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Extremistische Geschichtenerzähler

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Den Extremismus studieren, ohne Geschichten zu studieren, ist, als würde man das Gehirn studieren, ohne die Neuronen zu studieren. „Wir haben Geschichten verwendet, um unsere extremen Ideologien zu bewerben“, erzählt mir Ivan Humble am Telefon. Der ehemalige Regionalleiter der EDL rekrutierte früher Leute für die Ostengland-Fraktion der Gruppe. Für den schottischen Philosophen Alasdair MacIntyre ist der Mensch „in seinen Handlungen und in seiner Praxis ebenso wie in seinen Fiktionen im Wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier“.13 Es ist das Narrativ, das alles miteinander verknüpft: Es fungiert als Bindeglied zwischen gewaltlosem und gewalttätigem Extremismus ebenso wie zwischen Rechtsextremismus und islamistischem Extremismus. „Die Leute zu radikalisieren war leicht; ich musste einfach bessere Geschichten erzählen als das Establishment“, erklärt Ivan. „Die meisten Leute, mit denen ich sprach, hatten bereits ihre Ansichten; die musste ich nur noch verstärken, indem ich ihre bestehenden Vorurteile mit aktuellen Ereignissen verknüpfte und sie vom Narrativ der EDL überzeugte.“

Geschichten haben sowohl fiktive als auch reale Folgen.14 Die Schaffung gemeinsamer Mythen hat Menschen ermöglicht, in großen Gruppen zu kooperieren und in größeren Gemeinschaften zusammenzuleben.15 Der israelische Historiker Yuval Noah Harari vertritt sogar die These, dass alle Arten menschlicher Kooperation und jegliche Machtstrukturen in gemeinsamen Mythen und Geschichten wurzeln.16 Nur dank unserer kollektiven Vorstellung von Staaten, Geld, Göttern und Rechten waren wir imstande, politische Institutionen, Handelsnetze, religiöse Gemeinschaften und soziale Bewegungen zu schaffen. Die Weltbank heute wäre machtlos, wenn wir uns Währungen, Wechselkurse und Derivate nicht vorstellen könnten. Die UN wären sinnlos, wenn wir Konzepte wie Demokratie, Gleichheit oder Redefreiheit nicht kollektiv verstehen könnten.

Die heutige Weltordnung – einschließlich ihrer vom Washington-Konsens bereitgestellten geistigen Grundlagen, der Idee eines freien Marktes, des Nationalstaatskonzepts – ist nichts weiter als eine auf die Schaffung von Stabilität abzielende kollektive Fiktion. Im Gegensatz zu den Naturgesetzen ist die fiktive Ordnung darauf angewiesen, dass Menschen an sie glauben.17 Selbst wenn die Hälfte der Weltbevölkerung aufhörte, an die Schwerkraft zu glauben, würden Äpfel nicht aufhören, von Bäumen zu fallen. Aber Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit gehen wahrscheinlich unter, sobald Menschen aufhören, an sie zu glauben. Da Extremisten bis heute gut darin sind, Geschichten über korrupte politische Institutionen, manipulierte demokratische Systeme und „Fake“-Medien zu erzählen, läuft die heutige Weltordnung Gefahr, zusammenzubrechen.

Die Macht der Fantasie im Verein mit der Fähigkeit, ihre Produkte großen Zielgruppen zu vermitteln, kann eine wichtige Triebkraft des Wandels sein. Jede erfundene Ordnung ist intersubjektiv, was bedeutet, dass sie nur infrage gestellt werden kann, indem „Millionen von Unbekannten“ überzeugt, überredet oder manipuliert werden, an eine neue Ordnung zu glauben.18 Eine Veränderung der sozialen, politischen oder ökonomischen Ordnung wird daher durch Beeinflussung des kollektiven Bewusstseins hervorgerufen. Ein Machtkampf ist nichts anderes als ein Wettbewerb darum, wer die bessere Geschichte erzählt, weil die beste Geschichte die Massen mobilisieren und beherrschen wird.

Eine bleibende Veränderung der Sozialstrukturen ist nicht allein durch Gewalt und Zwang erreichbar, vielmehr müssen viele Menschen ein auf einer gemeinsamen Geschichte beruhendes Ziel teilen.19 Die Französische Revolution wäre höchstwahrscheinlich nicht erfolgreich gewesen ohne die Pionierarbeit von Ideologen wie Montesquieu, Mirabeau und Rousseau. Sie stellten den intellektuellen Unterbau für die Zehntausende von Kämpfern bereit, die dann die Straßen überschwemmten. Heute können neue Narrative und Identitäten auf alle möglichen Arten geschaffen, ausgedrückt und beeinflusst werden, das Spektrum reicht von den Printmedien bis hin zu visuellen Darstellungen in der Kunst.20 Es ist kein Zufall, dass Medien- und Kunstschaffende als Erste zum Schweigen gebracht, unterdrückt und verfolgt werden, wenn Regime sich in Gefahr sehen. Laut PEN International leben gegenwärtig Hunderte oder sogar Tausende von Journalisten, Autoren und Künstlern im Exil.21

Die erfundene Ordnung prägt unsere Wünsche, indem sie Wertesysteme schafft22, aber unsere Wünsche können auch gegen uns verwendet werden, um die erfundene Ordnung zu beeinflussen. Da unsere Emotionen, Gewohnheiten und Ziele wegen des digitalen Fußabdrucks, den unsere Handlungen hinterlassen, sich heute leicht zurückverfolgen lassen, können unsere künftigen Entscheidungen in Marktstudien ermittelt und durch gezielte Kommunikationskampagnen manipuliert werden. Dies ist von denjenigen, die Macht erlangen, festigen oder behalten wollen, immer wieder missbraucht und ausgenutzt worden. Ob Politiker, Autoverkäufer oder Journalisten, sie alle benutzen unsere Wünsche und Anliegen, um ihre jeweilige Agenda zu verfolgen – sei es, dass sie eine Wahl gewinnen, ihre Absatzziele erreichen oder ihre Leserschaft vergrößern wollen. Im Konsumzeitalter sind wir gebrauchsfertige Lösungen gewohnt – der homo consumericus glaubt, was auch immer der beste Geschichtenerzähler ihm oder ihr verkauft. Wir sind anfälliger für Manipulation als je zuvor.

Rechtsextremisten wie islamistischen Extremisten ist es bislang außerordentlich gut gelungen, uns so zu manipulieren, dass wir ihre Geschichten glauben und daher gemäß den Regeln ihrer fiktiven Weltordnung handeln. Nehmen wir die Titelseiten ihrer Hochglanzmagazine auseinander und erhellen wir die Kommunikationsstrategien, die sich hinter ihrer Propaganda verbergen. Das Erfolgsrezept der Geschichten von Extremisten besteht aus fünf Grundzutaten, manchmal, je nach Geschmack ihrer Zielgruppe, ergänzt durch zusätzliche Würze.

Einfachheit: der Star-Wars-Effekt Die erste Zutat ist Einfachheit. „Gut und Böse sind das Yin und Yang der menschlichen Natur“, sagte der berühmte amerikanische Sozialpsychologe Philip Zimbardo.23 In einer immer komplexeren Welt können Schwarz-Weiß-Narrative, die sämtliche verwirrenden Grauzonen eliminieren, tröstlich und beruhigend sein.

„Extremisten liefern eine Antwort auf den Wunsch der Menschen nach Einfachheit innerhalb unserer ungemein komplexen globalen Lebenswelt“, erfahre ich von dem arabisch-israelischen Psychologen Ahmad Mansour. Er selbst wurde in seiner Jugend durch islamistische Extremisten radikalisiert. „Von jetzt an werden sie dich bekämpfen“, sagte ihm der Anführer der Muslimbruderschaft in seinem Dorf Tira, als er bemerkte, dass Ahmad regelmäßig auf ihren Versammlungen erschien. Man gab ihm Broschüren und Kassetten, die auf dem Narrativ von der globalen Opferrolle der Muslime basierten. „Allmählich glaubte ich, dass die gesamte nichtmuslimische Welt sich im Krieg mit dem Islam befand“, erinnert er sich. „Diese Weltsicht bestimmte jahrelang mein Denken und Handeln.“

Ein Blick auf die beliebtesten Filme aller Zeiten genügt, um zu erkennen, dass wir eine Schwäche für binäre Weltbilder haben: So unterteilt etwa der Star Wars-Kosmos die Welt in die helle und die dunkle Seite der Macht. James Bond, Indiana Jones, American Sniper und sogar Kung Fu Panda tun nichts anderes. In gewisser Weise erzählen sie auf der Basis je anderer Charaktere und eingebettet in je andere Kontexte alle die gleiche Geschichte. Man könnte Daniel Craig durch Bradley Cooper oder Harrison Ford ersetzen und den Drehort von US-Casinos in irakische Kampfzonen oder den Tempel des Todes verlegen, ohne wesentliche Änderungen am Kern der Geschichte vorzunehmen. Ich werde dies den „ Star-Wars-Effekt“ nennen.

Stimmigkeit: der Burkini-Effekt Noch wichtiger als Einfachheit ist Stimmigkeit – damit ist nicht nur Stimmigkeit im Narrativ selbst gemeint, sondern ebenso die Übereinstimmung zwischen Erzählung und Handlung. Auch in der Literatur reicht es nicht, eine stimmige Geschichte zu erzählen: „Gute Geschichten erzählen nicht, sie zeigen“, lautet die erste Regel beim Schreiben. Ob wir ein Buch lesen oder Politikern zuhören – Worte, denen keine Taten folgen, sind frustrierend.

Extremisten waren immer schon gut darin, stimmige Narrative zu liefern – die Einfachheit ihrer Erzählformen ist dabei hilfreich. Ihre Geschichten ergeben sogar nicht nur für sich genommen Sinn, sondern stimmen auch mit dem Weltbild des anderen Extrems überein. Es gibt deshalb eine Kompatibilität zwischen extremistischen Narrativen, die eine bizarre Symbiose zwischen entgegengesetzten Extremen schafft. Ob man in Star Wars auf der hellen oder der dunklen Seite steht, ändert im Prinzip nichts an der Geschichte; das einzige, was sich ändert, ist die Perspektive. Dasselbe gilt für Rechtsextremisten und islamistische Extremisten – sie agieren in demselben Film, verstärken dadurch dieselbe Geschichte und helfen einander auf diese Weise als Geschichtenerzähler. Während islamistische Extremisten uns erzählen, dass „der Westen sich im Krieg mit dem Islam befindet“, erzählt uns die extreme Rechte, dass „der Islam sich im Krieg mit dem Westen befindet“. Während rechtsextreme Gruppen gewöhnlich den Islam als das einzige Problem ansehen, halten islamistische Extremisten den Islam für die einzige Lösung. Man braucht bloß Protagonist und Antagonist oder Problem und Lösung zu vertauschen, um zu erkennen, dass ihre Narrative sich gegenseitig perfekt ergänzen, wenn sie nicht gar identisch sind.

Die Narrative des sogenannten Establishments andererseits sind keineswegs stimmig, was Extremisten auf allen Seiten des politischen Spektrums zugutekommt. Die Kluft zwischen seinen Worten und seinen Taten ist in den westlichen Ländern immer breiter geworden, da es als Reaktion auf die heutigen terroristischen Bedrohungen rigoros gegen Bürgerrechte vorgeht. Im Licht einer Reihe übergriffiger politischer Initiativen zur Terrorbekämpfung in jüngster Zeit (darunter Maßnahmen, die in unverhältnismäßiger Weise auf Muslime abzielen, wie etwa die umstrittenen Burkini-Verbote24 klingen Frankreichs Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit allmählich wie ein schlechter Witz. Dieser „Burkini-Effekt“ ist insoweit alltäglich geworden, als die europäischen Regierungen sich nach Kräften bemühen, einen Mittelweg zwischen der strategisch besten und politisch vorteilhaftesten Lösung zu finden. Um an der Macht zu bleiben, müssen sie sich mit den Sorgen und Befürchtungen ihrer Bevölkerung befassen, ohne jedoch genau die Prinzipien zu opfern, die sie vor dem Extremismus zu schützen trachten: Demokratie, Menschenrechte und Pluralismus. Kurz, auf die Beharrlichkeit kommt es an.

Empfänglichkeit: der FPÖ-Effekt Auch die Empfänglichkeit für die Klagen und Wünsche der Bevölkerung zählt. Martha – eine Studentin an der Wirtschaftsuniversität Wien – ist in vielerlei Hinsicht der Prototyp einer Studentin. Sie sieht gut aus und ist beliebt, trägt teure Designerschuhe und ein Tommy-Hilfiger-Sakko. Martha kommt aus einer Kleinstadt in Oberösterreich, genießt aber jetzt seit mehreren Jahren ihr Studentenleben in Wien. Im Sommer trifft sie sich mit Freunden auf einen Aperol-Spritz am Donaukanal, im Winter trinkt sie nach ihrem Buchhaltungsseminar (oder währenddessen) auf dem Campus Glühwein. Man sollte meinen, ihr Leben sei frei von Sorgen. Doch sie ist zutiefst beunruhigt, wie sie mir ein paar Wochen vor der österreichischen Präsidentschaftswahl 2016 in einem kleinen Café unweit des neuen Universitätscampus anvertraut. Sie erzählt mir von ihren Befürchtungen, dass Österreich von Immigranten überflutet und eines Tages von der Scharia regiert werde. „Sie sind überall. Wenn ich im Bezirk Ottakring rumlaufe, sehe ich nur noch verschleierte Gesichter und höre nur noch fremde Sprachen. Ich kann ihre Blicke spüren, wenn ich einen Rock trage. Aber ich will keinen Umweg machen, nur weil unsere Politiker unfähig sind, dafür zu sorgen, dass unser Land sicher ist.“ Sie glaubt, dass Österreichs etablierte Politiker kein Ohr für die Anliegen des Volkes haben und nicht darauf reagieren. „Warum sollten wir ihnen [den Politikern an der Macht] zuhören, wenn sie uns nicht zuhören?“

Eines der fünf Hauptmotive, warum Österreicher im März 2016 dem rechtspopulistischen Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer ihre Stimme gaben, war, dass sie der Ansicht waren, er spreche die richtigen Themen an.25 „Zumindest hat die FPÖ [Freiheitliche Partei Österreichs] meine Anliegen thematisiert“, bestätigt Martha. Um sicherzustellen, dass junge Leute sich gehört fühlen, ist es notwendig, jene Debatten zu thematisieren, die ihnen wichtig sind. Eine Zielgruppe anzusprechen, heißt, ihre Klagen und Wünsche ernstzunehmen. Das „Establishment“ ist zur leichten Zielscheibe für Kritik von den Rändern des politischen Spektrums geworden, weil es genau das versäumt. Beispielsweise beschäftigt das Massaker von Srebrenica, bei dem im Sommer 1995 mehr als 8000 muslimische Bosnier ermordet wurden, die fast 170.000 slawischen Muslime, die heute in Deutschland leben.26 Dennoch ist es ein Thema, das in der politischen Debatte bislang so gut wie nicht vorgekommen ist. Andererseits waren viele gebürtige Deutsche der Meinung, dass ihre Sorgen um nationale Identität und Multikulturalismus im Diskurs der etablierten Politiker über Immigration nicht hinreichend thematisiert wurden.

Rechtsextremisten und islamistische Extremisten haben diese Lücken ausgenutzt und ihr Zielpublikum dort abgeholt, wo es herkommt. Sie reagieren auf verbreitete Besorgnisse, indem sie einfache Antworten auf komplexe Fragen anbieten. Politiker in Machtpositionen sind zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, als dass sie die Geschichten thematisierten, die ihrer Zielgruppe wirklich wichtig sind. Das hatte zur Folge, dass die dominierenden Parteien weit davon entfernt waren, auf derselben Wellenlänge zu sein wie ihre Zielgruppe. Damit Menschen einer Geschichte zuhören, müssen sie zunächst einmal für ihren Inhalt interessiert werden. Zweitens müssen sie sich mit ihren Protagonisten identifizieren können.

Identifizierung: der Tinder-Effekt Bilder attraktiver Menschen, die mit Katzenbabys posieren, findet man nicht nur auf Dating-Apps wie Tinder. Extremisten haben diesen Trend aufgegriffen: Im Jahr 2014 warnte ein UN-Report, dass sich Fotos des IS in den sozialen Medien, auf denen Dschihadisten Kätzchen und Kalaschnikows in die Kamera hielten, zu einer erfolgreichen Rekrutierungsstrategie entwickelten.27 Das IS-Propagandamagazin Dabiq28 zeigt in seiner Ausgabe vom Juli 2016 einen ausländischen Kämpfer, der ein Kätzchen tätschelt, neben dem Foto eines romantischen Sonnenuntergangs. Und auch die französische rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen lässt sich kaum eine Gelegenheit für ein locker-flockiges Selfie entgehen, auf dem sie Pferde umarmt oder Katzen streichelt. In den Fällen von Tinder, Dabiq und Le Pen ist das Ziel offenkundig: bei der Zielgruppe Empathie erzeugen. Gute Geschichten schüren Emotionen. Ob im Marketing, in der Literatur oder in der Politik, die Chancen, eine breitere Zielgruppe zu erreichen, sind sehr viel größer, wenn man an Gefühle appelliert. In den sozialen Medien zählen positive oder negative Gefühle zu den wichtigsten Faktoren, die das Teilen von Inhalten befördern.29 Der direkteste Weg, die Gefühle einer Zielgruppe anzusprechen, besteht darin, Empathie für die Protagonisten und deren Anhänger zu wecken.

Die meisten Geschichten verwenden Protagonisten und Antagonisten mit wiederkehrenden Merkmalen. Man spricht hier von Archetypen. „Archetypen sind die seelischen Instinkte der Gattung Mensch“30, die motivierende Dynamik im kollektiven Unbewussten. Es gibt die unterschiedlichsten Archetypen: darunter den Unschuldigen, den Helden, den Rebellen, den Herrscher, den Schöpfer, den Pfleger. Islamistische Extremisten setzen stark auf die Verwendung von Archetypen: die Figur des heldenhaften Märtyrers, des Propheten und die Kreuzfahrer sind wiederkehrende Motive in ihren Narrativen.31 Zu den Archetypen zeitgenössischer Rechtsextremisten gehören „rückständige“ Muslime, „böse“ Juden und „unschuldige“ weiße Mädchen.

Das grob vereinfachende und statische Verständnis der Extremisten von Identität macht aus ihren Archetypen ein Gegensatzpaar. Der „Andere“ wird unter einem einzigen großen Archetypus zusammengefasst: Während der IS unterstellt, dass Trump den gesamten Westen repräsentiere, behaupten rechtsextreme Vertreter oft, dass der IS-Anführer al-Baghdadi für sämtliche Muslime stehe.32 In der Welt des IS wird jeder, der sich nicht auf die Seite seiner Kämpfer schlägt, einem einzigen großen islamfeindlichen Monolithen zugerechnet, der das Etikett „der Westen“ oder „die Kreuzfahrer“ trägt. Ebenso setzt die extreme Rechte Immigranten und Muslime der Einfachheit halber mit Terroristen gleich und bezeichnet sogar Politiker der Mitte als terroristische Helfershelfer. Während die rechtsextreme amerikanische Politikerin Sarah Palin Präsident Obama „terroristischer“ Verbindungen bezichtigte33, bezeichnete Trump ihn als den „Gründer des IS“.34 Sowohl die Viktimisierung des „Wir“ als auch die Dämonisierung des „Anderen“ werden durch den Gebrauch von Archetypen erleichtert.

Ein zusätzlicher Reiz radikaler Gruppen liegt in dem starken Zugehörigkeitsgefühl, das sie unter ihren Mitgliedern erzeugen. Durch Verwendung gemeinsamer Sprache, Symbole und Gebräuche fördern sie die Homogenität in Wir-Gruppen.35 Dies ermöglicht ihnen, die Identitätskrisen anfälliger Einzelpersonen auszunutzen. Beispielsweise heben Propagandabilder des „Islamischen Staates“ die Werte Teamgeist, Brüderlichkeit und Loyalität hervor.36 Und auch die (inzwischen archivierte) Facebook-Seite der deutschen Neonazi-Terrorgruppe Oldschool Society zeigt Bilder von Mitgliedern, die sich umarmen und gemeinsam feiern.37 Empathie für die Protagonisten ihrer Geschichte auszulösen und Hass auf die Antagonisten zu erzeugen, ist die Grundlage der Strategien beider Extreme.

Inspiration: der Endkampf-Effekt Geschichten sollen den Wunsch wecken, einen echten oder vermeintlichen Konflikt zwischen Protagonisten und Antagonisten zu lösen.38 In diesem Sinn können sie verwendet werden, um eine Veränderung herbeizuführen, indem sie zum Handeln in einer gewünschten Bahn anregen. Extremisten ist eine Erzählform gemeinsam, die auf der Vorstellung von der Opferrolle basiert und beinhaltet, dass der Konflikt nur durch Beseitigen des „Anderen“, im übertragenen oder wörtlichen Sinn, gelöst werden kann.39 Ein aus extremistischer Sicht „glückliches Ende“ kann beispielsweise durch die Vernichtung einer „Rasse“, einer Religion oder einer Gesellschaftsschicht erreicht werden. Extremisten sprechen in diesem Zusammenhang möglicherweise vom „Endkampf“, vom „unausweichlichen Krieg“ oder von der „Endlösung“.

Ihre Geschichten basieren gewöhnlich auf folgendem Muster: Die Unversehrtheit, wenn nicht das Überleben, eines Protagonisten P wird durch die Handlungsweise eines Antagonisten A gefährdet. Um die Sicherheit oder verlorene Würde von P wiederherzustellen, ist es notwendig, die Welt von allem durch A verursachten Bösen zu befreien. Ein Auszug aus Hitlers Mein Kampf veranschaulicht diese Haltung:

„Sicher aber geht diese Welt einer großen Umwälzung entgegen. Und es kann nur die eine Frage sein, ob sie zum Heil der arischen Menschheit oder zum Nutzen des ewigen Juden ausschlägt. Der völkische Staat wird dafür sorgen müssen, durch eine passende Erziehung der Jugend dereinst das für die letzten und größten Entscheidungen auf diesem Erdball reife Geschlecht zu erhalten.“40

Die Propaganda islamistischer Extremisten folgt demselben Muster. Ein Beleg dafür ist der folgende Auszug aus Dabiq, dem Online-Magazin des „Islamischen Staates“: „Wir nehmen die Kreuzfahrer ins Visier, und wir werden sie ausmerzen und auslöschen, denn es gibt nur zwei Lager: das Lager der Wahrheit und ihre Anhänger und das Lager der Unwahrheit und ihre Fraktionen.“41

Die islamistische Organisation Hizb ut-Tharir würde es ähnlich ausdrücken:

„Es ist der Islam, den sie [die Nationen der Ungläubigen] auslöschen wollen. Sie haben unsere mehr als tausendjährige Vorherrschaft nicht vergessen und bekämpfen ihn, um sicherzustellen, dass sie nicht wiederkommt und ihre Weltherrschaft beendet. Spüren wir Muslime nicht alle die Last der Frauen und Kinder, die leiden und um Hilfe rufen? Ist Untätigkeit eine Option?“42

Die Rhetorik der muslim- und ausländerfeindlichen PEGIDA-Bewegung bietet ein weiteres Beispiel für eine solche Erzählform. Es genügt schon, den vollen Namen auszubuchstabieren, der hinter dem Akronym der Gruppe steckt – Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes –, um das ihrer Geschichte zugrunde liegende allzu simple Muster zu erkennen. Es unterteilt die Welt in Gut und Böse: „Böse“ Muslime wollen das Gesetz der Scharia den „guten“ westlichen Ländern aufzwingen, deren – im Idealfall homogene – Bevölkerung sich verteidigen muss, indem sie sich PEGIDA anschließt und den gemeinsamen Feind bekämpft.

Was die Konfliktlösung betrifft, ist den Narrativen der Extremisten durchweg ein Charakteristikum gemeinsam: Sie basieren auf Nullsummenspielen und fordern „absolute“ Lösungen. Die Art ihrer Geschichten verbindet dschihadistische und neonazistische Gruppen ebenso wie die mit ihnen jeweils sympathisierenden, aber nicht unbedingt gewalttätigen Gruppierungen.

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