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Der schiefe Turm von Jenga

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Die Welt, in der wir heute leben, scheint gespaltener zu sein denn je. Wohin man auch blickt, stößt man auf tiefe Gräben, die unsere Gesellschaften in unterschiedliche Lager teilen: Linke und Rechte, Muslime und Nicht-Muslime, Brexit-Befürworter und -Gegner. „Die kommenden Jahre könnten in vielerlei Hinsicht zu den gefährlichsten der jüngeren Menschheitsgeschichte gehören, besonders da, wo das Risiko sowohl des vollständigen Zusammenbruchs der Großmächte als auch eines Konflikts zwischen ihnen höher ist als je zuvor“, schrieb mein Freund Peter Apps während des turbulenten Sommers 2015 für Reuters.7 Die Spannungen sind überall auf der Welt spürbar: ein zerrissener und von Krieg erschütterter Naher Osten; eskalierende Gebietsstreitigkeiten im Ost- und Südchinesischen Meer, der wiederauflebende russische Nationalismus; eine instabile, skrupellose Türkei, die kurz vor einem Bürgerkrieg steht; ein zunehmend gespaltenes und fremdenfeindliches Europa; und natürlich sollte man nicht vergessen zu erwähnen, dass die Vereinigten Staaten einen ungeniert antimuslimischen Eiferer zum Präsidenten gewählt haben.

Die gegenwärtige politische Lage erinnert an die Schlussrunden in dem Geschicklichkeitsspiel Jenga, wenn der Turm sich bereits so stark neigt, dass das Entfernen eines einzigen weiteren Bausteins zu seinem Einsturz führen kann. Ist es für ein Eingreifen bereits zu spät? Viele der Bausteine, die für ein solides Fundament gesorgt haben – internationale Einigkeit, wirtschaftliche Integration, eine starke politische Mitte –, sind entfernt worden oder werden gerade entfernt. Es fühlt sich fast so an, als seien alte Streitigkeiten zwischen Ost und West, Linken und Rechten, Nord und Süd nie wirklich verschwunden und würden nun wieder an die Oberfläche kommen: ein gefährlicher Cocktail aus den Spannungen eines neuen Kalten Krieges und neofaschistischen Tendenzen. Haben wir deren Zutaten während der vergangenen Jahrzehnte mit uns herumgeschleppt? Reichte ein Anstoß, um sämtliche kollektiv unterdrückten Erinnerungen und Traumata zu wecken?

Um vorhersagen zu können, wie anfällig eine Gesellschaft für Polarisierung und Konflikt ist, haben Politikwissenschaftler einen Index für politische Instabilität entwickelt (= die Summe der Veränderungen bei den Gesamtstimmen pro Partei von Wahl zu Wahl, geteilt durch zwei). Danach hat die politische Instabilität bei verschiedenen EU-Mitgliedern im Lauf des vergangenen Jahrzehnts zugenommen.8 Aber natürlich gibt es keine verlässlichen Indikatoren, um die Wahrscheinlichkeit von Krieg in einer Gesellschaft zu messen. Erst im Nachhinein können Geschichtsbücher die vollständige Historie erzählen, die zur Eskalation eines Konflikts führte. Manchmal erscheinen die Dynamiken so komplex und die Ereignisse so miteinander verflochten, dass selbst eine rückblickende Darstellung der Geschehnisse sich als äußerst schwierig erweist. Noch heute kann man mit Historikern in eine leidenschaftliche Debatte geraten, wenn man darüber spekuliert, welche Entwicklungen zum Ersten Weltkrieg führten. Doch eines ist so gut wie unstrittig: Sobald der Schuss auf Erzherzog Franz Ferdinand abgefeuert war, gab es kein Zurück mehr. Der erste Stein war gefallen und löste damit eine Kettenreaktion aus, die den ganzen Turm zum Einsturz brachte. Ein Ereignis führte unmittelbar zum nächsten, und es war zu spät, als dass irgendein einzelner Staat den Zusammenbruch hätte stoppen können.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Turm wieder aufgebaut. Doch sein Fundament blieb schwach. Auf der Pariser Friedenskonferenz akzeptierten die Alliierten den größten Teil des ehrgeizigen Friedensprogramms von US-Präsident Wilson, das er in seinen „Vierzehn Punkten“ unterbreitet hatte. Es war die Geburtsstunde des Völkerbunds – der gemeinsame Wille zur Sicherung einer friedlichen Zukunft war vorhanden. Aber ebenso Eigennutz. Deutschland wurde als allein verantwortlich für den Krieg erklärt; der Vertrag von Versailles und die Auswirkungen seiner harten Sanktionen ließen die deutsche Bevölkerung leiden. Untragbare Reparationszahlungen, schmerzhafte Gebietsverluste und eskalierende Spannungen im Verhältnis zu Frankreich schürten den Unmut im Nachkriegsdeutschland und verwandelten das Land quasi in eine tickende Zeitbombe.

Schließlich stürzte der Turm unter dem Gewicht des im Versailler Vertrag fixierten Kriegsschuldartikels und der Weltwirtschaftskrise ein. Hitlers Versprechen einer glorreichen Zukunft, die den deutschen „Lebensraum“ erweitern und Deutschland wieder groß machen würde, war verlockend für das deutsche Volk, das verzweifelt auf Veränderung hoffte. Der Wirtschaftsaufschwung schien in Sicht, sein Preis war zunächst unklar. „Wollt ihr den totalen Krieg?“, fragte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1943 im Berliner Sportpalast. Nach fast einem halben Jahrzehnt Krieg, Millionen ausgelöschter jüdischer Leben und schweren Niederlagen an allen Fronten musste sich Goebbels sein Publikum sorgfältig aussuchen, um den Eindruck zu vermitteln, die Öffentlichkeit jubele der Vorstellung eine solchen Krieges zu. Der totale Krieg führte zur völligen Zerstörung des Turms. Diesmal fielen die Steine nicht einfach, sie wurden zertrümmert.

Abermals baute Europa den Turm wieder auf – diesmal auf einer solideren Basis, das dachten jedenfalls seine Architekten. Alle machten mit. Jeder wollte einen weiteren Krieg vermeiden, um jeden Preis. Die Amerikaner pumpten zwölf Milliarden US-Dollar in den Wiederaufbau des Fundaments eines stabilen Kontinents. Nationen kamen zusammen, ließen ihre Feindschaften und Animositäten hinter sich, um die Vereinten Nationen (UN) zu schaffen und die Vorläufer der Europäischen Union (EU) und der Welthandelsorganisation (WTO, World Trade Organization) zu gründen. Wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit galt als Instrument der Friedenssicherung. Man hatte aus der Vergangenheit gelernt, dachten die europäischen Führer. Sie glaubten an den Nutzen überstaatlicher Organisationen und multilateralen Handels als wirksame Prophylaxe gegen Krieg. Niemand wäre imstande, einen wirtschaftlichen Partner anzugreifen, ohne seinen eigenen Interessen zu schaden. Handelsstreitigkeiten würden nicht mehr in bewaffnete Konflikte ausarten. Dies hätte das Ende patriotischer und nationalistischer Narrative und der Beginn einer stabilen Weltordnung sein können.

Leider war es das nicht. „Der kalte Wind von Intoleranz, Autoritarismus und Nationalismus weht durch Amerika und Europa“, lautete ein Nach-Brexit-Artikel der Huffington Post.9 Der Turm scheint erneut wackelig. Am 3. Juni 2016 stimmten mehr als 17 Millionen Briten10 dafür, durch den Austritt aus der EU einen wichtigen Stein aus seinem Fundament zu brechen. Großbritanniens unabhängiger Anti-Terror-Gutachter, Lord Carlile, behauptet, dass die EU einer der wichtigsten Garanten eines friedlichen Europas gewesen sei. „Wenn man diese Periode seit dem Zweiten Weltkrieg, das sind jetzt siebzig Jahre, mit den voraufgegangenen siebzig Jahren vergleicht, dann heißt das Spiel, Satz und Sieg für die EU. Die EU hat Frieden in Europa bedeutet“, sagte er mir ein paar Wochen vor dem Referendum.

Die Furcht, dass der Brexit eine Kettenreaktion in anderen europäischen Ländern auslösen könnte, ist real. Von der in London sitzenden Expertenkommission Demos veröffentlichte Umfrageergebnisse nach dem Brexit vermitteln ein düsteres Bild von der Zukunft Europas. Ihr Umfrage-Projekt „Nothing to Fear but Fear Itself“ („Es gibt nichts zu fürchten als die Furcht selbst“) ergab, dass ein „weit verbreitetes Gefühl von Unsicherheit, Ungewissheit und Pessimismus über den Kontinent hinwegfegt – das eine beispiellose gesellschaftliche und politische Herausforderung für die Zukunft der Union darstellt“. Es bewies, dass Euroskepsis längst kein Phänomen mehr ist, das sich auf Großbritannien beschränkt, sondern das in ganz Europa immer alltäglicher wird.11

Inzwischen haben rechtsextreme Führer überall in den USA und in Europa massiv Zulauf gefunden. Sie spielen hauptsächlich mit der Angst der Menschen vor Muslimen und verwischen dabei bewusst die Linien zwischen dem Islam als individuellem Glauben und dem islamistischen Extremismus als politischer Ideologie, die Religion instrumentalisiert. Dies hat zu einer starken Zunahme von politischer Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus geführt. Die wachsende Unterstützung sowohl für rechtsextreme als auch für islamistische militante Gruppen wurde durch eine Welle von Terroranschlägen und Hassverbrechen auf der ganzen Welt offenkundig.

Während der Erste Weltkrieg durch eine Kettenreaktion ausgelöst wurde, kann man den Zweiten Weltkrieg als Produkt der tickenden deutschen Zeitbombe verstehen. Heute gibt es Grund, sich um eine Wiederholung beider Effekte zu sorgen. Wie der Arabische Frühling gezeigt hat, können zunehmende Interkonnektivität und moderne Kommunikationsmittel ganz leicht Kettenreaktionen nicht nur auf politischer, sondern auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene auslösen. Gleichzeitig genügt ein flüchtiger Blick auf die Weltkarte, um zu sehen, dass es mehr als eine Handvoll tickender Zeitbomben gibt, die dem Deutschland der Zwischenkriegszeit ähneln. Noch besorgniserregender jedoch ist der nichtlineare Charakter der heutigen Bedrohung. Die Extreme zehren immer stärker voneinander und schaukeln sich gegenseitig hoch, wodurch quasi ein Teufelskreis entsteht. Infolgedessen hat sich die natürliche Widerstandskraft unserer Gesellschaften gegen Polarisierung und, in ihrer Fortsetzung, Radikalisierung verflüchtigt. Oder war unsere vermeintliche Immunität gegen Konflikt und Kampf nach dem Zweiten Weltkrieg nie mehr als eine kollektive Illusion?

„Ihr habt keine Ahnung, wie glücklich sich eure Generation schätzen kann“, sagte unsere Geschichtslehrerin der Klasse von dreißig gelangweilten 13-Jährigen im Jahr 2003. Wir hatten gerade über Schindlers Liste gesprochen und würden uns gleich wieder in Gruppenarbeit dem Thema Zweiter Weltkrieg zuwenden. Ich weiß noch, wie ich Blicke mit einer Klassenkameradin wechselte, die damit beschäftigt war, unter der Bank ihr Kipferl aufzuessen. Damals verstand keine von uns, was die Lehrerin meinte. Die Vergangenheit war uns ziemlich egal, wir sahen wenig Bezug zur Gegenwart, und für die Zukunft interessierten wir uns noch weniger.

Im Jahr 1942 veröffentlichte der österreichisch-jüdische Schriftsteller Stefan Zweig unter dem Titel Die Welt von gestern die „Erinnerungen eines Europäers“. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bezeichnete er als das „goldene Zeitalter der Sicherheit“:

„An barbarische Rückfälle wie Kriege zwischen den Völkern Europas glaubte man so wenig mehr wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbare bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen und Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsam Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein.“12

Wir erlebten ein weiteres „goldenes Zeitalter der Sicherheit“. „Die Geschichte tendiert dazu, sich zu wiederholen, in einer Art Endlosschleife“, glaubt meine Urgroßmutter. Stefan Zweigs Die Welt von gestern ist zeitlos, gerade weil das Gestern von Heute dem Gestern von Stefan Zweig so sehr ähnelt: Nach dem Ende des Kalten Krieges erschien die europäische Stabilität unerschütterlich, die Vorstellung eines weiteren Krieges abwegig. Die Generationen X und Y sind in der Illusion immerwährenden Friedens und Wohlstands aufgewachsen. Die Generation, die erlebt hat, was Krieg heißt – die Kriegsgeneration –, stirbt aus. Die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen wurden in der harten Nachkriegszeit groß; sie erlebten und sahen die Folgen des Krieges. Die nachfolgenden Generationen X und Y dagegen setzten sich mit dem Thema eher abstrakt auseinander – in der Schule –, ohne emotionalen Bezug. Die Nachkriegs-Babyboomer verstanden vielleicht vage die Leiden ihrer Eltern, auch ohne darüber zu reden, während meine Generation darüber redet, ohne zu verstehen.

Die Jugoslawienkriege lasteten schwer auf den Schultern der Generation meiner Eltern, aber es waren die Kriege einer anderen Welt: der ehemals kommunistischen Welt. Wir im Westen galten als immun gegen Krieg. Schließlich hatten wir die vorbeugende Schutzimpfung der UN, der WTO, der EU und sogar der NATO bekommen. Doch dieses vergangene Jahrzehnt hat die Ohnmacht jener internationalen Organisationen enthüllt, die wir für unsere unbezwingbaren Vorreiter für Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Wohlstand gehalten haben. Im Licht der globalen Finanzkrise, der Migrationskrise und der wachsenden terroristischen Bedrohung wirken sie alle zahnlos.

„Cette fois, c’est la guerre“ („Diesmal ist es Krieg“), verkündete die französische Tageszeitung Le Parisien nach den Terroranschlägen in der französischen Hauptstadt, bei denen im November 2015 mehr als 130 unschuldige Zivilisten getötet wurden. Es war das erste Mal seit dem Algerienkrieg, dass ein französischer Staatspräsident offiziell das Wort „Krieg“ benutzt hatte. „Es war ein Gefühl, als wäre ich in einen Albtraum gefallen“, erinnert sich ein Pariser Freund. Matthieu trank gerade ein paar Straßen vom Bataclan entfernt ein Glas Wein, als die ersten Schüsse fielen. Der studierte Politikwissenschaftler denkt ein paar Sekunden darüber nach, während wir durch die militarisierten Straßen von Paris spazieren. „Oder vielmehr aus einem Traum erwacht. Plötzlich schien Krieg wieder möglich zu sein.“ Sogar die Franzosen, ausgerechnet, waren entsetzt, als sie das Wort „Krieg“ hörten und Polizisten vor dem Louis-Vuitton-Laden auf den Champs-Élysées stehen sahen. Doch wir alle hatten den kollektiven Irrglauben an den ewigen Frieden geteilt; Frankreich machte da keine Ausnahme. Der Verlust dieses Gefühls von Sicherheit kommt einem beinahe so vor wie ein gebrochenes Versprechen, als seien wir betrogen worden.

Das Vertrauen in internationale Institutionen und nationale Verfassungen schwindet, die Funktionsfähigkeit der Demokratie steht auf dem Prüfstand. Und genau vor diesem Hintergrund rücken nun ein globaler dschihadistischer Aufstand und eine Renaissance der extremen Rechten bedrohlich in unser Blickfeld. Extremisten waren immer schon gut darin, aufkommende Unsicherheiten und Ängste zu ihrem Vorteil zu nutzen, sie blühen in unsicheren Lebenswelten auf, wo ihre apokalyptischen Geschichten auf breite Resonanz stoßen.

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