich würde sie nach Australien auswandern müssen.
„Na los, Jacob beißt nicht“, machte ihr Scarlett Mut, während sie zu dem Range Rover geschoben wurde.
Vorsichtig, so als könnte der Wagen explodieren, öffnete sie die Tür und rutschte wie ein Häufchen Elend auf den Beifahrersitz. Dabei vermied sie krampfhaft, Emilys Vater anzusehen und fixierte stattdessen ihre schwarzen Ballerinas im Fußraum.
„Ich bin eine Idiotin“, hauchte sie so leise, dass man es kaum verstehen konnte. „Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“ Dann seufzte sie tief. „Es tut mir echt leid, Mister Walker.“
„Du bist keine Idiotin“, antwortete er betont sachlich. „Du bist lediglich das Opfer eines ziemlich gemeinen Hormoncocktails, der in deinem Körper kreist und dich diese seltsamen Sachen tun lässt.“
Alice wusste beim besten Willen nicht, worauf er hinauswollte.
„Es gibt sogar einen Fachbegriff dafür“, fügte er hinzu.
„Fachbegriff … was denn für einen Fachbegriff?“
„Ja genau, einen Fachbegriff“, fuhr Walker fort. „Das Ganze nennt sich Pubertät und ich kenne mich recht gut damit aus. Es gibt nämlich nicht nur Emily, die liebe Tochter, und Emily, die beste Freundin, sondern auch Emily, die kleine Terroristin.“
Alice musste unwillkürlich ein bisschen grinsen.
„Also was mich betrifft, ist heute Abend absolut nichts passiert“, stellte er fest, während er den Wagen startete. „Vielleicht solltest du einfach Robyn anrufen und sagen, dass du etwas mit dem Datum durcheinander gebracht hast und doch bei ihr übernachten kannst.“
„Klingt gut“, bestätigte Alice nach einer kurzen Pause. „Sie sind verdammt in Ordnung, Mister Walker, wissen Sie das?“
„Ich schon“, antwortete er mit einem säuerlichen Lächeln. „Allerdings hält mich meine Tochter für einen Spießer, der auf so komische Sachen wie gemeinsame Mahlzeiten und ein Mindestmaß an Ordnung Wert legt.“
„Wenn Sie wollen, dann kann ich ja gerne ein gutes Wort für Sie einlegen, wenn Sie wieder mal der Dumme sind“, bot Alice mit einem ehrlichen Lächeln an.
„Um Himmels willen“, wiegelte Walker ab. „Wie willst du denn deine plötzliche Solidarität mit mir begründen? ‚Hey Emily, dein Dad hat mich in einen Folterkeller verschleppt und mir gezeigt, dass es böse ins Auge gehen könnte, wenn ich meinen Verstand ausschalte.‘ “
„Na ja, das ist dann wahrscheinlich doch keine so gute Idee“, stellte Alice fest. Dann holte sie tief Luft. „Also ich weiß ja, dass sie Single sind und eigentlich geht es mich auch überhaupt nichts an, aber …“
„Du willst wissen, was ich mit dem Club zu tun habe, stimmt’s?“, unterbrach sie Walker.
Alice nickte vorsichtig.
„Es gab Zeiten, in denen ich mir meine Aufträge nicht aussuchen, sondern nehmen musste, was ich kriegen konnte“, antwortete er.
„Sie haben Pornos geschossen?!“, stieß Alice völlig perplex hervor. In ihren Augen stieg der Coolness-Faktor von Emilys Vater gerade in schwindelerregende Höhen.
Walker lachte lauthals los.
„Sagen wir mal, dass ich dem Etablissement durch meine Aufnahmen einen äußerst eleganten Internetauftritt verschafft habe“, klärte er sie auf. „Außerdem benötigen selbst einige meiner konservativsten Kunden hin und wieder ein verruchtes Model für ihre Kampagnen“, fügte er hinzu, während sich der schwere Rover langsam in Richtung Vanbrugh Park in Bewegung setzte.