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Geschichten von Kriegen

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Geschichten ermöglichen Geschichtenerzählern, die Wahrnehmung der Zuhörer zu prägen, indem sie Ereignisse und ihre Akteure in einem bestimmten Licht darstellen. Um ein beliebiges Ereignis zu verstehen, muss unser Gehirn es durch Verknüpfung mit anderen Ereignissen in einen Kontext einordnen. Eine Reihe von Ereignissen, ob wahr oder erdacht, kann in Form einer Geschichte wiedergegeben werden. Der Erzählung haben wir es zu verdanken, dass wir abstrakten Vorstellungen ebenso wie greifbaren Dingen Bedeutung und Wert beimessen können.43 Indem sie ansprechende Geschichten erzählten und gegenwärtige Ereignisse geschickt mit historischen Missständen verknüpften, konnten Extremisten stets ihre binären Weltbilder untermauern. Sie alle haben Geschichten usurpiert, die tief in unserer kulturellen DNA verankert sind, sogenannte Metanarrative, um ihre extremistischen Ideologien zu forcieren.

„Geschichte ist ein oft erzähltes Märchen“, sagte Napoleon. Dieselbe Reihe von Ereignissen kann durch völlig verschiedene Geschichten miteinander verknüpft werden, womit sich das Gesamtnarrativ ändert. Die großen Unterschiede beim Geschichtsunterricht belegen, wie stark das Narrativ variieren kann: „Die Söhne dieser Nation behaupteten sich gegenüber der Besetzung des Suezkanals durch drei Mächte, sie hatten Geduld, waren von einem starken Willen und einem Glauben an den Sieg beseelt“, brachten die üblichen ägyptischen Lehrbücher den jungen Generationen des Landes jahrzehntelang bei. Bis Präsident Abd al-Fattah as-Sisi nach der Machtübernahme im Jahr 2014 den Lehrplan änderte, hatten ägyptische Schulbücher den erfolgreichen Widerstand Gamal Abdel Nassers gegen den britischen Imperialismus meist überbewertet und ihn als Nationalhelden glorifiziert, ohne seine dunkleren Seiten darzustellen. Dagegen schaffen es die heutigen Lehrbücher, mehr als zwanzig Seiten lang über die ägyptische Revolution, die er 1952 anführte, über seine Verstaatlichung der mehrheitlich britisch-französischen Suezkanal-Gesellschaft und die anschließende Suezkrise zu sprechen, ohne auch nur ein einziges Mal seinen Namen zu erwähnen.44

Unterdessen ist in britischen Unterrichtsmaterialien die Behandlung der demütigenden Erfahrung der Suezkrise, die den britischen Einfluss in der Region erheblich schwächte, auf ein Minimum reduziert worden. Faktisch ist der Kurs, der sich mit der Geschichte der Kolonisierung und Dekolonisierung beschäftigt, nicht einmal mehr verpflichtender Bestandteil des Curriculums für das britische Pendant zum deutschen Abitur.45 Neil MacGregor, ehemaliger Direktor des Britischen Museums, hat kritisiert, dass Großbritannien sich beinahe ausschließlich auf die sonnigen Seiten seiner Geschichte konzentriere. „In Großbritannien benutzen wir unsere Geschichte, damit sie uns tröstet und wir uns stärker fühlen“, sagte er.46

Die Ursprünge einiger der schlimmsten innermuslimischen Konflikte finden sich in unversöhnlichen Erzählungen. Beispielsweise lässt sich die Kluft zwischen Sunniten und Schiiten bis in die Zeit unmittelbar nach dem Tod des Propheten Mohammed vor 1400 Jahren zurückverfolgen, als seine Anhänger sich nicht auf seinen Nachfolger einigen konnten. Mit jedem neuen konfliktreichen Vorkommnis wurde der Graben zwischen den beiden tiefer und ihre Narrative unvereinbarer. Heute manifestiert sich diese Auseinandersetzung zwischen dem schiitischen und dem sunnitischen Narrativ in Machtkämpfen beispielsweise zwischen Saudi-Arabien und Iran. Ebenso in den mannigfachen Konflikten und Stellvertreterkriegen, die in Ländern mit bedeutenden sunnitischen und schiitischen Bevölkerungsgruppen, wie etwa Jemen, Bahrain, Libanon, Irak und Syrien, wo religiös motivierte Rivalitäten angeheizt werden 47 Und auch der türkisch-kurdische Konflikt läuft auf die Unvereinbarkeiten zwischen dem Narrativ des kurdischen Nationalismus und dem diametral entgegengesetzten türkischen Nationalismus hinaus, der eine Auslöschung der kurdischen Identität anstrebt.48

Aus Geschichten können im Lauf der Zeit durch Wiederholung ihrer Muster Narrative werden und aus Narrativen Metanarrative. Ein Metanarrativ kann man auch als große Geschichte bezeichnen, die hilft, den oftmals tief in einer Kultur verankerten Kosmos der kleinen Geschichten zu verstehen.49 So fing etwa der globale „Krieg gegen den Terror“ als eine Serie zusammenhängender Ereignisse an, verwandelte sich aber bald in ein Narrativ vom „Westen, der sich im Krieg mit dem Islam befindet“, das von islamistischen Extremisten instrumentalisiert wurde, indem sie es mit einem Metanarrativ von den Kreuzfahrern und vom Endzeitmythos verknüpften.50

Oft genügt ein Verweis auf eine einzelne Geschichte oder auch nur ein einzelnes Ereignis innerhalb einer Geschichte, um den mit einem Metanarrativ verbundenen kollektiven Unmut zu entfachen. Beispielsweise kann es ausreichen, einfach „ 1967“ zu sagen – das Jahr des Sechstagekrieges, als Israel das Westjordanland, den Gazastreifen und die Sinai-Halbinsel eroberte – oder die Hashtags #Chechnya, #Kashmir oder #Srebrenica zu schreiben, um in einer ganzen muslimischen Gemeinschaft Empörung und Hass auszulösen. Dieser Unmut steigert die Anfälligkeit für Mythen und Verschwörungstheorien, die auf der Opferrolle einer Gruppe basieren. Von daher überrascht es nicht, dass der Vertrieb von DVDs, Videocassetten und anderen Belegen für die schlimmsten vom Westen an ihnen verübten Gräueltaten unter islamistischen Extremisten eine lange Tradition hat.51 Bis heute benutzen sie den Verweis auf kollektive Traumata ganzer ethnischer, kultureller oder religiöser Gemeinschaften, um deren kollektive Identität zu stärken und sie an ihre gemeinsame Pflicht zur Verteidigung ihrer Länder zu erinnern. In den sozialen Medien findet diese Strategie mit Aufrufen zum #Jihad oder Forderungen nach #BanIslam Widerhall.52

Am 27. Februar 2017 wurde die Nachricht bekannt, dass die deutsche Geisel Jürgen Kantner von militanten Islamisten der mit dem IS verbundenen Gruppe Abu Sajaf auf den Philippinen enthauptet worden sei, nachdem die Frist für seine zehn Millionen Dollar Lösegeld abgelaufen war. Unter Rückgriff auf zwei getrennte Avatar-Accounts auf Twitter und Telegram chattete ich mit einer Anhängerin der Rechtsextremen und einem islamistischen Extremisten. Beiden stellte ich dieselbe Frage: „Haben Sie von Jürgen Kantners Enthauptung gehört“?

Catha, eine Frau Mitte dreißig und lautstarke Befürworterin der rechtsextremen PEGIDA und der Alternative für Deutschland (AfD), sagte mir: „Das war der letzte Beweis dafür, dass Moslems widerliche Unmenschen sind, die den Westen auslöschen wollen. Sogar auf der anderen Seite der Welt ist das nicht anders.“ Der islamistische Extremist schrieb, dass Abu Sajaf „im Dienste Allahs“ handele und dass die Geisel „ein alter Ungläubiger [gewesen sei], der den Tod verdiente“, als Rache für all die vom Westen begangenen Gräueltaten.

Rechtsextremisten und islamistische Extremisten verknüpfen Ereignisse auf unterschiedliche Weise. Sie erzählen ihre Geschichten aus entgegengesetzten Blickwinkeln und schaffen damit diametral entgegengesetzte Narrative. Opfer und Täter sind vertauscht. Aber das Endergebnis ist das gleiche: Beide Narrative münden letztendlich in dasselbe Metanarrativ von einem unausweichlichen Krieg zwischen Muslimen und Nichtmuslimen.

Islamistischer Extremist Rechtsextremist
Ereignis A enthauptet B. A enthauptet B.
Geschichte Tapferer Soldat Allahsenthauptet Ungläubigen. Niederträchtiger muslimischer Terroristenthauptet westliche Geisel.
Narrativ Islam wehrt sich gegenimperialistischen Westen. Böser Islam greift Westen an undtrachtet nach seiner Vernichtung.
Metanarrativ Islam vs. Kreuzfahrer:Krieg zwischen Muslimenund Nichtmuslimen istunausweichlich. Islam vs. Kreuzfahrer:Krieg zwischen Muslimen undNichtmuslimen ist unausweichlich.

Wer Geschichten erzählt, verfügt über ein wirksames Mittel, um die öffentliche Erinnerung zu kontrollieren und Ereignisse zu deuten. Wenn rund um neue Ereignisketten eine Geschichte ausgeformt wird, entsteht ein intersubjektives System zum Verständnis der Welt und zur Bestimmung der Art und Weise, wie neue Geschichten künftig erzählt werden. In diesem Sinn definieren erzählte Geschichten die Grenzen der kollektiven Vorstellungskraft. Wandel geschieht, wenn fiktive Konstrukte zu zerfallen beginnen – wenn das Unvorstellbare vorstellbar wird.

Die Bildung der Regionalregierung von Kurdistan (KRG, Kurdistan Regional Government) im Jahr 2005 ist ein Beispiel für ein Ereignis, dessen hohe symbolische Bedeutung reale Konsequenzen hatte – nicht nur für die Kurden, sondern für viele Menschen, die im Nahen Osten lebten. Sie markierte den ersten Riss in den fast ein Jahrhundert zuvor gezogenen kolonialen Grenzen und zeigte, dass diese Grenzen künstlich und folglich reversibel waren. Die Erkenntnis, dass Nationalstaaten lediglich Produkte unserer Vorstellungskraft sind, weckte Hoffnungen, dass die Grenzen im Nahen Osten neu gezogen und der Mythos des Nationalstaats hinterfragt werden könnte. Der Sturz Saddam Husseins im Frühjahr 2003 hatte eine ähnliche Wirkung: Die Tatsache, dass eine scheinbar unveränderliche Ordnung unter einem scheinbar unanfechtbaren Führer tatsächlich infrage gestellt werden konnte, ließ Hoffnung aufkeimen unter den Irakern.53 Beide Ereignisse waren daher entscheidende Anstöße für Veränderungen in der Region – sei es in Gestalt des Arabischen Frühlings, sei es bei der Verwirklichung der Idee einer autoritären Theokratie in einem islamischen Staat.

Zwar kann die mangelnde Vorstellungskraft einer Bevölkerung ein wichtiger stabilisierender Faktor in der nationalen Politik sein, aber sie kann auch eine Quelle zwischen- und innerstaatlicher Konflikte sein. Wenn die Art und Weise, wie wir lernen, unsere Vergangenheit zu formen, einen Einfluss darauf hat, wie wir zukünftige Ereignisse deuten werden, dann sind wir alle Gefangene unserer eigenen Geschichte. Meta-narrative prägen unsere Wünsche und unsere Identität und schränken unsere ideologische Flexibilität ein, weil wir uns nur einen bestimmten Verlauf innerhalb der Grenzen unserer vorgestellten Ordnung vorstellen können.

Viele der kompliziertesten und besorgniserregendsten Konflikte unserer Tage wurzeln in gegensätzlichen Geschichten über die Vergangenheit. Sie scheinen unlösbar, weil beide Seiten Gefangene ihrer eigenen Geschichte beziehungsweise ihrer eigenen Deutungen der Geschichte sind. Im Fall von Rechtsextremisten und islamistischen Extremisten ist der Mythos vom „Kampf der Kulturen“ (so der deutsche Titel des 1996 erschienenen Bestsellers The Clash of Civilisations von Samuel Huntington) so zwingend geworden, dass er unüberwindlich zu sein scheint, und das Narrativ „der Westen gegen den Islam“ wird momentan tatsächlich Realität. Was als Geschichtsdeutung anfängt, wird zur identitätsprägenden Realität. Aus Geschichten von Krieg werden Kriege der Geschichten.

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