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Kriege der Geschichten

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Dieser Wettstreit zwischen antagonistischen, sich aber gegenseitig verstärkenden Ideologien ist nicht neu. Es gibt ihn, seit Zivilisationen angefangen haben, sich in Gemeinschaften zu organisieren, die auf gemeinsamen Geschichten, Mythen und Narrativen basieren. Der britische Historiker Norman Cohn schrieb in seinem Buch Die Sehnsucht nach dem Millennium‚ dass diese Verhaltensmuster in unterschiedlichen Lebenswelten, Epochen und geografischen Zonen wiederauftauchten.54

Vom Ersten Kreuzzug im 11. Jahrhundert bis zum Ende der osmanisch-habsburgischen Kriege im 18. Jahrhundert gab es wiederholte Konflikte zwischen politischem Christentum und politischem Islam. Das Ende dieser Periode der heiligen Kriege fiel zusammen mit dem Zeitalter der Aufklärung, das eine neue Vielfalt an Ideen und folglich Ideologien hervorbrachte. Religionsbezogene Ideologien wurden durch weltliche ersetzt, die das Schwergewicht auf die Vernunft legten. Obwohl die Aufklärung eine europäische intellektuelle Bewegung war, wirkte sie sich auch auf mehrheitlich muslimische Länder im Nahen Osten, in Nordafrika und darüber hinaus aus. Die letztendliche Niederlage und Auflösung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete, dass der politische Islam in den Hintergrund gedrängt wurde – wie das politische Christentum zuvor durch die Aufklärung. Neue politische Ideologien, wie etwa Liberalismus, Kommunismus, Kapitalismus, Nationalismus und Nazismus, gewannen an Boden.

Das frühe 20. Jahrhundert erlebte neue Konflikte zwischen links- und rechtsextremen Ideologien. Augenfälligstes Beispiel ist die gewaltsame Konfrontation zwischen Faschisten und Kommunisten im Italien der 1920er-Jahre. Der Zweite Weltkrieg offenbarte die Gefahren des Faschismus, er führte zu seiner vorübergehenden Niederlage und verstärkte den Ruf nach gemäßigten Stimmen. Doch er ging sofort in einen neuen intellektuellen Machtkampf über: den Kalten Krieg. Auf der einen Seite stand die atheistische extreme Linke, der kommunistische Osten, auf der anderen Seite der kapitalistische Westen, der das Christentum für seine Ziele instrumentalisierte.55 Die fortgesetzte Konfrontation zwischen den beiden Weltanschauungen während des Kalten Krieges führte zum Niedergang beider ideologischer Kräfte. Offensichtlicher war die Niederlage der globalen linksextremen Bewegung mit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991. Doch der säkulare Konsens nach 1989 führte auch zur Schwächung christlicher Parteien überall in Europa56 sowie zu sinkenden Mitgliederzahlen und schwindendem Einfluss protestantischer Kirchengemeinden in den USA.57

In der Zeit des Kalten Krieges kam es auch zum Zusammenstoß der extremen Linken mit dem politischen Islam, der in der sowjetischen Intervention in Afghanistan während der 1980er-Jahre gipfelte. Mudschahedin aus der ganzen Welt strömten nach Afghanistan, um sich dem anhaltenden Guerilla-Widerstand gegen die sowjetische Besatzung anzuschließen. Aus dieser großen Konfrontation zwischen der extremen Linken und dem politischen Islam ging erstere gedemütigt und der Letztere gestärkt hervor. Diese Konfrontation beschleunigte das Wiedererwachen des politischen Islam, das im Schatten der Spannungen des Kalten Krieges stattgefunden hatte. Es war die Geburtsstunde der Idee des internationalen Dschihad. Unterdessen hatte auch die extreme Rechte Zeit, sich von ihrem Rückschlag im Jahr 1945 zu erholen. Zur Jahrtausendwende erlebte sie ihr endgültiges Comeback, als sie einen neuen Antagonisten fand: den politischen Islam. Seit 9/11 und dem „Krieg gegen den Terror“ ist aus antimuslimischen Stimmungen eine rasch wachsende Unterstützerbasis für rechtsextreme Parteien in ganz Europa und in den USA erwachsen. Das frühe 21. Jahrhundert steht deshalb ganz im Zeichen eines offenen Konflikts zwischen der extremen Rechten und dem politischen Islam.

Am 20. Dezember 2016 befinde ich mich auf einem leeren Weihnachtsmarkt in Wien. Die Glühweinstände sind verlassen, die Händler frösteln. „Ich hab heute keine einzige Brezel verkauft“, erzählt mir einer von ihnen. Er sieht mich erwartungsvoll an. „Aus Solidarität mit den Opfern des Lkw-Anschlags gestern in Berlin“, sagt er und deutet auf eine seiner Brezeln, die gekrönt wird von einem deutschen Fähnchen und den Worten „Ich bin ein Berliner.“ Sein Telefon piept. „Sie haben den Falschen“, informiert er mich, nachdem er mit zittrigen Händen eine Push-Benachrichtigung geöffnet hat. „Der wahre Täter ist noch auf der Flucht … ich kann’s nicht glauben. Wenn du mich fragst, sollten wir sie alle einsperren.“

Seine Stimme ist ruhig, aber sein Blick ist ängstlich. „Merkel hätte nie diese ganzen Muslime reinlassen sollen. Sie befinden sich im Krieg mit uns.“ Er wiederholt die Posts, die meinen Twitterfeed überschwemmen. „Das sind Merkels Tote“ und „Stimmen Sie für die AfD“ schreiben hochrangige Politiker der deutschen Anti-Einwanderungspartei. Sie haben die Nachricht für ihre Agenda usurpiert, mit mehr Erfolg als der arme Brezelverkäufer. IS-Anhänger verbreiten unterdessen eine andere Geschichte: In Chatrooms der verschlüsselten Nachrichten-App Telegram rühmen sie den IS-„Soldaten“, der den Laster in die Fußgängermenge fuhr. „Also wer macht weiter [mit dem Terror] und fährt in den nächsten Weihnachtsmarkt? Lasst die Kuffār [Ungläubigen] diesen Weihnachtsmarkt nie vergessen“, schreibt ein deutschsprachiger IS-Anhänger.

Die kleine Notiz von dem Extremisten unbekannter Herkunft befindet sich immer noch in meiner Tasche: „Passen Sie auf sich auf, wir nähern uns dem Endkampf.“ Wir sind in einen neuen Teufelskreis des Extremismus eingetreten. Aber der Kreis beginnt in unseren Köpfen mit der Entstehung einer Schwarz-Weiß-Illusion. Zum „Kampf der Kulturen“ kommt es nur, wenn genügend Leute farbenblind werden. In Wirklichkeit sind die Grenzen zwischen konkurrierenden Ideologien fließend. Extremistische Bewegungen machen, je nach Kontext und Subkultur, in unterschiedlichem Ausmaß Anleihen bei anderen Ideologien.

Beispielsweise beanspruchen einige europäische rechtspopulistische Bewegungen christliche fundamentalistische Werte für sich, wie etwa die Rückkehr zum Familienverbund und die Konzentration auf die abendländische Identität. Andere entlehnen Anti-Globalisierungs- und Anti-Elite-Elemente der extremen Linken. Dem politisierten Islam und der extremen Linken ist eine anti-imperialistische und anti-kapitalistische Rhetorik gemeinsam, während der politisierte Islam und das Christentum sich in ihren gesellschaftlich regressiven Tendenzen überschneiden.

Ironischerweise findet man auffallende Ähnlichkeiten zwischen der British National Party (BNP) und Hizb ut-Tahrir in Großbritannien, Les Identitaires und muslimischen Identitätsbewegungen in Frankreich oder PEGIDA und „Islamischem Erwachen“ in Deutschland. Oft sind jene Organisationen, die sich am entschiedensten ablehnend gegenüberstehen, die besten Spiegel der Ideologien und Narrative des jeweils anderen.

Die Überlegungen dieses Kapitels werfen viele Fragen auf. Bedeutet eine multikulturelle Gesellschaft automatisch eine multi-narrative Gesellschaft? Wie kann man verhindern, dass Schwarz-Weiß-Geschichten Form annehmen? Wie könnten alternative Geschichten, die nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen, aussehen? Wie kann die Sehnsucht nach Einfachheit in den zunehmend komplexen Lebenswelten der heutigen Zeit thematisiert werden? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es zunächst eines besseren Verständnisses der Beschaffenheit jener Narrative, die für einige der irritierendsten und bedeutsamsten gesellschaftlichen Veränderungen der heutigen Zeit verantwortlich sind.

Um Wege zu finden, den Teufelskreis des Extremismus aufzubrechen, gilt es in einem ersten Schritt, die Anatomie der von Rechtsextremisten und islamistischen Extremisten verbreiteten Geschichten näher in Augenschein zu nehmen.

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