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Fünftes Kapitel.

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Den 17. Februar war Leonorens Geburtstag, der erste, den sie fern vom Vater erlebte, der ihn stets zu einem Festtage für sein Kind gemacht. Bis zum vorigen hatte sie die Schule besucht und eine Schar lustiger Altersgenossen hatte mit ihr an dem fröhlichen Tage gespielt und sie beschenkt. Im Hause des Onkels wusste niemand davon. Die Tante war auf kurze Zeit verreist, sie machte einen Besuch bei einer der reichen adeligen Familien, deren Mandatarius Justizrat Delbruck war. Lorchen hatte ihr den ganzen Schmuck einpacken müssen. Die vielbewunderte Uhr mit dem Emailgehäuse und der Erbsenkette, auch die Brosche, die wie eine gelbe Weintraube mit goldenem Blatt aussah und das Johannisbeeren-Ohrgehänge. Die Kleine hatte alle diese Herrlichkeiten beim Packen zum ersten Mal in den Händen gehabt und mit aufrichtigem Entzücken bewundert. Der Onkel, der dabei gestanden, hatte sie leise flüsternd gefragt, ob sie auch so schöne Ohrringe haben wolle?

»Ich habe ja keine Ohrlöcher, Onkelchen«, antwortete sie lachend, »und zudem in meinen eigenen Ohren könnte ich die reizenden Dingerchen gar nicht sehen und ich sehe sie sehr gern. Sie gefallen mir über alles, denn sie erinnern mich an die Zeit, da meine sel’ge Mutter lebte und ich noch ganz, ganz klein war. Da hing ich mir auch bald Kirschen, bald Johannisbeeren so um die Ohren, dass sie unter dem Ohrläppchen gerade wie solche reizende Bommelchen aussahen.«

Der Onkel hatte bei diesen Worten sein allerhässlichstes Gesicht gemacht, das Gesicht, bei dem es Lorchen immer ganz kalt über die Haut lief.

Am Geburtstagsmorgen stand sie vor dem Spiegel und betrachtete ihr eigenes Gesichtchen. Es sah so traurig aus, dass sie selbst darüber hätte weinen können. Sie war so allein auf der Welt! Wie weit entfernt war sie vom Vater! dem einzigen Menschen, der sie recht lieb hatte, und die Mutter! O wie lange, wie lange schon schlief die den ewigen Schlaf! Sechszehn Jahre war sie alt. Ein ganz, ganz erwachsenes Mädchen. Was kannten und verstanden andere schon in dem Alter? – Kochen und Glätten, und Französisch und Oberhemden nähen. Lorchen kannte nichts als bunt sticken und Tante Selma sagte ihr jeden Tag, dass das für ein Mädchen gar nicht notwendig sei. Auch zeichnen kannte Lorchen allerdings, sie porträtierte mit bunter Kreide recht gut und hatte besonders das merkwürdige Glück, jedes Gesicht so zu treffen, dass man es auf der Stelle erkannte, und sie bossierte auch in Wachs und Ton. Seit sie aber fünf Monate bei Tante Selma war, wusste Lorchen recht gut, dass das alles gar nichts sei, und ein ordentlich genähtes Hemde viel mehr für den Wert und die gute Erziehung eines Mädchens spreche.

Sie ging ans Fenster, ein eisiger Regen schlug gegen dasselbe und die Tropfen blieben in Form kleiner Dolche und Nadeln auf den Scheiben kleben. Ein garstiger Südwestwind fegte die Straße hinauf und ließ die vom Schneewasser gebildeten Pfützen ordentlich Wellen schlagen. Wo der Schnee noch nicht zerschmolzen war, sah er wie schmutziger Sand aus, tausend Füße hatten ihn zerstampft und zertreten, und wie die Erde, so trug auch der Himmel sein hässlichstes mistfarbigstes Kleid. O einen Sonnenblick, einen einzigen Sonnenblick, Lorchen hätte für einen lachenden Sonnenstrahl einen Strahl ihres Blutes geben mögen. Sie lehnte die Stirn an die Scheiben und weinte, das Herz erzitterte in ihrer jungen Brust unter den Tränen, wie eine knospende junge Birke erzittert unter dem Schauer eines Gewitterregens. Sie setzte sich, um recht ausweinen zu können, auf den Lehnstuhl der Tante, der am Fenster stand, und drückte die heiße Stirn in seine weichen Kissen, und da geschah ihr, was Kindern oft zu geschehen pflegt, sie weinte sich in den Schlaf.

Die schweren Flechten sanken allmählich tiefer und tiefer in ihre Stirn und zogen die Nadeln mit sich. Das lange Haar löste sich auf, rieselte in weichen Wellen um Schläfe und Schulter und lag in üppigen Ringeln ihr im Schoße. Die kleinen Händchen ruhten geöffnet auf der Seitenlehne des Stuhles, unter den geschlossenen Lidern drangen noch einzelne Tränenperlchen hervor und rollten langsam über die Pfirsichwange. Lorchen schlief fest und träumte süß, obgleich sie weinte. Ihr war’s, als ob die Wolken am Himmel verschwänden und die Sonne in aller Klarheit auf die niederlächle. Aber ihr Strahl hatte nichts Blendendes; mit offenen Augen konnte sie ins göttliche Sonnenantlitz schauen und da sie recht hineinblickte, war’s gar nicht die Sonne, sondern ein liebes, schönes Menschengesicht, das mit dem Ausdruck liebevoller Teilnahme sich über sie beugte. Augen, sanft und kühn, tauchten ihren leuchtenden Strahl in die ihrigen und frische Lippen näherten sich ihrer Stirn wie zu einem Kusse. Sie wollte sich verschämt abwenden, aber wie sie im Schlafe sich mühte, den Kopf zu bewegen, zerriss sie seine bleierne Fessel und sah hell erwacht in ein bekanntes schönes Menschengesicht. Baron Sigmund von Kandern beugte sich über die Stuhllehne und der Ausdruck seiner samtschwarzen Augen war ganz so liebreich, als er Lorchen im Traum erschienen. Sie erschrak auch eigentlich gar nicht, und nur als Kandern sichtlich errötend von ihr wegtrat, fühlte sie in ihrem Herzen einen leisen süßen Schauer, ob aber vor Freude oder Schreck, das hatte sie nicht entscheiden können und wenn ihr Leben davon abgehangen.

»Ist der Justizrat Delbruck zu sprechen?« sagte nach einer Pause von mindestens zehn Minuten Herr von Kandern endlich.

Lorchen antwortete kein Wörtchen, sondern klingelte und trug der eintretenden Christiane auf, den Herrn hinaufzurufen. Einige Minuten später stand dieser im Zimmer und sah auf die beiden Anwesenden mit einem Blick, unter dessen Eisspitze Kandern seine Ruhe und Sicherheit wiederfand und Lorchen in ein angstvolles Starren verfiel.

»Das Fräulein ist wahrscheinlich unwohl, Herr Justizrat«, sagte Kandern, »ich fand sie auf diesem Stuhle mit aufgelöstem Haare eingeschlafen und leise im Schlafe weinend.«

»Was fehlt Dir, Leonore?« fragte der Hausherr mit einem neuen Dolchblick auf das Mädchen.

»Ach Onkelchen, mir fehlt nichts, eigentlich nichts, ich weinte nur weil – weil ich heute sechszehn bin und – und keine Mutter mehr habe, und der Vater nicht geschrieben hat – und ich – –«

Hier brach von neuem ein Strom von Tränen gewaltsam aus ihrer Brust hervor, sie schlug die Hände vor die Augen und ließ sich in den Stuhl niedersinken, ohne das Schluchzen bemeistern zu können.

»Ach Dein Geburtstag ist heute, Mädchen«, sagte der Justizrat es versuchend, ihre Hand von den Augen zu entfernen. »Sieh! Sieh! Und den wird man ja wohl zelebrieren müssen.«

Kandern hatte anfangs diesen kleinen Umstand überhört, ein unsägliches Mitleid mit dem verwaisten jungen Mädchen, das ihm neben dem übel berüchtigten Onkel wie ein Vögelchen neben einer Klapperschlange erschien, erfüllte seine Brust, und er wusste es dem Justizrat Dank, dass er des Geburtstages erwähnte. Sein Geschäft mit Delbruck währte nur kurze Zeit und er flog eiligst in seinem Gig durch die schmutzigen Straßen von Laden zu Laden, etwas recht Schönes für Leonoren auszusuchen, hundertmal die Ärmlichkeit und Erbärmlichkeit des kleinen Nestes verwünschend.

Lorchen aber setzte sich nieder, als sie allein war, und schrieb an den Vater:

»Ich habe so lange und so sehr geweint, mein Vater, bis ich einschlief, weil ich heute an meinem Geburtstage keinen Brief von Dir erhalten. – Ach, ich bin traurig, ich fürchte, Du bist krank, denn vergessen hast Du Dein Kind nicht, Deine Leonore, die Tochter Deiner Anna.

Ich darf Dir nicht oft schreiben, mein Vater, Du weißt das ja schon. Man hasst und schilt Dich hier und möchte mich glauben machen, es sei gut für mich, wenn ich Dich verleugne. Sie haben ja keine Kinder, Onkel Delbruck und Tante Selma; können sie da wissen, wie Vater und Kind mit Herz und Leben ineinander gewachsen?

Man sagt, ich würde hier gut erzogen. Tante Selma ist eine ganz musterhafte Frau und sie zeigt mir alles und lehrt mich, was sie selbst kann. Ich bin nur etwas ungeschickt und unachtsam und die Tante ist nicht so sehr geduldig. Ich habe schon sieben Oberhemden genäht, die Tante selbst meint, für eine Anfängerin mache ich es ganz gut und bei der Wäsche verstehe ich schon alles. – Es ist ausnehmend schön im Hause der Tante, alles hat sie am Schnürchen, und in der Putzstube, die im Winter aber gar nicht geheizt wird, sind Palisander-Möbel mit Perlmutter ausgelegt und Vorhänge von Tüll und Seidendamast. Ich denke aber manchmal an unsere kleinen Zimmerchen mit gemieteten Sachen und wie Du immer zu sagen pflegtest: Lorchen, Du hat das Talent Deiner Mutter geerbt, jeden Raum wohnlich und gemütlich zu machen. – Im Winter sitzt Tantchen, wenn nicht Gesellschaft sich angemeldet hat, in einem ganz kleinen Stübchen und da wird auch gespeist. Sie liebt keine Zimmerblumen, hat kein Vögelchen, keinen Hund – ach Väterchen, was macht nur unser lieber guter Allard? – Ich träumte einmal, er sei tot und konnte mich lange, lange nicht beruhigen. Du hast nun wieder eine Frau, mein Vater, pflegt sie Dich auch gut, wenn Dein Herzkrampf eintritt? Grüß sie von mir, sie ist gewiss gut, weil sie Dich lieb hat.

Ich bin eine schlechte Briefschreiberin, mein Vater, mein Herz ist so voll, so voll, ich hätte Dir ganze Geschichten, nein, Bücher zu erzählen und in der Feder da friert’s ein. Manchmal find’ ich Gedichte in Onkels Bibliothek, von denen mir’s vorkommt, als hättest Du die für mich oder ich für Dich gemacht, Gedichte so voll Sehnsucht nach dem entfernten Geliebten, dass ich nur ›Vater‹ zu dem Worte beizudenken habe, um es ganz und gar passen zu lassen. O Du lieber, Du teurer Vater, schreibe mir nur bald, damit ich Deiner Gesundheit wegen mich nicht ängstigen darf. Gott segne Dich! Ich küsse jeden Finger Deiner schönen bleichen Hand und jede Locke Deines lieben Hauptes, ach, wer mag Dir jetzt schmeicheln, da Dir so fern, so fern ist Deine Leonore.«

Sie war eben fertig geworden, als der Onkel eintrat. Christiane folgte ihm mit Kuchen und Kaffeegerät. Alles sah festlich aus und Lorchen fühlte wohl die große Freundlichkeit, die darin lag, dass er, der Geschäftsmann, der sich fast nie die Zeit nahm, mit der Tante Kaffee zu trinken, jetzt ihr, dem Kinde, eine seiner kostbaren Stunden schenken wollte; aber wirklich, sie hätte ihm das Opfer gern erlassen, sie war im Grunde nicht so ungern allein, der Onkel war viel zu klug für sie und zudem hatte sie die törichte, aber unüberwindliche Furcht, dass er ihr die Hand aufs Knie, auf den Nacken, unters Kinn legen würde.

Sie saßen noch nicht fünf Minuten zusammen, als Baron Kandern gemeldet wurde.


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