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Das Zeitalter der Wut

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In den letzten Jahren jagte im Westen ein folgenschweres Nachrichtenereignis das andere: Terroranschläge in Paris, San Bernardino, Brüssel, Orlando, Nizza, München, Berlin, Quebec (Stadt), London Westminster, Manchester, Portland, London Bridge, Finsbury Park, Barcelona, Charlottesville. Im selben Zeitraum gab es den Brexit, einen Putschversuch in der Türkei, Burkini-Verbote in Frankreich, einen antimuslimischen Präsidenten im Oval Office, 46 Prozent Unterstützung für einen rechten Waffen-Befürworter bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich, einen besiegten Ministerpräsidenten in Italien, die AfD im deutschen Bundestag und den Aufstieg des Nationalismus in Europa.

Diese Ereignisse waren Erschütterungen, mit denen intakte Gesellschaften hätten zurechtkommen können. Doch alles in allem haben sie die Spaltungen innerhalb unserer Gesellschaften vertieft und uns dahin gebracht, wo wir heute stehen.

Die meisten der bedeutenden westlichen Staatsoberhäupter, die die Weltordnung nach der Finanzkrise geprägt hatten, sind längst aus dem Amt geschieden: David Cameron, Barack Obama, Matteo Renzi, François Hollande. Eine neue Ära hat begonnen – der New Statesman hat sie als das „Zeitalter des Putinismus“ bezeichnet; der Guardian nannte sie die „Ära des Trumpismus“. Ich nenne sie das „Zeitalter der Wut“.

Diese Ära ist gekennzeichnet durch einen Teufelskreis aus emotional getriebenen Aktionen und Reaktionen. Ob in den sozialen Medien oder auf der Straße, Wut und Angst sind omnipräsent: Hassverbrechen erleben momentan innerhalb und außerhalb des Netzes ein Allzeithoch. Der Brexit und Donald Trump gehören zu den Produkten dieser globalen Zunahme der Wut, ebenso die Terroranschläge.

Im Zeitalter der Wut blicken EU und NATO in eine ungewisse Zukunft. Die Spannungen zwischen ihren mächtigsten Mitgliedern nehmen zu, das Niveau gegenseitigen Vertrauens sinkt. Und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Mit den Worten von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk sieht sich der Westen gegenwärtig den „größten Sicherheitsherausforderungen seit einer Generation gegenüber“.16 Schwer bewaffnete Soldaten patrouillieren durch die touristischen Hotspots in Paris, Brüssel, Nizza und anderen europäischen Großstädten. Die deutsche Bundesregierung bricht mit den letzten noch aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg verbliebenen Tabus, indem sie die staatliche Überwachung weiter ausbaut. Unterdessen löst sich das Vereinigte Königreich von Europa und wird möglicherweise die wachsenden ökonomischen Lasten, aber auch die immer entscheidenderen nachrichtendienstlichen Informationen mit seinen Nachbarn künftig nicht mehr teilen. Wahrscheinlich werden die rapide steigenden Raten bei den Hassverbrechen das einzige gemeinsame Merkmal sein, das den europäischen Binnenmarkt überdauert.

Die Welle terroristischer Anschläge im Herzen Europas war eine eindringliche Erinnerung daran, dass die westlichen Demokratien nicht immun sind gegen Konflikt und Gewalt. Nach dem Schock, der die Illusion unserer Generation vom ewigen Frieden unwiderruflich zerstört hat, suchen viele nach jemandem, dem sie die Schuld geben können. Jeder hat seinen eigenen Sündenbock ausgemacht: Muslime, untätige Politiker und eine inkompetente Polizei – sie alle stehen ganz oben auf der Liste. Weiter unten stoßen wir auf den Kapitalismus, Eurokraten, die Globalisierung, Putin und viele andere. Allerdings haben all die Schuldzuweisungen, die Suche nach Sündenböcken und Panikmache einen hohen Preis. Während Narrative von den Rändern des politischen Spektrums in Europa und den USA zum Mainstream mutieren, erleben Extremisten, wie ihre binären Weltbilder Wirklichkeit werden. In gespaltenen Gesellschaften blüht der Terrorismus. Wie viele weitere Erschütterungen und Risse können unsere Gesellschaften noch verkraften, bevor die apokalyptischen Visionen der Extremisten von einer Konfrontation zwischen „dem Westen und dem Islam“ zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden?

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