Читать книгу Ein Lebenstraum - Julie Burow - Страница 6
Viertes Kapitel.
ОглавлениеVierzehn Tage später saß Lorchen am Fenster der Wohnstube. Vor ihr stand der Stickrahmen, aber sie hatte sich nur über denselben gebeugt und betrachtete das Blumengewinde, das ihre Hand in der Tat mit Geschmack und Geschick auf dem dunkeln Grunde hervorgerufen hatte. Wie wenig glich es dem, was sie hatte arbeiten wollen. Wie ein Blütenstrauß aus Edensgarten hatte ihr die Zeichnung vorgeschwebt, als sie sie mit wenigen Kreidestrichen auf das Tuch geworfen. Jetzt sah sie Wollfäden grob und bunt, nur wenn sie weit zurücktrat, fand sie in dem vollendeten Werk einen Schimmer von dem, was sie zu schaffen sich vorgesetzt hatte. Sie seufzte leise.
»Ist es mit allem so, was man im Leben auszuführen versucht? Wie oft von meiner frühsten Kindheit an, ist mir’s wie heute gegangen?« –
Lorchen war eine geschickte und geniale Zeichnerin, und Stickereien von ihr in bunter Wolle und Seide waren vor Jahren schon in einer Kunstausstellung gewesen, mit einem daran gehefteten Zettel:
»Angefertigt von der zehnjährigen Leonore Arnold, Tochter des Schauspielers Arnold in Breslau.«
Sie gedachte jener Tage und das Bild ihres Vaters trat plötzlich mit einem Glanz vor ihre Seele, der ihr geistiges Auge blendete.
Sie hatte ihm lange, lange nicht geschrieben, seit dem Tage vor dem Balle nicht, sein letzter Brief lag noch unbeantwortet in ihrer Brieftasche. – Zwar kannte sie ihn auswendig, aber dennoch las sie ihn wieder, und jedes Wort regte von neuem das leise Bangen in ihr auf, das in ihrem Herzen blühte, aber wie die Orchis und die Viole seinen Duft nur in Nacht und Einsamkeit verstreute. Sie las:
»Leonore! – Wie mir das seltsam, fast schaurig ist, Deinen lieben Namen hier auf das Papier zu schreiben, und mir und Dir zu versichern, dass diese Zeilen für Dich bestimmt sind. Mein Kind! Geliebtes Herz, das noch vor so kurzer Zeit neben mir stündlich ein neues Blatt einer Gold- und Purpurblüte entfaltete, wo weilst Du nun? O dass die Erinnerung an mich Dir keine Trauer verursachte, dass Du glücklich und zufrieden in Verhältnissen lebtest, die Deiner Lebens-Entwickelung zuträglicher und natürlicher sind, als die an der Seite Deines Vaters. Ich stelle mir das Haus Deines Onkels dem sehr ähnlich vor, in welchem Deine Mutter einst erblühte, und Deine Tante Selma war damals, als eine tiefe glühende Leidenschaft Deine Eltern vereinigte, ihrer schlichten, freundlichen Mutter so ähnlich, als ein sechszehnjährig Mädchen einer fünfzigjährigen Matrone nur sein kann, und die Frau ist’s ja, die dem Hause seinen Geist, seine Färbung gibt.
Möchtest Du, mein süßes Kind, eine wahre Tochter sein. Lerne von ihr die Seligkeiten und Pflichten der Tochter einer wackern Bürgerfamilie. Deine Mutter verstand und übte sie auch und es war ihr heiligster Wunsch, sie Dich zu lehren.
Deine Mutter. Still’ Erinnerung, lerne schweigen, bebendes Herz! Deine Mutter war eines jener engelhaften Wesen, die nur durch eine einzige Schwäche ihre irdische Abkunft dokumentieren, durch ihre Schwäche gegen den Mann, den sie mit ihrer Liebe beglücken. O meine Leonore, nie genug kannst Du das Andenken an Deine Mutter ehren, nie genug es in Deinem Herzen befestigen. Wenn Du dort, in dem Kreise, wo Du jetzt lebt, ein hartes und liebloses Urteil über sie hört, so möge es Dich eine Wahrheit lehren, die das junge Herz sich nie früh genug zu eigen machen kann, die Wahrheit nämlich: dass im Kreise der Gewöhnlichkeit kein ungewöhnlich erhabener Charakter seine Anerkennung findet. Im Hause Deiner Großeltern existierte einst ein wohlgetroffenes Bild Deiner Mutter, frage danach und suche es Dir zu verschaffen, Du hast wohl ein Recht auf das heilige Andenken.
Leonore! Könnte ich Dir nur eins und das Eine fest einprägen, so fest, dass es in Deinen jetzigen Umgebungen durch keine Formen und Rücksichten verdunkelt und übertüncht würde. Die Liebe ist des Weibes höchste Vollendung, ihre einzige Lebensbestimmung, der Inbegriff aller ihrer Tugenden. Halte an diesem Grundsatze fest in allen Lebensverhältnissen, lass’ Dich nicht blenden durch sophistische Reden von Pflichten, die das Herz nicht begreift. Sei immer wahr gegen Dich selbst, und Du wirst den Mut haben, auch wahr gegen die Welt zu sein. Die Menschen der Alltagswelt sind mit ihren Aktionen und Reden von Tugend und Trefflichkeit viel mehr Schauspieler, als wir, die wir die Bühne zum traurigen Lebensberuf gewählt haben. –
Aber was will ich nur, mein Kind, welchen Predigerton nehme ich gegen Dich an? Sei unerfahren glücklich, gläubig froh, das ist die beste, die einzige Weisheit Deiner Jahre und Deines Geschlechts. Wenn Du Dich nach mir bangen solltest, so denke, dass, ob ich Dir auch fern bin, Dein Vater doch lebt und Dich liebt.
Arnold.«
Die Kleine faltete den Brief zusammen und legte ihn in ihr Kästchen.
»Armer, lieber Vater«, dachte sie, »von einem Leben, von seiner Gesundheit schreibt er kein Wort. Ich denke aber, nun wird Tante Selma auch endlich erlauben, dass ich ihm antworte. – Das Bild meiner armen Mutter findet sich nicht! Wo es nur ein mag? – ›Die Liebe soll des Weibes höchste Vollendung sein‹ – was meint er nur damit? Was ist Liebe überhaupt?«
Die Justizrätin war ins Zimmer gekommen und besah ernsthaft Lorchens Stickerei.
Das junge Mädchen hob das Köpfchen zu der Schwester ihrer Mutter empor und fragte, dem Strom ihrer Gedanken Worte gebend:
»Tante Selma, was ist Liebe?«
»Gott steh’ mir bei!« entgegnete die wackere Frau, »hat man jemals im Leben so etwas von einem fünfzehnjährigen Mädchen gehört!«
»Aber Tantchen, mein Vater schreibt doch –«
»Ich wollte, Dein Vater schriebe lieber gar nichts, als solchen Unsinn. Es ist eine Sünde und Schande.«
»Aber Tantchen, Du kannst mir doch wenigstens sagen, was Liebe ist, und wäre sie auch das Schrecklichste auf der Welt. Ich weiß doch, was Stehlen ist und Morden, und in der letzten Woche beim Konfirmations-Unterricht hat uns der Herr Superintendent auch erklärt, uns Mädchen allein und den Knaben wieder allein, was Ehebrechen ist, warum soll ich denn nun nicht wissen, was lieben ist?«
Die Justizrätin nahm mit zwei Fingern einige Staubkörnchen und Wollfädchen von der vollendeten Stickerei und sagte:
»Ach lieben! Lieben ist dummes Zeug. Arme Mädchen überhaupt müssen gar nicht von lieben reden, es schickt sich nicht, und daraus kommen dann solche Romanengeschichten, wie die mit Deiner sel’gen Mutter. Wenn einmal ein anständiger Mann nach Dir kommt, Lorchen, ein Mann, der sein Brot hat, der es ehrlich meint und zu Deinem Stande passt, den kannst Du dann lieben in Gottes Namen, ich liebe meinen guten Justizrat auch, bei einer verheirateten Frau ist das Pflicht und Schuldigkeit. Junge Mädchen denken nicht an solche Dinge. Geh’ in Onkels Zimmer und stäube die Möbel ab, Onkel will, dass Du das tust und nicht der Schreiber.«
»Kann ich nicht warten, Tantchen, bis der Onkel im Geschäftslokal ist?«
»Häusliche Arbeiten müssen immer zur rechten Zeit getan werden. Punkt zehn Uhr muss Onkels Zimmer ganz aufgeräumt sein, ein Viertel auf elf beginnt eine Empfangszeit!«
Die Kleine nahm die verschiedenen Wischtücher und Federbesen, welche bei der Justizrätin zum Abstäuben gebraucht wurden und ging mit jenem leisen Grauen, das sie durchaus nicht überwinden konnte, wenn sie gezwungen war, mit dem Onkel allein zu sein, an ihr Geschäft.