Читать книгу Wut - Julia Ebner - Страница 10

Extremistische Gruppen von innen

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Bei der EDL Die Facebook-Seite der EDL hatte einen landesweiten Protest gegen „muslimische Grooming-Gangs“ in der englischen Stadt Telford angekündigt. Als der Sunday Mirror1 die Stadt als „Hauptstadt des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ titulierte, tat er rechten Gruppen einen Gefallen. Da die Angehörigen dieser Gang pakistanischer Herkunft waren, beeilte sich die EDL, dem Etikett ein „Islamisch“ hinzuzufügen. Der Protest richtete sich nicht nur gegen die „Telforder Kinder-Missbrauchs-Gang“, er richtete sich auch gegen die „Vertuschung durch Offizielle und Kirchen“ sowie die „Islamisierung im Vereinigten Königreich“.2

Ich bin nicht der einzige Mensch, der an diesem kühlen Guy-Fawkes3-Morgen am Bahnhof von Telford den Zug verlässt. Viele der aussteigenden Fahrgäste haben an ihre mit dem EDL-Logo, dem Georgskreuz, versehenen Pullover die sogenannten Remembrance Poppys („Erinnerungs-Mohnblumen“) angesteckt, die traditionell am 11. November, dem britischen Volkstrauertag, zum Gedenken an die Opfer der beiden Weltkriege getragen werden. Fahnen mit Georgskreuzen und Bierdosen gehen von Hand zu Hand, und es liegt eine aufgeregte Atmosphäre in der Luft. „Willkommen in der islamischen Kindervergewaltiger-Hauptstadt“, sagt ein Mann mit grimmiger Stimme. Alle scheinen einander zu kennen und identifizieren mich augenblicklich als Außenseiterin. Aber letztendlich siegt ihre Neugier über ihr Misstrauen, und sie haken nach. „Sind Sie auch zum Protestieren hier?“, fragt einer der Männer. Er ist etwa Ende vierzig, und Tattoos zieren jeden Zentimeter seiner Haut, der nicht von Jeans, T-Shirt und Lederjacke bedeckt ist. Ich nicke. Streng genommen lüge ich nicht; ich bin tatsächlich wegen des Protests hergekommen. Er sieht mich merkwürdig an.

„Sind Sie überrascht?“, frage ich.

„Sie sind keine Engländerin, oder?“, erwidert er. Seine Alkoholfahne betäubt mich kurz; schließlich ist es erst elf Uhr morgens.

„Nein, Österreicherin.“ Sein gezwungenes Lächeln zeigt an, dass er nicht überzeugt ist.

„Wo wohnen Sie?“

„London“, erwidere ich.

„Sie sind deswegen den ganzen Weg hier rauf gekommen?“

„Danny, es ist ein landesweiter Protest“, wirft sein Freund ein.

„Ist das Ihr erster?“

„Ja.“

Danny wirkt belustigt. „Oh, keine Sorge, Schätzchen – dann werden wir uns um Sie kümmern.“ Solange ich nicht als Spionin enttarnt werde, vermute ich.

„Wie oft waren Sie schon auf diesen … Protesten?“ Ich achte darauf, ihr Vokabular zu benutzen.

„Ach, ich hab aufgehört zu zählen.“

Wir gehen ins Stadtzentrum, wo die Sicherheitsvorkehrungen offenbar erhöht worden sind. Polizeibeamte aus dem ganzen Land sind im Einsatz; einer von ihnen erzählt mir später, er sei extra aus Südwales angereist.

Danny berichtet mir von der Frühzeit der EDL. Er war einer ihrer ersten Anhänger, als die Mitgliederzahlen sich noch in den Zehntausendern bewegten.4 Er holt sein Handy raus und fängt an, einen EDL-Song abzuspielen. „I’m here to protest, right, ’cos I’m going on a march ’cos I want Britain to be about British. I want Britain to be about British.“

Ich hole tief Luft. Spielt er diesen Song tatsächlich einer Österreicherin vor, die in Großbritannien lebt?

„Wir haben ein gemischtrassiges Recht und die muslimischen Ungläubigen; sie versuchen, unserem Land ihr Recht überzustülpen.“ Er wartet auf meine Reaktion.

„Ach so“, antworte ich, nicht ganz sicher, was ich tun oder sagen soll. „Werden Sie den auf dem Marsch abspielen?“

„Ja.“ Er schließt die Augen, als ob er sich in einem melancholischen Tagtraum befinde. „Na ja, es ist ziemlich anders geworden im Lauf der Jahre. Am Anfang waren es immer viel mehr, aber jetzt sind es nicht mehr so viele.“ Ich bin mir nicht sicher, ob er Veranstaltungen oder Leute meint. Vermutlich beides. Die Polizisten folgen uns noch immer – auf Pferden, in Autos, zu Fuß.

„Na ja, das Ganze kann in Gewalt ausarten.“ Das war eher eine Feststellung als eine Drohung, obwohl meine Angst vor dieser Gewalt dadurch keineswegs kleiner wurde. Ich glaube ihm. Er hat dunkle Blutergüsse unter den Augen, und ihm fehlen ein paar Zähne.

Wir bleiben vor einem Café stehen. Zuerst nehme ich an, dass wir jetzt frühstücken gehen, und ich spüre, wie meine Stimmung sich aufhellt; bei einem morgendlichen Cappuccino käme man sich wenigstens einigermaßen normal vor. Aber die Bierdosen, die von den EDL-Mitgliedern in großen Zügen geleert werden, machen dieser Aussicht rasch ein Ende. Danny begrüßt mehrere Männer, offenbar Freunde, die er seit einiger Zeit nicht gesehen hat. „Habt ihr schon gehört, dass George im Gefängnis ist?“, fragt er sie. Einige sind zu sehr damit beschäftigt, mich anzustarren, um mitzubekommen, was er sagt. „Oh, das ist Julia.“ Er tätschelt mir die Schulter. „Es ist ihr erstes Mal. Wir müssen ein bisschen auf sie achtgeben.“ Wir haben noch eine Stunde, bis der Marsch anfängt. „Kommen Sie mit in den Pub?“, fragt Danny. „Ich geb einen aus!“ Ich lehne höflich ab und setze mich stattdessen draußen auf eine Bank neben eine junge Frau, die leicht gelangweilt wirkt.

Sarah hat ein schmales Gesicht mit einer schmalen Nase und noch schmaleren Augenbrauen. Ihre Haare sind rot gefärbt, aber ihr Haaransatz zeigt, dass ihre natürliche Haarfarbe hellbraun ist. „Willst ’n Strongbow?“, fragt sie.

„Klar“, sage ich. Einen Cider mit einer Frau zu trinken, die diese bunte Ansammlung von Männern völlig kalt lässt, erscheint mir passend. Ich nehme mir eine Dose.

„Die Polizei hat uns gezwungen, die Fragezeichen abzureißen.“ Sie deutet auf einen kleinen Papierhaufen. Tatsächlich wurde bei jedem einzelnen der Handzettel der Rand abgerissen. Die Frage oben auf dem Flugblatt „Islam – eine friedliche Religion?“ liest sich jetzt wie eine Feststellung. Aber darunter zitiert das Blatt zwölf Koranverse, die Aufrufe zu gewaltsamem Handeln enthalten. Allerdings handelt es sich um unvollständige Verse, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Selbst die radikalsten englischen Übersetzungen des Koran durch Salafisten enthalten keine Passagen wie die folgenden: „Terrorisiert und köpft diejenigen, die an andere Schriften als den Koran glauben“ oder „Die Ungläubigen sind dumm.“

„Du kannst einen behalten“, sagt sie. Ich nehme einen Handzettel und hoffe, dass später niemand einen Blick in meine Tasche wirft.

„Wie bist du dazugestoßen?“, frage ich Sarah. Sie räumt ein, dass sie anfangs nicht gewusst habe, wie sie es angehen sollte, obwohl sie der EDL seit Langem in den sozialen Medien gefolgt sei. „Und dann lernte mein Freund Luke kennen, der uns mit all den anderen bekannt machte.“ Sie steht auf. „Paul!“ Ein attraktiver Mann, in etwas gekleidet, das aussieht wie ein Schlafanzug mit EDL-Logo, taucht auf, kommt zu uns rüber und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir haben eine sechs Monate alte Tochter. Wir sind hier, weil wir wollen, dass unsere Mia in einer besseren Welt aufwächst, stimmt’s, Paul? Ich möchte keine Angst haben, dass sie auf der Straße vergewaltigt wird. Ich möchte nicht, dass sie eines Tages ohne Arbeit dasteht.“ In Ermangelung tröstender Worte verlege ich mich darauf, meinen Cider hinunterzukippen. „Wir können nicht weiter so tun, als wäre alles in Ordnung, wenn es das so offenkundig nicht ist. Allerdings müssen wir jetzt vorsichtig sein. Die Polizei kennt Paul.“ Auch die meisten ihrer Freunde engagieren sich für die EDL. „Es ist wie eine Familie – wir schützen einander“, sagt sie.

„Schützen wovor …?“, frage ich.

„Nun ja, nicht wir sind die Aggressiven, sondern die Linken und die Muslime – die fangen den Streit immer an.“ Im Hintergrund höre ich sie skandieren: „Muslimische Penisse – verschwindet von unseren Straßen.“

„Ich nehm mir noch eins, ja?“ Ein Typ mittleren Alters setzt sich zu uns an den Tisch und öffnet sein Strongbow. „Hi, ich bin Sam.“ Er beugt sich über den Tisch, um mir die Hand zu schütteln. Sam hat ein freundliches Lächeln, auch wenn ihm einige Zähne fehlen. Es dauert nicht lange, bis er mir seine Geschichte erzählt. „Ich war früher Wachmann auf dem Flughafen Gatwick, sodass ich anfangs nicht jedem erzählen konnte, dass ich der League beigetreten bin, weil sie einen sonst vielleicht für einen Rassisten halten. Man muss aufpassen, mit wem man gesehen wird.“ Stolz entfaltet er eine EDL-Fahne, den Moment sichtlich genießend.

Sam ist fest davon überzeugt, dass es „einen gemäßigten Muslim nicht gibt“. Für ihn sind alle Muslime gleich. Er glaubt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Gemäßigten sich dem Extremismus zuwenden würden. Sein Fazit lautet, dass „man niemandem trauen kann, der sich dieser Religion anschließt, weil sie niemals ‚Nein‘ sagen würden, wenn ein Extremist sie um Hilfe bittet“. Genauso würde man doch alles für seine militanten Kumpels hier tun, wenn sie einen darum bäten? Doch ich stelle diese Frage nicht; ganz so mutig hat der Cider mich noch nicht gemacht. Stattdessen höre ich mir Sams Analyse der politischen Dynamik im Nahen Osten an. Seine detaillierten historischen Kenntnisse überraschen mich. Wie naiv war ich anzunehmen, dass alle von der EDL ignorante, uninformierte Schlägertypen sind?

Als einer seiner Freunde sich neben ihn setzt, fällt Sam plötzlich etwas völlig anderes ein, und er fängt an, von einem Halal-Metzger in Bradford zu erzählen: „Und er bedient keine Nicht-Muslime.“ Das ist nicht seine einzige Sorge: „Sie wohnen in unseren Häusern, vergewaltigen unsere Frauen, es ist ein schleichender Prozess, aber sie übernehmen langsam alles, was uns lieb und teuer ist.“ Ich kann seine Verzweiflung spüren; er fühlt sich machtlos. „Die Politiker hören nicht zu. Sie halten uns für extrem und nennen uns Rassisten.“

„Was ist dann die Lösung?“, frage ich, ohne selbst eine Antwort zu haben.

„Vielleicht müssen wir alles mit Atomwaffen zerstören und wieder ganz von vorne anfangen.“

Sein Freund lacht. Ich huste und spucke Cider über meine Hose. Sam steht sofort auf, um eine Serviette zu holen, und bietet an, mir seinen Schal zu leihen, falls mir kalt würde.

„Liberalismus und Toleranz funktionieren nicht, das haben wir gesehen. Die einzige Lösung ist Krieg“, fügt er hinzu, während er sich wieder hinsetzt. Anscheinend teilt er das apokalyptische Weltbild genau jener Leute, die er für jeden Missstand in der britischen Gesellschaft verantwortlich macht. Als ich zynisch eine Augenbraue hochziehe, überkommt ihn ein Moment der Schwäche. „Vielleicht lässt sich Extremismus nur mit Extremismus bekämpfen“, stößt er beinahe im Flüsterton hervor.

Die Demonstration beginnt, und mit jedem Meter, den sie sich vorwärts bewegt, werden die wütenden Gesänge der Menge lauter. Das freundliche Geplauder und warme Lächeln vor dem Café wirken jetzt beinahe surreal. Es ist, als ob Wut alle anderen Gefühlsregungen ausgelöscht hätte. Ich halte mich im Hintergrund, fern von den Kameras. Eine Mitarbeiterin von Quilliam, ertappt inmitten von anti-islamischen Transparenten, Kreuzen und britischen Fahnen, das gäbe eine gute Schlagzeile ab. Als ich mich stattdessen unter die Journalisten mische, begegne ich Sams enttäuschtem Blick. „Komm schon, die ist eine von denen“, höre ich einen seiner Freunde sagen, bevor er mir einen bösen Blick zuwirft. Um nicht ein Zugabteil mit ihnen teilen zu müssen, verlasse ich die Demo frühzeitig. Ich fühle mich schuldig und bin verwirrt: Ich war nicht darauf gefasst gewesen, einen fürsorglichen Trinkgenossen, eine liebevolle Mutter und einen belesenen Intellektuellen auf der Demo zu treffen. Was hat sie zu Unterstützern einer der extremsten antimuslimischen Hassgruppen Großbritanniens gemacht? Wieso hat sich so viel Wut in ihnen angestaut?

Im Zug fange ich an, das politische Handbuch der Hizb ut-Tahrir, From Darkness into Light5, zu lesen, und versuche, mir einen Reim auf Kapitel 4 („Die Feinde des Islam“) zu machen, während mir noch der Kopf dröhnt von dem EDL-Gegröle. Als ich aus dem Zug steige, geht mir der Koran-Vers „Die Spötter erhielten die vernichtende Strafe, die ihnen für ihren Spott prophezeit worden war“6 nicht mehr aus dem Sinn.

Bei der Hizb ut-Tahrir Ich treffe kurz vor sieben Uhr abends in der Mile End Road ein. Die Straße ist nur schwach beleuchtet, was mir zum Vorteil gereicht, weil so die beiden Männer, die vor dem Eingang stehen, mein Gesicht nicht erkennen können. „Ich bin wegen der Kaschmir-Veranstaltung hier.“ Sofort lassen sie mich hinein. Ich gehe die Treppe hoch in die erste Etage, in einen großen Konferenzsaal für ungefähr 300 Personen, vorne mit einem Rednerpodium. Ein Mann steht an der Tür, um die Zuhörer zu begrüßen. Als er mich ansieht, kann ich einen Hauch von Misstrauen spüren. Zum Glück weiß er nicht, dass ich für jemanden gearbeitet habe, den er für einen Verräter hält. Mein Chef, Maajid Nawaz, war einer der wichtigsten Anwerber für Hizb ut-Tahrir. Heute leitet er Quilliam. „Sie müssen da hinübergehen“, sagt der Türsteher schließlich und deutet auf die hinterste Ecke des Saals: den abgesonderten Frauenbereich.

Ich setzte mich neben eine Gruppe von Frauen mit farbenfrohen Hidschābs, weil sie einen freundlichen Eindruck machen. Eine Frau namens Sana fängt sofort ein Gespräch mit mir an. Sana ist eloquent, belesen und hat einen Abschluss von der Westminster University. Zumindest im Frauenbereich scheint sie alle zu kennen. „Ich komme oft zu diesen Veranstaltungen“, erzählt sie mir. „Was machen Sie in London? Sind Sie Studentin?“

Ich beschließe, nicht zu lügen. „Nein, ich habe mein Studium vor noch nicht allzu langer Zeit abgeschlossen. Jetzt forsche ich zum Aufstieg der extremen Rechten und zu antimuslimischen Hassverbrechen. Ich komme sogar gerade von einer EDL-Demo in Telford“, fahre ich fort, bevor sie fragen kann, welcher Forschungseinrichtung ich angehöre.

Es funktioniert. Sana greift das EDL-Thema auf. „Oh, wie heißt noch mal gleich ihr Leiter … Tom … Tommy …“

Ich beschließe, ihr zu helfen. „Tommy Robinson? Er ist nicht mehr ihr Leiter, aber …“

„Ach, stimmt, er ist jetzt bei Quilliam“, unterbricht sie. Quilliams kurzer Flirt mit Tommy im Jahr 2013 entfachte eine landesweite Kontroverse und sorgte für jede Menge abenteuerlicher Gerüchte. Vereinfacht ausgedrückt, gelang es Quilliam, die EDL zu „enthaupten“, was zu einem Mitgliederrückgang von über 25.000 auf lediglich ein paar Hundert führte. Aber es gelang der Organisation nicht, Tommy zu ent-radikalisieren. Er sollte später in seine antimuslimische Rhetorik zurückfallen, nachdem er ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen hatte.

Ich kann es mir nicht leisten, Sana zu vergraulen, also bleibe ich bei meiner Rolle.

„Interessant“, murmele ich.

Aber ein Mädchen neben mir ist neugierig. „Was ist Quilliam?“ Es ist offensichtlich, dass sie zu dieser Veranstaltung mitgeschleppt wurde – sie passt so wenig dazu wie ich, mit ihrem starken Augen-Make-up und dem langen, offenen Haar.

„Die fanatische Lobbygruppe, die dieser Verräter Maajid Nawaz leitet.“ Sana schreit jetzt beinahe. Ich ziehe den Kopf ein, während mehr und mehr Leute eintreffen. Die meisten der 300 Plätze sind inzwischen besetzt. Ich bin froh, als Sana auf das Thema EDL zurückkommt. „Rechtsextreme Gruppen wie die EDL sind lediglich Erscheinungsformen des Bösen, das innerhalb unserer Gesellschaft existiert. In gewisser Weise tun sie mir sogar leid.“ Für sie sind die Aktionen der EDL das Produkt umfassenderer Ideen, die von den Medien und Politikern in Umlauf gebracht werden. Sie sind repräsentativ für alles Böse in den westlichen Gesellschaften. „Wir müssen fragen, woher sie ihre Ideen beziehen. Islamfeindliche Hassverbrechen nehmen zu“, sagt sie. „Vor allem Vorfälle in öffentlichen Verkehrsmitteln sind häufiger geworden. Aber wir müssen einfach Geduld haben, am Ende werden es diejenigen sein, die den Propheten verspotten, die in die Schranken gewiesen werden“, sagt sie und schürzt die Lippen.

Als der Vorsitzende der Hizb ut-Tahrir in Großbritannien, Abdul Wahid, seinen Vortrag beginnt, verstummt der Saal augenblicklich, nur ganz hinten schreit ein Baby. Nachdem er alle Anwesenden begrüßt hat, fängt Wahid an, über die Unterdrückung der Muslime in Kaschmir zu sprechen. Ich habe ein Déjà-vu-Erlebnis. Als er die Vergewaltigung kaschmirischer Frauen durch Inder erwähnt, erinnert mich das an die Reden, die ich früher an diesem Tag gehört habe. Die Formulierung, die er benutzt, ähnelt derjenigen, die von den EDL-Wortführern verwendet wird: „Vergewaltigungsepidemie“ und „keine Achtung vor Frauen“ sind die wiederkehrenden Ausdrücke. Nach Ansicht von Wahid ist Kaschmir nur ein Beispiel für die weltweite Unterdrückung der Muslime. Er überlässt es dem nächsten Redner zu erhellen, was er damit meint. Mohammad Atif spricht explizit den Aufstieg der Rechten überall in Europa, den USA und Australien an. „Westliche Länder auf der ganzen Welt stimmen für antimuslimische Politiker“, sagt er. Seine Stimme ist ruhig, aber ich kann seine Erregung spüren, als er über das spricht, was er „die globale Diskriminierung von Muslimen“ nennt.

„Frankreich hat Studentinnen verboten, den Hidschāb zu tragen, Deutschland hat vor Kurzem den Niqab an Schulen verboten, in den Niederlanden will Geert Wilders den Koran verbieten (seine Partei nennt sich ironischerweise ‚Freiheitspartei‘), in Australien hat die One-Nation-Partei ein Verbot muslimischer Einwanderung gefordert, und, natürlich, vergessen wir nicht den ganzen Zirkus, den wir im Augenblick in den USA erleben.“

Im gleichen Atemzug erwähnt er auch die vorbeugende Strategie gegen Extremismus des ehemaligen britischen Premierministers David Cameron, das „Prevent“-Programm, das seiner Ansicht nach nur ein Instrument zur Ausspionierung von Muslimen ist. „Der ganze Liberalismus und die Toleranz, von der sie reden, erweisen sich als unsicher und brüchig. Wir haben gesehen, dass es der Demokratie nicht gelingt, die Rechte von Minderheiten zu sichern. Muslime werden im Westen im wahrsten Sinn des Wortes drangsaliert, das alles unter dem Deckmantel der Freiheit. Westliche Politiker haben es geschehen lassen. Was vor siebzig Jahren passiert ist, passiert heute wieder. Die Muslime sind die Juden von heute.“

„Träumen wir?“, fragt der nächste Redner, Rizwan Sheikh. „Befreiung, Dschihad – und zwar defensiver Dschihad – ist die einzige Lösung.“ Er erläutert, dass Dschihad bedeute, gegen die Besetzung durch die Kuffär, die Ungläubigen, zu kämpfen und die Welt von Kapitalismus und Kolonialismus zu befreien. „Es gibt kein größeres Übel als diese Zwillingsschwestern.“ Beispielhaft für den notwendigen Dschihad sind laut Rizwan die Stammesmilizen, die während des Indisch-Pakistanischen Krieges von 1947/48 Gebiete Kaschmirs befreiten. „Und genau diese Menschen werden heute im ‚Krieg gegen den Terror‘ bombardiert, von dem wir jetzt wissen, dass er ein Krieg gegen den Islam ist.“ Im Licht dessen, was er den „globalen Krieg gegen den Islam“ nennt, sei es notwendig, dass alle Muslime zu ihrer wahren Identität zurückkehrten und sich „als Bruderschaft“ vereinigten, um allen Feinden entgegenzutreten. Laut Hizb ut-Tahrir wird die Befreiung jedoch nur die eine Hälfte des Problems lösen. Sobald die Länder befreit seien, müsse man ihnen ein System geben. Das für die Zeit nach der Befreiung vorgeschlagene System ist ein Kalifat, das werde das Potenzial all dieser Länder freisetzen.

„Wir nehmen nun Fragen aus dem Publikum entgegen“, schließt der Vorsitzende. Frauen fordert er ausdrücklich auf, Fragen schriftlich einzureichen, falls sie es vorziehen, sich nicht vor allen zu äußern. Die Frau neben mir sieht mich erwartungsvoll an. „Möchten Sie eine Frage stellen?“

Ich zögere. Aber sie versteht mein Schweigen als ein „Ja“ und reicht mir ein Blatt Papier. Ich schreibe meine Frage auf und gebe es ihr zurück.

„Sie möchten nicht aufstehen und sie selbst stellen?“

„Ich bin schüchtern.“

Sie nickt, geht zu den Absperrungen, die uns vom Männerbereich trennen, und gibt meinen Zettel vorne ab. Der Vorsitzende räuspert sich, als wolle er Zeit gewinnen, um aus meiner schludrigen Handschrift schlau zu werden. Ich bedauere augenblicklich, nicht lesbarer geschrieben zu haben. Was, wenn er mich nach vorne ruft, damit ich ihm helfe, meine Buchstaben zu entziffern? „Was kann man tun gegen den Aufstieg rechter Parteien und antimuslimischen Hass überall auf der Welt?“, liest er schließlich vor, die Frage an Mohammad Atif richtend.

Es ist eindrucksvoll zu beobachten, wie Mohammad den aus antimuslimischen Vorfällen resultierenden Unmut geschickt mit dem umfassenderen Scheitern demokratischer und liberaler Systeme und mit der Schlussfolgerung verknüpft, dass die einzige Lösung darin bestehe, ein Kalifat zu errichten. „Ob Modi, Trump oder Wilders – diese Leute haben freie Bahn. Es gibt etwa sechzig muslimische Führer weltweit, doch keiner von ihnen hat sich gegen diese Fanatiker ausgesprochen. Es herrscht völliges Schweigen, weil sie die Muslime in Wirklichkeit gar nicht vertreten. Der ‚Krieg gegen den Terror‘, der finanzielle Zusammenbruch und die dadurch ausgelösten schweren wirtschaftlichen Probleme des Westens hatten ihre Wurzeln allesamt im kapitalistischen System. Dieses Problem wird erst gelöst sein, wenn die Umma [die globale islamische Gemeinschaft] über ihren eigenen Staat, ihre eigenen Medien und ihre eigene Außenpolitik verfügt“, erklärt Mohammad.

„Ich muss gehen“, flüstere ich Sana ins Ohr.

„Okay, Sie sollten zu unseren anderen Veranstaltungen kommen. Und … lassen Sie sich nicht zu sehr auf die EDL ein“, fügt sie augenzwinkernd hinzu.

Als ich die Konferenz verlasse, ist mein Kopf voll von einem seltsamen Mix aus Demo-Gesängen der EDL, Zeilen aus dem Koran und Guy-Fawkes-Feuerwerk. Die beiden Exkursionen vom 5. November in die Denkweisen rechter und islamistischer Extremisten sind ein guter Ausgangspunkt, um die Parallelen und die Dynamik zwischen den beiden Gruppen zu untersuchen.

Wut

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