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1 Das Ende einer kollektiven Illusion

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Unsere Lebensumstände sind heute besser als die jeder Generation vor uns. Global betrachtet sind wir wohlhabender, gesünder und gebildeter als jemals zuvor. Trotz der Finanzkrise von 2008, der nachfolgenden europäischen Schuldenkrise und der gegenwärtigen Migrationskrise befinden sich die weltweiten Lebenserwartungen, Lebensstandards und Alphabetisierungsraten auf einem Rekordhoch.1

Jeden Tag kommen wir den Millenniums-Entwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDG) der Vereinten Nationen einen Schritt näher. Armut, Hunger und Kindersterblichkeit sind niedriger denn je.2 „Das Ende extremer Armut ist in Reichweite“, behauptete im Jahr 2015 Oxfam begeistert.3 Zwischen 1990 und 2011 entkamen eine halbe Milliarde Menschen extremer Armut.4 Die Kindersterblichkeitsrate ist im Lauf der letzten 25 Jahre um 53 Prozent zurückgegangen5, und der Sieg über bedeutende Infektionskrankheiten, wie etwa Malaria, HIV und Tuberkulose, ist in Sicht.6 Für Millionen Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern leben wir in einem goldenen Zeitalter.

Doch trotz des erreichten Fortschritts, Wachstums und Wohlstands kommt es einem so vor, als wären wir nur einen Schritt davon entfernt, in völligem Chaos zu versinken. „Ich habe die Jahre, bevor Hitler an die Macht kam, miterlebt und muss sagen, wir leben heute in ähnlich beunruhigenden Zeiten“, sagte mir meine Urgroßmutter im Oktober 2016. Einen Monat später wurde Trump zum US-Präsidenten gewählt. Im Jahr 1921 geboren, hat meine Urgroßmutter beinahe ein ganzes Jahrhundert durchlebt. Sie wuchs in den goldenen 1920er-Jahren auf, erlebte die Weltwirtschaftskrise, sah, wie Nazideutschland aufstieg und unterging, flüchtete als Sudentendeutsche aus der Tschechischen Republik, zog als alleinerziehende Mutter im Nachkriegsösterreich drei Kinder auf und wurde während der angespannten Jahre des Kalten Krieges eine der ersten Gemeinderätinnen des Landes. Im Alter von achtzig Jahren machte sie einen Universitätsabschluss in Geschichte. „Wir bewegen uns immer weiter weg davon, Probleme gemeinsam zu lösen, und wenden uns von den Errungenschaften der internationalen Zusammenarbeit ab. Diese Rückkehr zu Abschottung und Nationalismus ist erschreckend. Amerika zuerst, Großbritannien zuerst, Österreich zuerst. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was diese kompromisslose Fokussierung auf nationale Interessen anrichten kann.“ Sie beugt sich zu mir herüber und flüstert nun beinahe: „Ich fürchte, dass die Menschen nie aus ihrer Geschichte lernen werden, nicht einmal von den düstersten Kapiteln, die die Welt vor nicht allzu langer Zeit heimsuchten.“

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