Читать книгу Ein Lebenstraum - Julie Burow - Страница 11

Neuntes Kapitel.

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Leonore flog mehr als sie ging über den feinen grünen Waldrasen. Alle ihre Nerven waren aufs Äußerste gespannt und sie fühlte in sich eine Kraft, die es ihr möglich zu machen schien, in ihrem Lauf bis ans Ende der Erde zu verharren. Sie hatte keine Ahnung, nach welcher Richtung ihre Flucht sie führen könne, auch war ihr diese ganz gleichgültig. Jeder Schritt entfernte sie weiter von dem entsetzlichen Mann, an den zu denken ihr schon Todesschauer einflößte, und das war genug.

Anfangs leuchtete das helle Sonnenlicht freundlich und ermutigend dem jungen einsamen Flüchtling, die Bäume und die Rasen erglänzten in seinen trauten Strahlen, aber allmählich verbleichten dieselben, die Sommernacht breitete ihren duftigen Mantel über den Wald, Johanniswürmchen leuchteten im Moose, die Mondsichel blickte zwischen den Baumkronen hindurch auf das arme verirrte Kind, und nun – Stunden waren verflossen, seitdem sie sich von dem Entsetzlichen losgerissen und in eilendem Lauf alle ihre Kraft aufgeboten hatte, – nun begann diese zu versiegen. Sie fühlte sich ermatten, fühlte sich einsam in der Einsamkeit des Waldes, die Schauer der Nacht kamen über ihre Seele, sie schwankte, zitterte und sank endlich bis zum Tode erschöpft neben dem Stamm einer riesigen Tanne nieder. Das Grauen der Finsternis stierte mit tausend schwarzen Augen aus jedem Busch, von jedem rauschenden Zweige sie an. Kein bekannter befreundeter Laut ließ sich hören, nicht das Gebell eines Hundes, nicht das Rollen eines Wagens, kein Ton einer menschlichen Stimme, nur der Nachtwind rauschte und flüsterte in den Bäumen, und von Zeit zu Zeit huschte eine Nachtschwalbe unter den Tannenkronen hindurch und verschwand mit leisen Schwirren in der Ferne.

Sie lehnte das müde Haupt an den Baumstamm und ließ den Tränen, die dem Innersten ihres Herzens entströmten, freien Lauf. Sie fielen wie Tau auf das Moos am Boden und erleichterten allmählich ihr Herz.

Was war geschehen? – Sie hatte für das Grässliche, das ihr begegnet, keinen Namen, sie fühlte nur, dass die Scheu und Angst, die sie vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft mit dem Gatten ihrer Tante vor demselben gehabt hatte, vollkommen gerechtfertigt sei. Ihm jemals wieder unter die Augen zu treten, jemals wieder seine Blicke auf sich ruhen zu fühlen, hielt sie für eine Unmöglichkeit.

Wo aber war für sie auf dem weiten Erdenrund ein Zufluchtsort, da das Haus ihrer Verwandten ihr verschlossen? Ihr Vater war fern, ach so fern, und eine Stimme in ihrem von Weh überfüllten Herzen sagte ihr außerdem auch noch, dass sie ihm jetzt, wo eine Fremde an die Stelle ihrer Mutter getreten, bei seiner geringen Einnahme und seinen stets verwickelten Geldverhältnissen leicht eine Last sein könnte.

»O dass ich ein Vogel wäre, der unterducken kann im warmen Nest bei seinem Mütterchen, dass ich ein Reh wäre und im Walde meine Heimat hätte«, seufzte das verlassene Mädchen, während von neuem ein Strom von Tränen über ihre Wangen floss. Sie hatte kein Mäntelchen, keine warme Hülle bei sich, die Nacht begann kühl zu werden und Frostschauer gesellten sich zu dem Gefühl des Kummers, der Verlassenheit und des Grauens. Das blasse Mondlicht webte seltsame gespensterhafte Schatten auf dem Boden, die Baumstämme schienen mächtige Riesen, die Wurzeln wanden sich am Boden wie Molche und Schlangen, der leiseste Laut, den der Wind in den Zweigen erregte, ließ sie zusammenschrecken, und die Stille erfüllte sie mit Grausen. Seltsame Bilder aus der Kinderzeit traten vor ihre Seele, Märchen-Bilder von Wurzelmännchen und Moosfräulein.

Im Walde wohnten all’ diese Geister, die den verlassenen Menschen bald freundlich, bald feindlich in ihren Revier aufnehmen. War es doch, als ob sie in Leben und Wirklichkeit ihr winkend an ihr vorüberhuschten, und plötzlich trat ein Kindermärchen lebhaft bis zur Sinnentäuschung vor ihre Erinnerung, das Märchen von dem verwaisten Mädchen, das aus dem Stamm der Weide sich alles holt, dessen sie bedarf. Leonore musste mitten in ihrer Angst und unter ihren Tränen lächeln in innerer Freude; ach die Mutter hatte ihr das oft und oft erzählt, als sie schon kränklich war und ihr dann gesagt:

»Glaub’ mir, mein Kind, Mutterliebe dauert stets übers Grab hinaus, und der Geist einer Mutter umschwebt die Waise immer und überall. Vergiss dies nie, wenn Du in künftigen Tagen leidest, denk’ an die Mutter, rufe sie, wenn Du verlassen bist, sie wird bei Dir sein.«

»Mutter, meine, meine Mutter«, sagte sie, die gefalteten Hände zum Himmel emporhebend, »ich bin verlassen, bin verraten von denen, die mir Gutes tun wollten, ich bin allein, allein in der Welt, allein mit der Erinnerung an Dich –«

»Mit Gott!« tönte es in ihr, so deutlich und vernehmbar, dass Leonore sich umschaute, weil ihr war, als hätte eine milde, sanfte Stimme neben ihr die Worte geflüstert.

»Mit Gott«, sagte sie noch einmal laut, »Mutter, meine Mutter, der Gedanke an den Allgütigen, Allgegenwärtigen, Allmächtigen kam von Dir.«

Sie hatte lange, lange nicht gebetet, obgleich sie noch nie vergessen, ihr Morgen- und Abendgebet zu sprechen.

Bei der Trennung vom Vater hatte sie zuletzt das Gebet empfunden; denn ein gedachtes Gebet ist keines, wie ein Notenblatt keine Musik ist. Erst wenn alle Fibern des Herzens erbeben, in dem Gefühl, dass die höchste Liebe uns nahe ist, wenn je der Nerv sich spannt, beugt oder erhebt, im Schauer vor der Gegenwart der höchsten Macht, erst wenn unsere eigenen Hoffnungen, Wünsche, Überzeugungen zerschmelzen wie der Schnee am Sonnenlicht vor dem Hauche der uns nahen höchsten Weisheit: erst dann haben wir gebetet, – und Leonore betete! Nacht und Einsamkeit durchleuchteten das Licht, das aus dem Gebet strömt, das Licht Gottes! Die Verzweiflung fiel von ihrer Seele, der Zorn erstarb, das Grauen zerfloss.

Im wilden Walde von der Mitternacht umhüllt, von Frost durchschauert, fand das junge Mädchen sich kräftig, gefasst und hoffnungsvoll. Als die höchste Erhebung des Gebets allmählich andern, geringeren Gefühlen Platz machte, als der Gedanke an ihre seltsame Lage wieder vor ihre Seele trat, hatte er alles Grässliche verloren.

»Der Gatte meiner Tante ist ein Nichtswürdiger!« sagte sie sich, »und ich bin jetzt bei Nacht allein im Forst, aber ich kenne ihn und kann mich nun vor ihm hüten, und die weiteste Ausdehnung dieses Waldes ist, wie man mir gesagt hat, wenig über eine Meile. Ich muss, wenn ich nur irgendeinen Pfad finden kann, durchaus nach wenigen Stunden zu Menschen kommen. Wölfe gibt es hier höchstens im tiefen Winter, und das schlimmste Tier, das mir begegnen kann, ist eine Kröte. Allnächtlich durchstreifen Forstbeamte die einzelnen Waldreviere, und begegnete ich selbst einem Holz- oder Wilddiebe, er würde eher Mitleid mit mir haben, als mich beleidigen. Ich will ein Weilchen zu ruhen versuchen, der Tag muss bald anbrechen, und will dem Morgenrot entgegengehen, sobald ich’s durch die Bäume schimmern sehe.«

Sie zog nun ihr Kleid über den Kopf, stützte diesen an den Baum stamm, sprach leise ihr Abendgebet:

»Müde bin ich, geh’ zur Ruh

Schließe meine Augen zu,

Vater, lass’ die Engelein

Liebend meine Wächter sein«,

und schloss die Augen, in denen noch vor kurzem Verzweiflungstränen gebrannt hatten.

»Kommen wohl Engel, die verlassenen Müden zu bewachen?« dachte sie und beantwortete die zweifelnde Frage mit einem mutigen: »Gewiss! Streut doch jede Nacht den Tau auf Pflanzen und Blumen, leuchtet doch der Mond dem verirrten Wanderer und sind doch die Sterne treue Wegweiser selbst den Irrenden auf dem treulosen Ozean.«

Sie öffnete noch einmal die Augen und schaute hinauf zum Nachthimmel. Hoch über ihr, ein wenig rechts vom Zenit stand der Polarstern. Ihr Vater hatte sie gelehrt, ihn, den ewig Ersten, zu finden.

»Grüße ihn von seinem Kinde, das in Gottes Hut steht und seiner gedenkt«, flüsterte sie, den Blick nach dem Stern gerichtet und allmählich sanken die übermüdeten Augen zu und Nacht und Einsamkeit vergessend, entschlief das junge Mädchen tief und fest.


Ein Lebenstraum

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