Читать книгу Dungfeuer - Jutta Gujral - Страница 10

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An diesem 5. August 1947 schien es, als wolle die Hitze die Erde verschlingen. Selbst die Nachmittagsstunden brachten keine Erleichterung. Savitri lief der Schweiß den Nacken herunter. Sie nahm den Wok vom Feuer. Mit einer heftigen Bewegung stellte sie ihn auf das steinerne Bord neben dem Herd. Wo blieb Gulshan heute bloß wieder? Er hätte längst zu Haus sein müssen.

Savitri lehnte sich an den Türrahmen und sah ihren Söhnen beim Spiel zu. Die kleine Namita wollte heute nicht von ihr lassen. Den ganzen Tag hatte sie sie herumtragen müssen. Der Duft der Methi-Paranthas lag würzig und schwer in der Luft. Wütend dachte Savitri, wahrscheinlich hatte ihn wieder ein ängstlicher Dorfbewohner aufgehalten, wie so oft in letzter Zeit.

Savitri schaute wieder auf die Uhr. Namita war auf ihrem Arm eingeschlafen. Hinter dem Haus war der Wäscher noch immer bei der Arbeit. Das rhythmische Klatschen der Wäsche auf den Waschstein drang durch das rückwärtige Küchenfenster an Savitris Ohr. Plötzlich horchte sie auf. Das klatschende Geräusch hatte aufgehört. Lärm drang von der Straße her ins Haus. Sie erstarrte. Das waren Hilferufe! Es roch merkwürdig. Wo war Gulshan nur?

Der Lärm wecke Namita. Savitri setzte die Kleine rasch auf den verschlissenen Teppich vor dem gescheuerten Holztisch und lief zur Tür. Qualm und Brandgeruch schlugen ihr entgegen, nahmen ihr den Atem. Sie versuchte, mit den Augen den beißenden Qualm, der sich zwischen den Hütten auf den Straßen und Wegen ausbreitete, zu durchdringen. Es gelang ihr kaum. In dem undurchdringlichen Häusergewirr bewegten sich schreiende Schatten. Sie ahnte, dass etwas Ungeheuerliches vor sich ging und lief ein paar Schritte auf die Straße. Nein, das konnte nicht sein! Die Nachbarn, bewaffnet mit Knüppeln, Eisenstangen, Messern, Schaufeln. Wie Bestien brüllend fielen sie übereinander her, mit allem, womit man einem Menschen den Schädel einschlagen konnte. Einige, mit brennenden Holzscheiten Bewaffnete, zündeten die nächststehenden Häuser an. Das Geschehen hatte etwas Unwirkliches. Savitri Puri schien es, als sei sie Statistin einer Filmszene. Sie stand erstarrt, ihr Herz raste, der Schweiß lief ihr von der Stirn. Ihr Verstand wollte nicht erfassen, was da geschah. Mit Entsetzen sah sie den Kaufmann Gopal am Boden liegen während Habib, der Maurer, mit einer Eisenstange auf ihn einschlug. Gopal schrie gellend und versuchte, die Schläge mit den Händen abzuwehren

„Habib, Habib! Ich bin Gopal! Dein Freund!“

Er wand sich im Staub und flehte um sein Leben. Sein Haus stand in Flammen. Die Schreie gingen in leises Wimmern über. Wie von Sinnen schlug Habib weiter zu. Gopal rührte sich nicht mehr. Eine Blutlache bildete sich unter seinem Kopf.

Savitri unterdrückte einen Schrei, als sich Gopals Frau, Malu, über ihren toten Mann warf und seinen Kopf in beide Hände nahm. Doch da stürzten sich auch schon wieder die beiden Männer, die sie festgehalten hatten, während Habib auf Gopal einschlug, auf die wimmernde Frau und zerrten sie an den Straßenrand. Savitri lief los, um Malu beizustehen.

Erst jetzt traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Ihre muslimischen Nachbarn machten sich mit entfesselter Wut hasserfüllt über jeden Hindu her, dessen sie habhaft werden konnten. Von überall aus dem Dorf gellte nun der Lärm wie Schlachtgetümmel zu ihr herüber. Von panischer Angst erfasst machte sie kehrt. Ihre Beine schienen nicht zu gehorchen. Es kam ihr vor, als seien Stunden vergangen, bis sie endlich die Haustür hinter sich zuschlagen und den Riegel davorschieben konnte. Atemlos rief sie nach Deepak, der bleich neben seinem Bruder stand und auf den Lärm horchte.

„Deepak, nimm Ram Chand an die Hand, wir müssen hier weg!“, schrie sie.

Deepak gehorchte instinktiv, als ahne er, dass im Dorf etwas Schreckliches vor sich ging. Er riss Ram Chand hoch, der immer noch in sein Spiel mit den Holzkugeln versunken auf dem Boden saß und rannte mit ihm zur Hoftür.

Wo blieb Gulshan? Oh Gott..., war er vielleicht auch schon tot, schoss es Savitri durch den Kopf, während sie mit der schreienden Namita auf dem Arm hinter Deepak herlief. Er hat bestimmt versucht, im Dorf zu schlichten – bei Shiva, das würde er nicht überleben. Sie musste mit den Kindern flüchten!

Da flog die Hoftür auf. Gulshan! Seine Kleidung war blutig, über sein Gesicht liefen Tränen. Aber er lebte - bei den Göttern, er lebte!

„Wir müssen laufen, laufen! Sie wollen uns umbringen!“ Seine Stimme klang rau. Mit vom Qualm der Feuer entzündeten Augen schaute er sich kurz in der Küche um, lief in den kleinen Schlafraum, griff sich aus der Schublade das Bargeld und stieß die zitternde Savitri zur Hintertür hinaus. Dann packte er seine beiden Söhne bei den Händen und lief mit ihnen los - nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen, Savitri mit bloßen Füßen. Ein paar Meter hinter ihrem Hof, am Rande des Dorfes bei den angrenzenden Weizenfeldern rutschte Savitri plötzlich auf dem Lehmweg in einer Milchlache aus. Im Fallen versuchte sie, Namita vor dem Aufprall zu schützen und fiel mit ihr der Länge nach in eine Masse aus Milch, Erde und Blut. Als sie sich aufrappelte, sah sie den Milchmann Naved mit durchschnittener Kehle am Straßenrand liegen. Sein Blut hatte sich mit der verschütteten Milch zu einem ekelhaften rosafarbenen Rinnsal vermischt. Wie ein vom Wind gepeitschter Nebelfetzen tauchte eine Szene vor ihr auf: Naved, der Hindu, in Einigkeit neben seinem Freund Habib, dem Muslim. Savitri rann der Schweiß über das Gesicht. Der Sari klebte nass an ihrem Körper.

Gulshan zischte heiser: „Weiter, weiter!“ und zerrte Ram Chand hinter sich her, quer über die abgeernteten Weizenfelder, nur weg, weg von dem Wüten und Schreien. Im Laufen wagte er einen Blick zurück und sah Rauchsäulen aufsteigen. Die Hälfte des Dorfes stand in Flammen.

Deepak hatte in Panik die Hand des Vaters losgelassen und war voraus gelaufen. Gulshan schrie: „Lauf in den Wald! In den Wald!“

Savitri raffte ihren Sari. Die Angst, wieder zu fallen und vor Erschöpfung im Stoppelfeld liegen zu bleiben, nahm ihr den Atem. Sie musste weiter! Dass ihre Füße und Beine bluteten von den wie spitze Messer aus der Erde ragenden Stoppeln aufgeschlitzt, nahm sie nicht wahr.

Das freie Feld bot wenig Deckung. Doch zogen sich überall durch die Ebene, die an die Weizenfelder anschloss, trockene Gräben, und hier gab es reichlich dorniges Gebüsch und Elefantengras, in dem man sogar eine Ziegenherde hätte verstecken können. Dorthin mussten sie es schaffen. Als sie keuchend das erste Gebüsch erreicht hatten, sahen sie im Gras einen toten Mann liegen, von Schmeißfliegen umsummt. Selbst bis hier her hatte sich also schon jemand geflüchtet. Der Dorfbewohner war durchs hohe Gras gekrochen und dort gestorben. So schwere Verletzungen hatten sein Gesicht verunstaltet, dass Savitri und Gulshan Puri nicht mehr erkennen konnten, wer er war. Es war ein Wunder, wie er sich noch so weit hatte schleppen können.

Dass auch andere den Versuch gemacht hatten, querfeldein zu flüchten statt über die Straße, machte Gulshan besorgt. Es kam ihm nun vor, als habe er den falschen Weg gewählt. Geduckt hinter den Büschen Deckung suchend schob er die Kinder weiter, bis sie endlich den Wald erreicht und sich so weit vom Dorf entfernt hatten, dass sie einen Moment durchatmen konnten. Ihr rasselnder Atem drohte, ihnen die Brust zu sprengen. Savitri versuchte, ihre eigenen Ängste und die der Kinder einzulullen, indem sie atemlos immer wieder dasselbe Lied summte.

Die Schreie der Gequälten und das Prasseln des Feuers, das Bersten der in Flammen stehenden Balken der Häuser und Hütten, im Dorf zu einem Höllenlärm angeschwollen, drangen nun nur noch gedämpft aus der Ferne zu ihnen. Es schien, als seien sie den Mördern erst einmal entkommen. Jetzt zählte nur noch der Instinkt zu überleben.

Gulshan trieb die erschöpfte Savitri weiter. Er hatte Ram Chand inzwischen auf den Arm genommen, um schneller vorwärts zu kommen. Nun setzte er ihn ab und nahm Savitri die schreiende Namita aus den Armen. Das Kind spürte die Panik ihrer Eltern und Geschwister. Gulshan Puri drückte sie fest an sich. Ram Chand nahm er an die andere Hand. Von seinen Haarspitzen tropfte der Schweiß, seine weiße Baumwollhose hing ihm, vom Lehm verdreckt und den Dornen zerfetzt, von den Hüften.

„Wir können nicht ausruhen! Wer weiß, ob sie nicht die Verfolgung aufnehmen“, keuchte er. „Wir müssen weiter! Wir wären für sie die wichtigsten Opfer – der Bürgermeister und seine Familie! Vielleicht sind sie schon hinter uns. Mögen die Götter uns beistehen!“

Deepak zog seine Mutter hinter sich her. „Ma-ji, lauf!“, krächzte er mit fremder Stimme. Seine zerkratzten dünnen Beine suchten sich einen Weg durchs Unterholz.

Endlich hatten sie sich so weit vom Dorf entfernt, dass kein Lärm mehr zu ihnen drang. Sie hörten nur noch den in der Nähe brausenden Fluss und die im warmen Abendwind sanft rauschenden Blätter der Bäume und Sträucher am Wegesrand. Die Vögel in den Büschen zwitscherten und die von der Abendsonne blutrot gefärbten Zirruswolken am dunkler werdenden Himmel bewegten sich nicht, so als hätte die Zeit aufgehört zu existieren.

In Gulshan Puris Kopf überschlugen sich die Gedanken. Schnell würde es dunkel werden. Er musste einen Unterschlupf finden, der ihnen Quartier und Sicherheit für die kommende Nacht bot. Wie unwirklich friedlich wirkt hier alles, dachte er erschöpft. Am Ufer des Jhelum oder in der Nähe des Flusses könnten wir vielleicht ein paar essbare Beeren finden und uns im Fluss säubern. Andererseits würden Verfolger das Flussufer sicherlich zuerst absuchen. Aber es nützte nichts, sie mussten sich bald ein paar Minuten ausruhen.

Auf einer kleinen Lichtung ließ sich Savitri stöhnend ins warme Gras fallen.

„Ich kann nicht mehr weiter! Einen Augenblick nur!“

Mit wirrem Blick sah sie zu Gulshan auf.

Ihre Gedanken wirbelten. Wie konnte sie das ganze Ausmaß des Geschehens begreifen?

„Können wir nicht mehr zurück ins Dorf? Was geschieht mit uns?“, keuchte sie.

Als Gulshan ihr keine Antwort gab, sich nur neben sie setzte und sie an sich zog, flüsterte sie: „Unsere Nachbarn… Wir waren doch Freunde. Und nun... Ich habe gesehen wie Habib über Gopal hergefallen ist und ‚Pakistan Zindabad! Es lebe Pakistan!’ geschrien hat. Er hat ihn erschlagen. Habib, der doch früher nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun konnte!“ Ein Weinkrampf ließ sie verstummen.

Gulshan zuckte die Achseln. Er sah ihren düsteren Blick, als sie erfasste, was der Tod von Menschen, mit denen sie zusammengelebt hatten, bedeutete. Er verstärkte den Druck seines Armes und umfing mit dem anderen seine drei Kinder. So saßen sie eine Weile umschlungen beieinander.

Die Nachbarn…, dieselben, mit denen wir Sorgen geteilt, Feste gefeiert, zusammen gelacht und geweint haben, dachte Gulshan - diese friedlichen Menschen von gestern… - plötzlich rasende Ungeheuer und Mörder… Sein Kopf dröhnte.

„Männer aus unserem Dorf“, flüsterte Savitri, „haben Malu vergewaltigt, wie wilde Tiere!“

Gulshan schüttelte sich: „Indien kocht! - Blutige Freiheit!“, sagte er bitter und konnte die Todesangst nicht vertreiben, die sein Denken beherrschte. Sie waren ja auch noch nicht außer Gefahr. Und Unabhängigkeit dröhnte es in seinem Kopf - wie gleichgültig ihm diese Unabhängigkeit plötzlich war. Unabhängigkeit…, noch nicht erreicht, und schon fegt Gewalt wie ein heißer Feuersturm über uns hinweg, nimmt uns den Atem, verbrennt das Herz Indiens und auch unser Dorf. Er krümmte sich. Das Stöhnen und die Schreie der Menschen hatten sich für immer in seinem Kopf eingebrannt, würden wie ein Echo in ihm nachhallen. Nachhause zurückkehren konnten sie nicht mehr, das wusste er. Aber er hütete sich, das laut auszusprechen.

Deepak schmiegte sich noch dichter an Savitri. Ram Chand kaute auf seinen Lippen und schaute seinen Vater mit ängstlichen Augen an. Gulshan küsste ihn auf die Stirn. Er verfluchte diese machtgierigen Politiker, die mit ihren Worten so viel Hass in die Herzen der Menschen geträufelt hatten, dass sie zu Ungeheuern, zu Werkzeugen in ihren gnadenlosen Händen geworden sind. Wie ein Gewitter schossen Fragmente seiner Gedanken aus den letzten Monaten durch seinen Kopf. Er hatte Recht behalten... Der Punjab war nicht verschont geblieben...

Nach dem gewalttätigen Ausbruch in Kalkutta..., wie ein Fanal hatte er gewirkt. Das ganze Land in Aufruhr, entfesselte Mordlust unter den verfeindeten Religionsgruppen. „Pakistan Zindabad!“ – der Schlachtruf der Muslim-Liga. Zu Tausenden waren sie aus ihren Elendsquartieren gestürmt. Mit Keulen, Schaufeln und Eisenstangen hatten sie jedem Hindu den Schädel eingeschlagen, dem sie begegneten. Solange sie keinen Ausweg sahen... Alle sollten wissen, dass sie sich ihr Pakistan durch Gewalt schaffen würden. Geboren in der Hölle Kalkuttas, den Slums, der dichtesten Zusammenballung von Menschen auf der Erde, in beispiellosem Schmutz und Elend dahinvegetierend - waren sie leichte Beute einer rücksichtslosen Politik. - Und später die Rache der Hindus… Verzweifelt fuhr sich Gulshan über die Augen. Wehrlose Muslime niedergemetzelt, muslimische Kulis zu Dutzenden erschlagen zwischen dem Gestänge ihrer Rikschas. Die Schwachen und Wehrlosen – ihnen erging es überall am schlimmsten.

Gulshan fror trotz des Schweißes auf seiner Haut. Er rieb sich die entzündeten Augen. Furcht stieg wieder in ihm hoch, Furcht vor der kommenden Nacht. Er zeigte auf die schräg durch die Äste der Bäume fallenden Sonnenstrahlen. „Wir müssen weiter! Vor der Dunkelheit müssen wir ein Versteck gefunden haben.“

Als die orangerote Sonne am Horizont verschwand, entdeckte Gulshan im diffusen Licht der anbrechenden Dämmerung zwei alte ineinander gewachsene Bougainvilleabüsche im Schutze eines Felsüberhanges, nicht weit vom Ufer des Jhelum entfernt. Jetzt waren die Berge im Dämmerlicht nur noch schemenhaft zu erkennen. Er bog die Zweige auseinander und fuhr erschrocken zurück. Zwei aufgescheuchte braune Rebhühner flatterten ihm schreiend entgegen und verschwanden am Flussufer. Die Bougainvilleabüsche, im Frühling dicht an dicht mit orangeroten, lila oder weißen Blüten besetzt, neigten ihre verdorrten Zweige bis auf die ausgetrocknete lehmige Erde und boten einen kleinen Unterschlupf von nicht mehr als zwei mal zwei Metern. Hier hinein krochen Gulshan und Savitri Puri mit den Kindern.

Savitri hatte das Ende ihres blau-grünen Saris, das jetzt mehr einem staubigen zerrissenen Stofffetzen glich, um die kleine Namita gewickelt. Sie hielt die Kleine, die jetzt vor Hunger schrie, an sich gepresst und redete beruhigend auf sie ein. „Meine kleine Rani, sei still, sei still. Wir sind jetzt in Sicherheit“, sagte sie mit einem Blick auf Gulshan – Bestätigung suchend.

Wie gut, dachte sie, als sie Namita an die Brust legte, dass ich die Kleine immer noch stille. Wenigstens ein Kind wird satt werden. Sie klopfte Namita mit ihrer flachen Hand auf die Stirn und schaukelte sie in ihrem Schoß sanft in den Schlaf. Die rhythmischen Bewegungen lullten Namita ein und bald schlief sie friedlich. Savitri atmete tief ein, um ihrem Körper ein wenig Spannung zu nehmen. Doch die Angst wurde wieder übermächtig. Das erste Mal seit ihrer Flucht dachte sie an ihre Eltern! Sie waren alt, der Vater krank. Hatten sie flüchten können? Lebten sie noch? Ihre Kehle schmerzte, doch sie hielt die Tränen zurück. Wie hatte ihr kluger Vater sich diesmal getäuscht. Er hatte immer daran geglaubt, dass Gandhi mit seinen Bußmärschen auf den blutdurchtränkten Wegen den Hass aus den Dörfern und Hütten vertreiben konnte. Hatte gemeint, dies sei ein besserer Weg, als mit Jinnah, dem Führer der Muslim-Liga, zu verhandeln. Zuerst müssten die Menschen dazu gebracht werden, untereinander Frieden zu schließen, dann würde sich diese Friedfertigkeit auch in ihren Führern widerspiegeln. Welch ein Trugschluss! Und dann sah Savitri ihre Mutter vor sich, wie sie dem Vater im Wohnzimmer mit übereinander geschlagenen Beinen gegenüber gesessen hatte, klein, drahtig und couragiert. Wie sie ihm mit blitzenden Augen ins Wort gefallen war. „Dieser todkranke, verbitterte Jinnah will seinen eigenen Staat Pakistan. Für dieses Ziel wird er kämpfen wie das sterbende Alpha-Tier eines Löwenrudels, das selbst nicht mehr kämpfen kann, dessen Zähne und Krallen aber noch scharf genug sind, das von dem Rudel erlegte Opfer zu zerfleischen.“ Und der Vater, an die Temperamentsausbrüche der Mutter gewöhnt, hatte beruhigend die Hand gehoben: „Jinnah hat zwar dem Kongress und den Engländern den Fehdehandschuh hingeworfen. Hat ihnen gedroht, er und seine Muslim-Liga würden Indien entweder in die Teilung oder in die Zerstörung treiben. Aber wird er den Mut dazu haben? Wird er nicht an die vielen Leben denken, die diese Teilung vernichten würde?“

Ihr immer zum Ausgleich bereiter Vater! Wie wenig Beachtung hatte er den heftigen Worten ihrer Mutter geschenkt, dachte Savitri. Und nun waren die Drohungen, die Warnungen vor einer Katastrophe Realität geworden. Einer Katastrophe, die über Indien hereinbrechen würde, wenn man den Muslimen einen eigenen Staat verweigerte. Sie und ihre Familie auf der Flucht - versteckt in einem Erdloch. Die Eltern vielleicht schon tot. Wieder sah sie die Mutter vor sich mit ihrem fein geschnittenen Gesicht und den streng zum Knoten gewundenen grau melierten Haaren. Wie viel Liebe hatte sie von ihr empfangen, wie viel Kraft. Würde sie jemals wieder die Wärme ihrer Umarmung spüren? Tränen liefen über ihre Wangen.

Gulshan Puri säuberte seine schmutzigen Kleider notdürftig und wusch sich im frischen Wasser des Flusses den Schweiß, das Blut und den Staub der Flucht ab. Das Rauschen des Flusses übertönte nicht das Hämmern in seinem Kopf. Wie hätte er ahnen können, dass nach dem Morgen mit seiner gewohnten Geschäftigkeit, seinen Geräuschen und Gerüchen, am späten Nachmittag das Entsetzen über das sonst so friedliche Dorf hereinbrechen und es in eine lärmende, nach Tod riechende Hölle verwandeln würde. Was war passiert, dass auch in Khushab der Hass sich in Gewalt entlud? Plötzlich sah jeder in dem anderen einen Todfeind. Sicher, Anzeichen hatte es seit langem gegeben, dachte Gulshan, als er vorsichtig zurück zu ihrem Versteck schlich. Aber hatte er sich so täuschen können? Es war zwar immer darauf hinausgelaufen, dass die Muslime sich den Hindus als die wahren Gläubigen überlegen fühlten und umgekehrt, aber sonst hatte man doch einander geachtet. Erst diese mörderische Hetze hatte den Wandel verursacht! Verdammt sollen sie sein, diese machtgierigen Politiker, dachte er und schlug sich auf die Schenkel. Gandhis Vorahnung schien sich nun zu bewahrheiten, dass die Teilung ein grausames Gemetzel auslösen, Freund über den Freund, Nachbar über den Nachbarn, der Fremde über den Fremden herfallen würden. Um eines sinnlosen Zieles willen wird so viel Blut vergossen. Ein geteiltes Land wird die Folge sein. Ein Muslimstaat wird entstehen: Pakistan – Land der Reinen. Und ein reduziertes Indien, in dem dennoch weiterhin Millionen Muslime leben werden. Gandhi hatte die Teilung immer verhindern wollen. Gulshan schüttelte sich heftig die letzten Wassertropfen aus den Haaren. Wie und wo das Land zu teilen sei, würde die Radcliffe-Kommission entscheiden, mit einem Briten als Vorsitzendem! Gipfel der Perversion, dachte er. Bei allen Göttern! Wut und Hilflosigkeit war alles, was er empfinden konnte. Und Trauer. Trauer darüber, dass er aus seiner Heimat fliehen musste mit Savitri und seinen drei kleinen Kindern. Trauer über die vielen toten Freunde und Nachbarn und Angst um die Zurückgebliebenen, um diejenigen, die es aus Altersgründen, oder weil sie krank waren, nicht geschafft hatten zu fliehen, oder die einfach ihre Heimat nicht verlassen konnten.

Aber was sollte er sich sorgen um das, was hinter ihnen lag, befahl er seinem ruhelosen Geist. Was geschehen war, war geschehen. Jetzt galt es zu überleben, sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen. Unsicher und sich selbst ein bisschen fremd, kam es ihm nun vor, als habe das bisherige ruhige Leben gar nicht wirklich stattgefunden.

In der fortgeschrittenen Dunkelheit starrte er durch die Zweige ihres Unterschlupfes auf den schemenhaft zu erkennenden grauen rissigen Stamm eines Lilac-Baumes, dessen farnartiges Blätterdach den Bougainvilleastrauch zusätzlich abschirmte, sodass Mond und Sternenhimmel nicht mehr zu erkennen waren. In dieser schützenden Höhle fühlte Gulshan Puri sich und seine Familie zumindest für eine Nacht sicher. Ein Blick auf seine schlafenden Kinder machte ihm aber bewusst, wie gefährlich die kommenden Tage werden würden. Mit einer müden Geste zog er Savitri an sich.

Wir haben alles verloren, dachte er verzweifelt. Und es gibt kein Zurück mehr. Aber wir leben. Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe. Wir müssen es schaffen. Wir werden es schaffen! Und wieder nüchterner suchte sein ruheloser Verstand nach Erklärungen für das, was jetzt geschah. Die ließen sich schon finden. Natürlich! Auf dem kühler werdenden harten Lehmboden schien Gulshan mit einem Male alles ganz klar. Nach dem Jahrhunderte dauernden Joch der Unterdrückung, dem Elend der Massen, den Ausschweifungen der Reichen, der Bestechlichkeit der Staatsdiener blieb nun nicht mehr verborgen, wie es um Indien wirklich stand, im nicht enden wollenden Kampf um die Unabhängigkeit und das Recht, Indien von Indern regieren zu lassen. Es war immer schwerer gefallen, diesen Gärbottich von unterdrückten Emotionen unter Kontrolle zu halten. Nun gab es kein Halten mehr. Er fühlte eine Hilflosigkeit, eine Einsamkeit von schwindelerregender Tiefe in sich.

„Weißt du, Gulshan“, unterbrach Savitri seine Gedanken mit schwacher Stimme, „sterben müssen wir alle. Es gibt viele Tode, aber es liegt viel daran, welchen Todes man stirbt und wie es passiert. Von Nachbarn massakriert und erschlagen zu werden, gehört zu den schrecklichsten.“

Gulshan nickte stumm und winkelte seine Beine an, um in der Enge des Unterschlupfs eine möglichst bequeme Position für die Nacht zu finden. Savitri passte sich seiner Körperhaltung an und sank nach wenigen Minuten erschöpft in einen tiefen Schlaf.

Gulshan aber lag wach… Lasst den Gedanken mir Halt geben, dass unter den Sternen dort einer ist, der mein Leben durch das dunkle Unbekannte führt. Tagore, mein Philosoph in allen Lebenslagen, dachte er und starrte auf die über ihnen hängenden Zweige, die sich gegen den Nachthimmel wie dürre lange Krakenarme ausnahmen.

Er schloss die Augen und dachte an seine Eltern, seine Familie, die zur Kaste der Khashatris, der Krieger und Könige gehörte. In Jhelum war er aufgewachsen, umsorgt und verwöhnt. Die Umgebung von Jhelum und der gleichnamige Fluss hatten seine Kindheit geprägt. Mit seinem besten Freund Kamal war er durch die fruchtbaren Täler gestreift. Sie hatten im nahen Fluss gebadet, im Gras gelegen und die in der Ferne schemenhaft zu erkennenden Berge des Himalajas betrachtet. Immer wieder hatten sie nachgespielt, wie von dort her vor Jahrhunderten plündernde und mordende Horden über Indien hergefallen waren. In ihrer Phantasie waren sie bei den Eroberungsfeldzügen an der Seite Alexanders des Großen oder des Perserkönigs Darius geritten, deren Spuren noch heute sichtbar waren. Sein Freund Kamal hatte diese Spiele besonders geliebt. Jedes Buch über die mehr als fünftausend Jahre bewegter Geschichte Indiens, das er in die Finger bekam, hatte er verschlungen. An solchen Tagen der kindlichen Ausgelassenheit hatte Kamal Gulshan zurückgeführt durch die Jahrhunderte. Säbelschwingend hatten sie sich vorgestellt, wie sie mit den Hunnen von Afghanistan her in den Punjab einfielen, wie sie über grüne Hügel und fruchtbare Auen ritten; wie sie an der Seite der Hunnenkrieger die unermesslichen Schätze, das Gold, die Edelsteine raubten und die Dörfer plünderten, um dann mit Siegesgebrüll in die Lager zurückzukehren und sich im nächsten Moment den vor den Mongolen fliehenden Flüchtlingsströmen anzuschließen. Sie hatten den Segen des Gottes Shiva, des Zerstörers mit dem Dreizack erfleht, der sich verbündet hatte mit Pawan, dem Gott der Winde, der die Flüchtenden mit seinem heißen zerstörerischen Atem todbringend überrollte. Sie hatten Shiva verflucht, weil er sich gegen das Land verbündet hatte mit seiner Gattin, der furchterregenden, vielarmigen schwarzen Göttin Kali, die um den Hals eine Girlande aus Menschenschädeln und um die Taille einen Gürtel aus abgeschlagenen Köpfen trug. Der größte Spaß aber war es für die Freunde gewesen, wenn sie den wilden Blick der Schwarzen Kali mit der heraushängenden Zunge nachahmten. Bei diesen Spielen waren Gulshans Phantasien weit in die Vergangenheit eingetaucht. Diese Gefühle kannten keine Zeit. Die tausend Veränderungen, die die Zeit vorangetrieben hatte, waren dann flüchtig und unwirklich. Und es war immer Kamal gewesen, der Phantasievolle, der ihn, Gulshan den Träumer, in die Gegenwart zurückgeholt hatte.

Gulshans Eltern waren nicht reich, sie hatten nie eine Schule besucht, konnten weder lesen noch schreiben. Ihr ganzes Streben war auf die beiden Söhne gerichtet, Gulshan und dessen älteren Bruder Avinash. Und es war ihnen gelungen, beiden eine gute Erziehung und Ausbildung zu ermöglichen. Als die Söhne erwachsen waren, wandte sich der ältere der beiden von den Eltern ab. Er schämte sich ihrer Unwissenheit. Auch Gulshan ertappte sich manchmal bei dem Gefühl einer aufsteigenden Scham, wenn seine Freunde aus gebildeten Familien zu Besuch kamen. Hinterher verachtete er sich für diesen Impuls. Er wusste, dass seine Eltern alles für seine Ausbildung getan hatten, eine Ausbildung, die sie selbst nicht hatten haben können.

Dankbar dafür hatte er sich als gebildeter junger Mann neben der Philosophie, den Naturwissenschaften und Wirtschafts-wissenschaften mit den Wertbegriffen der englischen Gesellschaft befassen können, um einen wesentlichen Teil des Verlaufs der indischen Geschichte zu verstehen. Er wollte begreifen, wollte die politische Situation in seinem Land verstehen lernen. Nie hatte er gezweifelt, dass Indien die Unabhängigkeit erlangen und sich von der englischen Vorherrschaft befreien würde. Nur wie, das wusste er damals nicht.

In ihrem Unterschlupf glitt er gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf. Er sah sich in einem unwirklichen Licht der Sonne reiten, an der Seite des ersten Mogulherrschers, Babur von Samarkand. Durch den Punjab ritten sie, das Fünf-Ströme-Land, wo inmitten saftig-grüner Hügel sich im Licht der Sonne, wie das Silber in den Schatzkammern Shah-Jahans glitzernd, gurgelnd die Wasser des Jhelum, Chenab, Ravi und Sutlej ihren Weg in den Indus, den Vater der Ströme, suchten. Durch flimmernde Sonnenpunkte und wabernde Nebelbänke schienen sie dem Himalaja entgegenzureiten, dorthin, wo sich Stürme, Regen, Sommerwinde und Sandstürme schon seit Urzeiten von Norden her Bahn durch den Khaiberpass brechen.

Dungfeuer

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