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Vorwort

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Alles sah anders aus, als ich im Mai 2016 begann, dieses Buch zu schreiben: Brexit und Trump lagen außerhalb der Grenzen des Vorstellbaren, die AfD saß noch nicht im Bundestag und die FPÖ noch nicht in der österreichischen Regierung. Deutschland war bis dato vom Terror verschont geblieben, und der Großteil der Bevölkerung hatte den Glauben an ein gemeinsames „Wir schaffen das“ noch nicht aufgegeben.

Doch bereits wenige Wochen später wurde die Regionalbahn bei Würzburg zum ersten Schauplatz einer Terrorwelle, die über Deutschland hereinbrechen und zum politischen Wendepunkt werden sollte. Schnell stand fest: Der IS hatte Europas Achillesferse entdeckt. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern Dutzende Male trafen seine Anhänger uns dort, wo es besonders weh tut: wo wir uns sicher fühlten, wo wir feierten, tanzten und tranken; und wo sie unseren Alltag am meisten beeinträchtigen konnten.

Schon bald begannen die Zustimmungsquoten für Merkels Willkommenskultur ihre rasante Talfahrt und hinterließen ein Vakuum, das die politischen Ränder ebenso wie antidemokratische, extremistische Bewegungen bereitwillig füllten.

Politisch motivierte Strafdelikte und Terror-Ermittlungsverfahren stehen derzeit in Deutschland auf einem neuen Höchstniveau. Prozesse gegen Terrorgruppen wie den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), die Bürgerwehr Freital und die Oldschool Society rückten das Problem des Rechtsextremismus, das bislang im Schatten der dschihadistischen Bedrohung stand, stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Laut Bundeskriminalamt wurden im Jahr 2016 insgesamt 1698 rechtsmotivierte Gewalttaten und 995 Straftaten gegen Asylunterkünfte gezählt.1 Etwa 23 100 Personen sind in rechtsextremen Organisationen aktiv, die Hälfte davon werden als gewaltorientiert eingestuft.2 Gleichzeitig hat sich die Zahl der bundesweiten Salafisten seit 2010 fast verdoppelt: Das Bundesministerium für Inneres geht derzeit von ungefähr 8000 SalafistInnen bundesweit aus, davon knapp 700 gewaltbereite „GefährderInnen“.3

Als Analystin bei der Londoner Extremismusbekämpfungsorganisation Quilliam, die von ehemaligen Islamisten gegründet wurde, war es mein oberstes Ziel, die Pläne von Terroristen zu durchschauen und frühzeitig zu durchkreuzen. Meine damaligen Bosse – der eine ehemaliger Anführer der in Deutschland verbotenen islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir, der andere Ex-Al-Qaida Feldherr – haben mich gelehrt, so zu denken wie Terroristen.

Mein Zugang zu den internen Diskussionen von Dschihadisten hat mir dabei geholfen, die scheinbar willkürlichen Anschläge als das zu sehen, was sie sind: Teil eines inszenierten Schauspiels, hinter dem sich ein raffiniertes Drehbuch verbirgt. Zu meinem Entsetzen tanzen Politiker, Journalisten und Wähler nach dem von Terroristen verfassten Skript. Es ist genau das eingetroffen, worauf Dschihadisten in ihren Privatchats spekulierten: eine zunehmend gespaltene Bevölkerung, die es ihnen leicht macht, die verschiedenen demokratisch legitimierten Akteure gegeneinander auszuspielen und den politischen Diskurs zu bestimmen.

In meinen Gesprächen mit Extremisten in rechtsradikalen Foren erkannte ich, dass das Drehbuch der Rechtsextremen dem der Islamisten erstaunlich ähnlich ist. Beiden ging und geht es darum, durch kontrollierte Provokation und strategische Polarisierung das selbstzerstörerische Potenzial der Gesellschaft freizusetzen, sodass sie letztendlich freie Bahn haben, um ihr eigenes radikales Modell zu etablieren.

Als in London lebende Österreicherin beschäftigt mich vor allem die internationale Dimension des Terrors und seiner Effekte. Ich beobachte, wie sich Dschihadisten aus ganz Europa vernetzen und wie ultranationalistische Netzwerke länderübergreifend agieren. Die Zusammenarbeit und das kollektive Lernen extremistischer Gruppen kennen weder nationale Grenzen noch sprachliche Barrieren. Auch die politischen und gesellschaftlichen Überreaktionen, die auf Terroranschläge folgten, waren und sind ein globales Phänomen. Deutschland ist in vielerlei Hinsicht mittendrin: Vor allem Angela Merkel und die ihr zugeschriebenen „Terrormigranten“ wurden schon bald zur Hauptreferenz für die internationale Rechte.

Inmitten des aufgeheizten Brexit-Votums im Juni 2016 kam es zum Mord an der britischen Abgeordneten Jo Cox durch den Rechtsextremisten Thomas Mair. Sie hatte sich intensiv für die Rechte von Flüchtlingen eingesetzt. Ich nahm den Terroranschlag, der mir sehr naheging, zum Anlass, mich eingehender mit der Wechselwirkung unterschiedlicher Formen von Extremismus zu beschäftigen und den Zusammenhängen auf den Grund zu gehen. Das hat mich jeden Tag motiviert, mich in die Netzwerke extremistischer Organisationen einzuschleusen, grausame Propagandamaterialien zu durchforsten und herausfordernde Gespräche mit radikal ausgerichteten Menschen zu führen.

Ob beim Cider-Frühstück mit der rechtsextremen English Defence League, beim Mittagessen mit den Identitären oder bei einer Abendveranstaltung mit den Islamisten von Hizb ut-Tahrir – nirgends habe ich so viel über die Motivationen und Strategien von Extremisten gelernt wie im direkten Gespräch mit eben jenen. Aufbauend auf Jo Cox’ Überzeugung, dass wir „viel geeinter sind und weit mehr Gemeinsames als Trennendes haben“, wollte ich mit der Arbeit an diesem Buch ein besseres Verständnis für die Faktoren bekommen, die entgegen diesem Grundsatz spaltend auf unsere Gesellschaft wirken. Diese Faktoren zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen und die Triebkräfte zu verstehen, die den Nährboden für die Radikalisierung auf beiden Seiten bilden, ist eine Grundvoraussetzung, um die Extremismusspirale zu durchbrechen und künftige Terroranschläge zu verhindern.

Wut

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