Читать книгу Der Fotograf - Tagebuch eines Killers - J.S. Ranket - Страница 5
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ОглавлениеMit verquollenen Augen starrte O’Brian auf die Schneeflocken, die träge an seinem Fenster vorbeizogen. Wenn sein Hund nicht pinkeln müsste, dann würde er am liebsten den ganzen Tag im Bett bleiben. Vielleicht sollte er aber auch einfach beim nächsten Besäufnis nicht ständig abwechselnd Wodka und Scotch in sich hineinschütten. Oder Mickey, seinen Kumpel, ein bisschen eher hinauswerfen.
Seinem brummenden Schädel würde das auf jeden Fall guttun.
Mühsam stemmte er sich nach oben. Churchill, der das wohl als Zeichen auffasste, dass es gleich losging, wedelte aufgeregt mit seinem Stummelschwanz, während sein Herrchen zur Salzsäule erstarrte.
Irgendjemand hatte doch tatsächlich über die niedrige Mauer, die seinen handtuchgroßen Garten von der Straße trennte, eine Arsenal-Flagge gehängt. Dabei wusste doch jeder im Viertel, dass O’Brian Anhänger der Tottenham Hotspurs, also den Erzrivalen, war. Der Blödmann, der das verbockt hatte, könnte sich auf jeden Fall schon einmal von seinen Schneidezähnen verabschieden.
Das hieß, wenn er ihn erwischte.
Aber vielleicht hing der Lebensmüde auch noch da draußen herum und wollte nur seine Reaktion beobachten. O’Brian schlüpfte in seine warme Sweatjacke, griff sich den Baseballschläger, den er für solche Zwecke im Flur deponiert hatte, und öffnete betont langsam die Tür. Natürlich hielt Churchill überhaupt nichts von dieser Taktik seines Herrchens. Er stürmte einfach nach draußen und verschwand mit lautem Gekläffe durch das unverschlossene Gartentor.
Vorsichtig spähte O’Brian seinem Bullterrier hinterher, doch die Straße war praktisch leergefegt. Nur der Wind blies den Schnee zu kleinen Häufchen zusammen. Vielleicht würde die kalte Luft ja auch bei seinen Kopfschmerzen helfen.
Doch kaum hatte er einen Fuß vor die Tür gesetzt, da wurde ihm buchstäblich der Boden weggerissen. Die kleine Treppe, die eigentlich durch das Vordach geschützt sein sollte, hatte sich auf wundersame Weise in eine Eisbahn verwandelt. O’Brian vollführte einen lautlosen Stepptanz, bevor er mit dem Hinterkopf auf die letzte Stufe knallte. Die wirbelnden Flocken über ihm verschmolzen zu einem weißen Strudel, der ihn langsam davontrug.
Eigentlich müsste ihm eiskalt sein, doch O’Brian spürte nichts. Absolut nichts. Auf seinen Augenbrauen hatten sich in der Zwischenzeit kleine Schneewehen gebildet, die mit jeder Minute weiter und weiter wuchsen. Aber er schaffte es einfach nicht, sie wegzuwischen, denn irgendwie schienen ihm seine Arme nicht mehr zu gehorchen. Genauso wenig wie seine Beine. Spätestens jetzt musste selbst dem größten medizinischen Laien klar werden, dass er ein ernsthaftes Problem hatte. Doch der Adrenalinschub blieb aus. O’Brian konnte natürlich nicht wissen, dass durch den kleinen Unfall auch sein Rückenmark verletzt worden war. Und das brachte die sensible Regulation seines Hormonsystems ebenfalls völlig durcheinander.
Aber offensichtlich hatte er Glück im Unglück, denn direkt vor ihm schälte sich plötzlich ein bekanntes Gesicht aus den wirbelnden Flocken.
„Hey Jacob, du kleiner Pisser“, keuchte er mit einem schiefen Grinsen. „Bitte ruf einen Krankenwagen! Du wirst doch deinen alten Kumpel Zach nicht einfach so hier liegenlassen.“
Nur schien der Junge ihn nicht wirklich zu verstehen. Er beugte sich nach vorn und brachte sein Ohr ganz nah an seinen Mund. Mit Sicherheit hatte der schlaksige Kerl in der Schule einen Erste-Hilfe-Lehrgang besucht und überlegte jetzt, ob er ihm auf der Brust herumhämmern oder in die stabile Seitenlage drehen sollte.
Doch als Walker ihm stattdessen den Kiefer auseinanderdrückte, begann sein Kopf zu glühen wie eine Kanonenkugel, die in einem Schmelzofen lag. In Sekundenbruchteilen bildeten sich auf seiner Stirn riesige Schweißperlen, die ihm sofort in die Augen rannen. So konnte O’Brian auch nicht sehen, dass der junge Mann mit seiner anderen Hand einen großen Schneeball formte.
Erst als er die Kälte in seinem Rachen spürte, wurde ihm klar, dass er nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte. Seine Lunge kämpfte verzweifelt gegen den eisigen Pfropfen, der immer tiefer und tiefer in seinen Rachen gestopft wurde. Doch sie schaffte es einfach nicht, auch nur ein Quäntchen Luft einzusaugen. Dazu steckte der Schnee einfach schon viel zu tief in seinem Hals. Außerdem wurden die Flocken vor seinen Augen auch immer größer und größer. Bis sie so groß wie sein eigenes Bett waren.
O’Brian musste sich einfach nur hineinfallen lassen.
Fasziniert beobachtete Walker den sterbenden Körper. Auch wenn Mrs. Bradbury noch einmal mit dem Leben davongekommen war, würde sie wohl nie wieder ihre leckeren Scones backen. Die Ärzte hatten der alten Dame zwar erfolgreich einen Verschluss an einem Herzkranzgefäß entfernt, aber in ihrem Alter würde es wohl noch eine ganze Weile dauern, bis sie wieder auf die Beine kam.
Eigenartigerweise empfand Walker für O’Brian gar nichts und er fragte sich schon, ob irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Doch wer Schwächere aus reiner Boshaftigkeit peinigte, der sollte nicht bloß ein paar Sozialstunden aufgebrummt bekommen. Und wer gebrechlichen Rentnern das letzte Ersparte aus der Tasche zog, dem durfte auch nicht nur mit dem Finger gedroht werden. In dieser Beziehung war er ganz bei den Rechtssätzen des Alten Testaments. In dem ging es nämlich vorrangig um Vergeltung und nicht um Schadensausgleich. Schließlich hatten die Geprellten nichts davon, wenn ihr Geld weg und bei dem Täter kein Penny mehr zu holen war.
Noch sehr genau erinnerte sich Walker an die Illustrationen in der zerfledderten Bibel, die er vor Jahren auf dem Dachboden seiner Eltern gefunden hatte. Auf denen kämpfte das Gute mit Feuer und Schwert gegen das Böse und es sah nicht so aus, als ob die Erzengel dabei Gefangene machten.
Aus diesem Grund kam ihm damals auch die alte Rattenfalle gerade recht. Mit jagendem Puls versteckte er sie in der Schultasche von Gus, dessen Lieblingsbeschäftigung es war, seinem Klassenkamaden Dylan ein Bein zu stellen. Der schmächtige Junge hatte irgendein Problem mit seinem Fuß und humpelte deshalb ein bisschen.
Was Gus’ Gemeinheiten umso gemeiner machte.
Blöderweise konnte Walker es körperlich nicht mit ihm aufnehmen, denn der pfannkuchengesichtige Sitzenbleiber war fast einen Kopf größer als er und boxte seine Widersacher ohne Vorwarnung einfach in den Magen. Doch nachdem ihm die Falle zwei Finger zerquetscht hatte, würde er das wohl für immer bleiben lassen.
Leider manövrierte man sich mit solchen Aktionen heutzutage sehr schnell ins Abseits. Jedenfalls so lange, bis der nächsten Großmutter das Konto leergeräumt oder ein besonders sensibles Opfer in eine Depression gemobbt wurde.
Natürlich plante Walker alles stets so, dass er damit durchkam. Wenn der Schnee durch O’Brians Körperwärme geschmolzen war, dann sah es wie ein ganz normaler Unfall aus. Schließlich war der perfekte Mord der, der nicht als solcher erkannt wurde.
Das pflegte jedenfalls Sherlock Holmes zu seinem Freund Dr. Watson zu sagen.