Читать книгу Ein Lebenstraum - Julie Burow - Страница 4
Zweites Kapitel.
ОглавлениеDas junge Mädchen, die Veranlassung dieses Gesprächs, stand während desselben am obern Ende des Saales neben ihrem stattlichen Tänzer.
»Sie sind zum ersten Mal in dieser Gesellschaft, mein Fräulein?« fragte derselbe, seinen hübschen Kopf zu ihr neigend.
»Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Ball.«
»Und doch eine so graziöse Tänzerin!«
»Ich weiß nicht, ob ich das bin, mein Herr, aber ich denke, das wäre kein besonderer Vorzug; tanzen mein’ ich, kann jeder, der Atem holt und noch vieles, was das nicht einmal tut; tanzen doch Ball und Kreisel und das Geldstück oder der Knopf, den Sie auf dem Tisch einmal drehen, und wie heißt’s in dem Liedchen:
›O – der unnennbaren Seligkeit
Unter der Hörner Getön
Traulich in süßer Umschlungenheit
Sich wie die Sphären zu dreh’n!‹«
Baron Kandern warf einen erstaunten Blick auf das glühende Angesicht seiner Tänzerin. Wo in aller Welt hatte das junge Geschöpf mit den Sternenaugen das anstößige Zitat her? Aber in diesen Augen lag nichts, nichts als vollständige Unschuld und eine leuchtende funkelnde Freude, die seltsamerweise für den Beobachter etwas Rührendes, fast Schmerzendes hatte.
»Sie sind in dieser Gegend nicht heimisch?« begann er von Neuem zu fragen, doch Leonore deutete mit dem Finger auf das ihnen vortanzende Paar, das sich eben zur neuen Tour anschickte; Kandern legte seinen Arm um ihre feine Taille und dahin flogen sie; mit ihrer Tour war auch der Tanz beendet, Leonore musste ihrem Tänzer die Antwort auf seine Frage schuldig bleiben. – – –
Eine Nacht des Vergnügens verfliegt wie Champagner-Schaum, auch Lorchens erste Ballnacht war vorüber, sie hatte jenen unruhigen, von Tanzmusik durchbrausten, von Träumen durchwebten Schlaf gehabt, der einer solchen zu folgen pflegt, und stand bleich und mit abgespannten Nerven am Fenster ihres kleinen Stübchens. Der Schnee wirbelte in dichten großen Flocken um die Giebel und Dächer der Häuser, die sie von dort sehen konnte. Es war ein Teil der Hinterfronte der Hauptstraße, und wie anders sah sie aus als ihre Vorderseite. Blinde Fenster ohne Gardinen, Hoftüren, aus der schlumpige Mägde den Kehricht gleich an die baufällige Treppe geworfen, um sich den Weg bis zur Düngergrube zu sparen, die wenige Schritte davon entfernt, jetzt vom Schnee mit einer zarten Decke überwebt wurde. Ställe, aus denen Vieh hervorbrüllte und rechts dicht neben ihr, der Hof eines Schlächters, in dem eine Blutlache noch rot durch den Schnee schimmerte und an Leinen und Stäben in hässlichen Girlanden, die Gedärme verschiedener Tiere aufgehängt waren. Es lief ein Grauen durch des jungen Mädchens Glieder bei diesem Anblick.
»O wie unangenehm«, dachte sie, »sieht doch das ganze Leben von seiner Kehrseite aus, und wie viel wahrer ist die eigentlich, als die vordere. Hier zeigen sich die Menschen, wie sie sind, dort, wie sie uns scheinen wollen. An jedem Hofe sieht man, was für Leute das Haus bewohnen. Pfui, wie garstig! So garstig wie – der Tag nach einem Ball.«
Sie setzte sich matt auf den Stuhl am Fenster und stützte den Kopf in die Hand.
Er war wüst und brannte.
»Kann man sich noch auf einen Ball freuen, wenn man weiß, wie hässlich einem den Tag darauf zumute ist? Gewiss, ich möchte niemals mehr tanzen, niemals! Wie ein Spuk kommt mir die gestrige Aufregung und Luft vor.«
Sie wandte sich vom Fenster ab. Auf der Kommode ihres Stübchens lag der Rosenknospenkranz, der ihr gestern so ausnehmend gefallen.
»Rotgefärbte Zeugläppchen und grünes Papier«, flüsterte sie vor sich hin, »die schlechtesten Lappen, die es gibt, kann man zu Blumen der Art verarbeiten. Ja! eine Rose, eine wirkliche Rose! Die ist schön, sie duftet, sie lebt, und eine Hand voll Veilchen! Ha, wer die jetzt hätte! Blauveilchen, Kinderaugen des lieben Waldes, wann werdet ihr euch wieder öffnen und mich anlächeln?«
In diesem Augenblick klopfte man an ihre Tür und auf ihr: »Herein!« erschien ein Diener in grauer silbergestickter Livree und fragte:
»Hab’ ich die Ehre, Fräulein Leonore Arnold vor mir zu sehen?«
»Ja«, entgegnete die Kleine ziemlich betreten.
»Eine Empfehlung an Sie, mein Fräulein, ich habe den Befehl, das hier abzuliefern.«
Er setzte dabei einen Zentifolienstock, dessen Knospen sich eben röteten, ein über und über blau blühendes Töpfchen Winterveilchen und eine Anthemis, deren Sternblumen von geschlagenem Golde zu sein schienen, an das Fenster und war verschwunden, ehe Lorchen auch nur hätte fragen können, wer ihn beauftragt und für wen diese schönen Blumen bestimmt? Sie standen vor ihr, in aller Pracht ihrer natürlichen Schönheit, als ob die Feen sie auf ihren Wunsch hergesandt. O die Veilchen! Die herzigen Veilchen! Lorchen hätte in lauten Jubel ausbrechen mögen über ihren Frühlingsduft und ihr Maigrün und das Blau ihrer Blütchen.
»Wie die Augen meiner sel’gen Mutter«, dachte sie, als sie sich wieder und wieder über ihre Lieblinge beugte und plötzlich fielen ein paar glänzende Tränenperlen auf die grünen Blätter, sie hingen daran wie Tautropfen, und Lorchen bemerkte jetzt erst, dass zwischen denselben ein Papierstreifen stak. Sie zog ihn hervor.
»Der Blume, die Blumen!« stand darauf geschrieben. –
Lorchen war das Kind eines Schauspielers, aber es war der Wille ihres Vaters gewesen, dass sie nie das Theater besucht. Ebenso entschieden hatte derselbe sie ferngehalten von gewöhnlicher Roman-Lektüre.
Er selbst hatte sie dagegen frühzeitig bekanntgemacht mit der klassischen Literatur Deutschlands, nicht im Zusammenhang, nicht in durchdachter Reihenfolge, sondern ruckweise, wie eine seltsam wechselnde Laune ihn antrieb. –
Das fünfzehnjährige Mädchen hatte viel und nur Gutes gelesen, und ihre Lektüre, mehr noch ihr früh schon bewegtes Leben, hatte sie zu eigenem Denken geführt! In ihr arbeiteten und wogten tausend verschiedene Kräfte. Wie das Innere jener Wundergrotte in Capris Felsen, war das ihrige ein unbekanntes, fast unzugängliches Prachtwerk der Natur. Himmel und Meer und die leuchtenden Brillanten von tausend und wieder tausend Gedanken lagen still und verschwiegen in ihr und niemand ahnte, dass die schroffe Felswand dieser noch unentwickelten Jungfräulichkeit einen solchen Schatz verberge.
»O wie schön! Wie schön!« musste sie wieder und wieder sagen, während Trän’ um Trän’ auf die Blumen, auf das Papierblättchen, auf den eignen jungen Busen fielen.
Es war neun Uhr morgens. Justizrat Delbruck, ihr Onkel, hatte sich schon vor einer halben Stunde in sein Geschäftslokal begeben, wohin Lorchen ein für alle Mal ihm selbst das Frühstück bringen musste. Er hatte das seit dem zweiten Tage ihrer Anwesenheit in seinem Hause so verlangt und Lorchen, mit jenem dem Weibe angeborenen Instinkt zu sorgen, zu schaffen, zu pflegen, fand Vergnügen daran, dem Onkel alles so hübsch und nett als möglich zu machen.
Justizrat Delbruck, der gesuchteste Rechts-Anwalt Tilsits war ein Gourmand. Sein Frühstück besonders war seine Lieblingsmahlzeit, er liebte es in der Einsamkeit eines Arbeitszimmers ein Täubchen, ein Hühnchen zu speisen und ein Glas Pontac dazu zu genießen. Mitten in der freudigen Rührung, die jene Blumen ihr verursachten, durchzuckte Lorchen der Gedanke an den Onkel.
Sie lief in die Küche. Das gebratene Vögelchen stand schon bereit und roch höchst appetitlich. Lorchen stellte alles, was zu dem kleinen leckeren Mahl gehörte, zierlich und sorglich auf ein Teebrett und ging damit die Treppe hinab ins Arbeitszimmer.
»Wie seltsam es ist«, dachte sie dabei, »dass alles in der Welt schön und hässlich aussehen kann, je nachdem man es stellt und anordnet. Wie hässlich könnten diese Speisen, diese Flasche mit dem Glase aussehen, wenn ich nun alles durcheinander würfe. Was mag’s nur eigentlich sein, das die Schönheit hervorbringt? O wie angenehm und wohltuend ist das, was man unter Schönheit versteht!«
Sie klopfte mit leichtem Finger an des Onkels Sanktuarium, das nie der Fuß einer Magd betreten durfte, da Wurmser, der Schreiber, das Amt hatte, das Zimmer zu reinigen. Delbruck öffnet mit eigener Hand. Sein gewöhnliches, gar nicht schönes Lächeln blitzte über sein Gesicht. Er beugte sich, sah dem jungen Mädchen ins Auge, legte ihr die Finger unters Kinn und fragte mit einem eigenen Ausdruck:
»Wie ist der Ball bekommen, Fräulein Lorchen, mein Püppchen?«
Ein seltsames Gefühl rann leise, aber rasch durch alle Glieder des Mädchens. Sie konnte nicht gleich antworten, weil sie sich erst besinnen musste, wie es nur zuginge, dass des Onkels Berührung ihr stets die nämliche unangenehme Empfindung erweckte. Es war, als ob eine Raupe sich auf ihre Hand niederließe – Lorchen liebte die Raupen gar nicht.
»Nun, Kleine?«
»Wahrhaftig, Onkelchen, ich weiß nicht, mir war heute recht hässlich zumute, so hässlich, dass ich dachte, ich wollte in meinem Leben nicht mehr tanzen, nicht dass ich unwohl oder müde wäre, behüte!– siehe nur, ich kann noch prächtig tanzen«, und dabei drehte sie sich, das Teebrett in der Hand haltend, graziös auf einem Fuße um und machte einen allerliebsten Menuetten-Knix,– »aber innerlich war mir’s gar nicht behaglich, ich hätte weinen können, über gar nichts, ja ich habe sogar geweint.«
»Das nennt man moralischen Katzenjammer, Liebchen«, sagte der Justizrat und führte dabei das Kind, ohne dass sie eigentlich wusste wie, nach dem kleinen Sofa, auf das er sie mit einer leichten Handbewegung niederdrückte.
»Nun iss mit mir, Leonore«, fügte er dann hinzu, »hier trink’ aus meinem Glase, der Wein, den so frische Mädchenlippen kredenzen, schmeckt noch einmal so gut.«
Lorchen nippte und Delbruck schlürfte den Rest, mit seinen Lippen genau die Stelle berührend, an der das Mädchen getrunken. Justizrat Delbruck war ein Mann von etwa fünfzig Jahren. Er musste sehr hübsch gewesen sein. Figur, Haltung und Sprache hatten ein gewisses vornehmes sich Gehenlassen, das ihm vortrefflich stand. Sein Haar war noch voll und lockte sich leicht über eine Stirn, die jetzt wohl höher als vor zwanzig Jahren sein mochte. Sein Mund war hübsch, er mochte in jüngeren Jahren zu denen gehört haben, die man mit Kirschen zu vergleichen pflegt. Jetzt lag etwas Schlaffes um denselben und sein Lächeln war durchaus nicht schön, ja es hatte für Lorchen geradehin etwas Furchterweckendes, denn es zeigte die goldene Vernietung der falschen Zähne, vor denen der Kleinen ein wenig graute. Alle seine Züge waren regelmäßig, die Augen braun und länglich und sie pflegten sich, wenn er lächelte, zu schließen, so dass unter den bleichen, gesenkten Lidern der Blick wie ein Blitz aus Wolken, wie eine funkelnde Kohle aus einem tiefen Schlot hervorzuleuchten schien. Seine Gesichtsfarbe war bleich und schwammig, und seine Hand, die er eben in Lorchens weißen Nacken legte, feucht.
»Iss mit mir, Liebchen«, sagte er sehr leise und sich, als ob er ihr ein wichtiges Geheimnis anvertraue, an Lorchens Ohr neigend.
»Danke, Onkelchen, ich habe gar keinen Appetit.«
»Du siehst so nachdenkend aus, Leonore, was fehlt Dir, Mädchen?«
»Nichts, Onkel, ich dachte nur wirklich nach, ich dachte daran, weshalb Sie wohl in dieser Stube so sehr, sehr viel freundlicher gegen mich sind, als an jedem andern Orte, man möchte glauben, es läge in diesen vier Wänden ein Feenzauber.«
»Freut Dich meine Freundlichkeit, reizendes Geschöpfchen?«
»Aufrichtig gesagt, mein lieber Onkel, und darüber mache ich mir Gewissensbisse, Sie sind doch der Mann von meiner lieben sel’gen Mutter einziger Schwester, Sie sind mein Wohltäter und doch mag ich lieber, wenn Sie mich ganz und gar nicht ansehen, als wenn Sie mir so nahe rücken und mir die Hand aufs Kinn oder in den Nacken legen, ich denke eben nach, woher das kommen mag?«