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Zehntes Kapitel.
ОглавлениеAls der Justizrat sich von der Flucht seiner Nichte überzeugt hatte, überfiel ihn eine nicht geringe Furcht vor den Folgen eines nichtswürdigen Versuches. Er hatte gedacht, gerade die völlige Unwissenheit Leonorens müsse sie zu seiner Beute machen, und selbst wenn sie ihn zurückgewiesen, glaubte er doch noch Mittel genug in Händen zu haben, sich das Schweigen des so jungen, gänzlich in seine Hände gegebenen Mädchens zu erkaufen. Was aber sollte er jetzt tun? – Wo war die Entflohene bei nahender Nacht zu finden und welchen Grund sollte er angeben, um ihre Flucht zu motivieren, ohne sich selbst bloßzustellen?
Der litauische Kutscher hatte dieselbe gar nicht bemerkt, das Lied singend vom Mond, der die Sonnentochter gefreit, fuhr er in langsamem Schritt durch den grünen, lustigen Wald, und hörte erst auf Delbrucks donnerndes: »Halt! Halt!« als dieser es ihm in seiner Sprache zurief. –
»Donaleitis, hast Du gesehen, nach welcher Richtung die Jungfrau, die mit mir war, in den Wald gegangen?« fragte er denn ebenfalls litauisch.
Donaleitis verneinte verwundert und meinte dann, die jungen Mädchen, die er zu fahren gewöhnt sei, hätten alle eine so gewaltige Lust, Erdbeeren zu sammeln, dass er sich nicht wundere, wenn auch das städtische Fräulein darauf verfiele. Für Delbruck war dies ein Fingerzeig. Leonore war nach Erdbeeren gegangen und hatte sich unvorsichtig zu weit vom Wagen entfernt und verirrt, so wollte er in Wilkowischken sagen, wenn er dort Leute aufbieten musste, um das Mädchen zu suchen. –
Er sah indes nach seiner Uhr, es war halb neun vorüber, und die Sonnenscheibe berührte bereits den Horizont.
»Wie weit ist’s noch bis zum Ober-Inspektor nach Wilkowischken?« fragte er den Fuhrmann.
»Von hier bis zur Scheschuppe ein Hundebleff, sind wir erst überm Wasser, noch eine kleine halbe Meile.«
Delbruck kannte die kleinen halben Meilen der Litauer, er wusste jetzt, dass er mindestens, das Übersetzen eingerechnet, noch zwei Stunden unterwegs sein müsste, ehe er ins nächste Dorf käme – indes war’s tiefe Nacht, und was ward aus Leonore? –
»Wir müssen die Jungfrau suchen«, sagte er und der gehorsame Litauer knüpfte die Pferde an den Stamm einer Tanne, machte sich auf den Weg und wanderte etwa in einem Umkreise von tausend Schritten umher, von Zeit zu Zeit durch seine zusammengehaltenen Hände:
»Fräulein! Fräulein!« rufend.
Nur der Widerhall antwortete ihm!
»Wenn sie nur der Waldmann nicht mitgenommen hat«, sagte er beim Zurückkommen, »der Waldmann hat hübsche junge Fräulein gar gern.«
»Narr!« murmelte Delbruck, der indes in höchster Aufregung hin und her gelaufen war.
»Pons (Herr) Richter sich sehr gestoßen«, meinte der Litauer, mit dem Schaft seiner Peitsche auf Delbrucks Stirn zeigend.
Er zog seine Taschenbürste hinaus und sah die garstige, blau und grün schillernde Breusche, die er sich geschlagen, als Lorchen sich aus seinen Armen losriss.
»Satansmädchen«, murrte er und verschluckte den Fluch, der ihm sonst noch zwischen den Zähnen saß. »Fahr zu, Donaleitis, was die Pferde laufen wollen, wir müssen zu Menschen, um die Dirne suchen zu lassen.«
Der Wagen donnerte über den holprigen Waldweg, Delbruck drückte sich in die Ecke und legte Leonorens Mäntelchen neben sich. Ihm war sehr unheimlich zu Mute.
Alle Zeichen von der kürzlichen Anwesenheit des jungen Mädchens und ihrer jähen Flucht schienen als Ankläger gegen ihn aufzutreten. –
Es wurde dunkel, ehe man den Strom erreichte, der, vom Johanniswasser geschwellt, breiter und reißender als gewöhnlich war.
Wenn sie in der Dunkelheit umherirrend an dies wilde Wasser käme und ein Fehltritt sie hinunterstürzte, dachte Delbruck und es überrieselte ihn eiskalt. Er teilte den Fahrleuten mit, dass seine Nichte sich im Walde verirrt, und bot Geld, wenn sich Leute fänden, die sogleich sie aufzusuchen eilten. Die Litauer versprachen, das Möglichste zu tun, und als der Justizrat endlich in tiefster Aufregung bei dem alten Rauscher anlangte, waren Anstalten zur Aufsuchung des armen Mädchens mit höchstem Eifer getroffen.
Der Oberinspektor Rauscher selbst ließ sein Pferd satteln, nahm eine Laterne und sprengte hinaus, das verirrte Enkelkind seines alten Freundes Korff aufzusuchen, und Delbruck setzte sich an die Spitze eines Zuges von Litauern, die zu dem nämlichen Zweck auszogen. -
Jenseits der Scheschuppe im Walde teilte man sich in drei Parteien, Donaleitis führte die eine, Delbruck die andere und Rauscher die dritte, und so begann man den Forst in weidmännischer Weise abzusuchen.
Die Nacht wurde rau, ein starker Tau fiel gegen Morgen, Delbruck zitterte wie Laub teils vor Frost, teils vor Furcht, während er durch das feuchte Moos schritt. Niemand hatte eine Spur von der Verirrten entdeckt, als endlich die Partei des Kutschers und des Herrn sich auf einer Lichtung zusammenfand, und, außer sich, warf Delbruck sich auf den feuchten Waldrasen und bedeckte das Gesicht mit den Händen, tausend grässliche Möglichkeiten bedenkend, die Leonoren ins Verderben geführt haben könnten. Eine Stunde später langte auch Rauscher unverrichteter Sache dort an, und schweigend und in der düstersten Stimmung begab sich der Zug ohne die Gesuchte nach Wilkowischken zurück, als bereits die Sonne ziemlich Mittag verkündete.