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Siebentes Kapitel.

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Der nordische Winter war vergangen und hatte mit dem nordischen Sommer gewechselt; denn der Frühling dieser Gegenden besteht nur in den Träumen ihrer Dichter.

Baron Sigmund von Kandern war Ende Februar, nachdem er Leonoren noch ein Paket Bücher geschickt, ohne das Mädchen wieder zu sehen, nach Paris gereist und hatte sich bei dem Justizrat und dessen Gattin per Karte empfohlen. Es war für Lorchen ein rechter Kummer gewesen, als sie von der Abreise des Mannes hörte, den sie für ihren Freund gehalten; sie hatte darüber in der Stille und aus Herzensgrunde geweint. Guter Gott, außer dem fernen Vater, der so selten schrieb und dessen Briefe immer kürzer und kürzer wurden, hatte sie auf der ganzen Erde keinen einzigen Menschen, den sie wirklich und wahrhaftig lieb hatte. Tante Selmas Liebe war ihr zweifelhaft, weil die Tante, obgleich sonst eine gute Frau, doch gegen sie ganz besonders streng war und oft über Kleinigkeiten Stunden lang reden, ja geradehin schelten konnte; und in der Nähe des Onkels, der in Gegenwart anderer sie gar nicht ansah, obgleich er freundlich genug gegen sie war, wenn sie mit ihm allein, beschlich sie immer ein innerliches Grauen. Sie fürchtete den Justizrat nicht, weit ehe fürchtete sie die hübsche und so sanft redende Tante, aber – sie ekelte sich vor ihm. Seine eingesetzten Zähne, seine langen, blassen Hände, sein falsches Lächeln, sein oft so sonderbarer Blick mit dem Augenzwinkern, erregten ihren Widerwillen; und dann spottete er, so oft sich nur eine Gelegenheit fand, über Kandern, den Lorchen aus tiefstem Herzen lieb hatte, der ihr wie ein teurer älterer Bruder erschien und unter dessen Bilde sie sich alles Gute und Große, alles Männliche und Rechtliche vorzustellen gewöhnt hatte.

Tante Selma hatte die Absicht, die Johanniszeit auf dem Lande zuzubringen und wollte Lorchen zur Familie des Oberamtmanns Herbusch mitnehmen, mit welcher schon der alte Oberst von Korff auf freundschaftlichem Fuße gestanden; auch war Delbruck damit anfangs einverstanden, und alle Vorbereitungen zur Abreise waren bereits gemacht. Aber den Tag vor derselben meldete sich ein Rheuma so bedeutend und so zur Unzeit, dass die Tante schon nach Kaimehlen abschreiben wollte.

»Es wird nicht anders gehen, liebe Selma«, sagte der Leidende, »so leid mir’s auch um Dich und Deine gestörte Sommerfreude tut, aber allein mit Christiane und Wurmser kann ich unmöglich bleiben.«

Die Justizrätin seufzte und versicherte, dass es ja gar nichts auf sich habe, dass sie recht gerne bleibe, dass es ja auch nur ihre Pflicht sei, die ihr übrigens auch in Kaimehlen keine Ruhe lassen würde. Freilich wenn Leonore ein bisschen verständiger wäre, wenn man das träumende, leichtfertige Ding zu etwas brauchen könnte, da – mit sechszehn Jahren war sie selbst, die wackere Tante Selma, viel verständiger und viel, viel praktischer gewesen.

Man müsste es versuchen! warf Delbruck gleichgültig hin – mit Wurmser und Christianens Beistand sei das Mädchen am Ende doch zu brauchen. Er wolle doch gern seiner Frau die Reise und den ländlichen Aufenthalt gönnen, der ihrer Gesundheit und Schönheit stets so zuträglich. Tante Selma lächelte, sie hatte es sehr gern, wenn ihr Mann von ihrer Schönheit sprach. Man komplimentierte noch ein wenig miteinander und endlich war man einig, und Lorchen erhielt den Befehl, ihre Sachen auszupacken und sich zur Pflege des kranken Onkels vorzubereiten. Sie betrübte sich deswegen recht innerlich. Wieviel Freude hatte sie sich von der Reise versprochen!

Fahren, Meilen weit fahren durch den Sommersonnenschein; die wogenden Kornfelder sehen, zwischen deren schlanken Halmen rote Mohnköpfe hervor funkeln, und blaue Kornblumen wie Freundesaugen zu ihr hinüberschauen. Sich versenken in die dunklen Schatten des lieben Waldes, den silberhellen Strom vorübergleiten sehen und dem Segel des Schiffs mit den Augen folgen: das alles ging ihr nun verloren, sie blieb in der heißen, dumpfigen Stadt und allein neben dem Onkel. Wie peinlich war ihr die Vorstellung von den langen, langen Stunden, die sie ihm gegenüber würde zubringen müssen.

Die Tante reiste indes!

Lorchen sah mit feuchten Augen dem hübschen Wagen nach, der morgens vier Uhr mit der Glücklichen durch die stille Straße rollte.

Es war kühl und morgenfrisch. Auf den Eisenketten vor der Haustüre hingen Tauperlen, und der Kastanienbaum, gerade über vor dem Posthause, hatte alle Blätter voll Tröpfchen. Ein Stückchen blauen Himmels, an dem weiße Wolkenschäfchen sich sammelten, hing über der schlafenden Stadt. Der Nachtwächter ging vorüber und sagte freundlich:

»Guten Morgen, Fräulein Lorchen.«

Wie schön erschien ihr das alles.

»Ich will die Morgenstunde recht genießen, so sehr ich nur immer kann«, dachte sie, nahm oben einen Teil von Brandes Briefen, öffnete das Fenster des besten Zimmers und setzte sich lesend an dasselbe. Es kamen einzelne Stellen, die ihr, obgleich sie die Kupfertafeln aufschlug, unverständlich blieben und sie versuchte nun, sich über dieselben aufzuklären, in dem sie auf einer Schiefertafel Zeichnungen entwarf. Das war hübsch und die Zeit flog ihr dabei unter den Händen hin. Es schien ihr, indem sie mehr und mehr zum Verständnis der Größe, Regelmäßigkeit und Einfachheit des Naturganzen kam, als ob leise eine Hülle nach der andern von einer himmlisch schönen Natur, einem von ihr geahnten Götterbilde niedersänke. Das Köpfchen in die Rechte gestützt, den Zeigefinger der Linken als Zeichen in dem auf dem Schoße ruhenden Buche, betete sie in ihrem Herzen die Worte des Psalmisten:

»Herr, wie sind Deine Werke so groß und viel, Du hast sie alle weislich geordnet und die Erde ist voll Deiner Güte!«

Ihre Gedanken trugen sie auf Seraphsflügeln weit weg von der Erde, und mit ganzer Seele bei dem erhabenen Gegenstande, der sie beschäftigte, weilend, beschlich den ermüdeten kindlichen Körper der Schlaf. Sie fühlte ein Sichlosringen von etwas sie Hinderndem, Fesselndem. Sie sah sich selbst, schlafend am Fenster der Tante, den Kopf müde und träumerisch an die Wand gelehnt, während sie sich doch deutlich bewusst war, dass sie langsam, getragen von mächtigen Schwingen, ohne Furcht, ohne Schwindel, ohne ein Gefühl der Verwunderung emporschwebte in der unermessenen Bläue des Äthers.

Eine weiße Wolke zog vor ihr her, die schien ihr ein weißes, fliegendes Gewand zu sein, das ein Etwas verhüllte, das ihr unendlich teuer, dessen Dasein ihr Herz mit Freude erfüllte und stillen Trost auf die Stellen ihres Ichs goss, die sie ohne Aufhören schmerzen fühlte. Ohne die Hand auszustrecken, fühlte sie, dass sie sich festhielt an jenem flutenden Gewande, dass es ihr half, sich empor zu heben, und wie sie so da hinzog durch unendliche Räume, blickte sie nieder – unter ihr schwamm die Erdkugel, sie war ihr so fern, dass sie sie überblicken konnte. Das Meer deckte den schönen Stern, wie ein Gewand von Silberlohe, von dem das grüne, blühende Land wie von einer prachtvollen Stickerei verziert. Die Eisspitzen der Gletscher lagen darauf als blitzende Brillanten, der Sand der Wüste bildete einen goldenen funkelnden Gürtel darum, und die ziehenden Wolken umwebten alles mit einem zarten Schleier. Es war ein unbeschreiblich schönes Ganzes, was sich den entzückten Augen des jungen Mädchens zeigte und ihr Herz schlug hoch auf in unaussprechlicher Wonne. – Und wie sie umherblickte, da erkannte sie, dass ein Wesen neben ihr war, das Blicke unendlicher Liebe auf sie heftete, und eine Stimme, mild wie das Säuseln des Waldes, flüsterte ihr zu:

»Sieh, Leonore, wie klein die Erde wird mit allem, was sie enthält, wenn die Erkenntnis Dich über sie erhebt, und vergiss nicht, wie groß das Kleinste dem Herzen wird, wenn die Liebe Dich hineinversenkt. Ein Tropfen Wasser ist eine von Leben wimmelnde Welt, und der Stern, den Du Welt zu nennen gewöhnt bist, kaum ein Tröpfchen im Ozean des Alls. Lerne ––«

Ein heftiges, dröhnendes, widerwärtiges Lachen übertäubte die weiteren Worte, Leonore konnte sie nicht verstehen, sie fühlte, dass eine Hand sich kalt und schwer auf ihre Schulter legte und erwachte von einem eisigen Schauder überrieselt.


Ein Lebenstraum

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