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Am nächsten Tag setzten sich die Flüchtlinge zu einer Trauerzeremonie zusammen. Gulshan Puri bemerkte, dass der sonst so fröhliche Amar Singh Mühe hatte, seine Stimme beherrscht klingen zu lassen, wenn er mit den anderen Flüchtlingen sprach. Alle beteten, außer ihm. Und Gulshan kannte den Grund. Amar Singh hatte ihm erzählt, was er erlebt hatte. Der Hass brannte im ganzen Land, auch unter den Sikhs. Im April war es auch bei ihnen zu ersten Gewaltausbrüchen gekommen. Die Muslim-Liga hatte mit ihren Parolen für ein freies Pakistan provoziert. Und eine Horde Sikhs hatte mit dem Ruf „Pakistan Murdabad“, „Nieder mit Pakistan“ die Fahne der Muslim-Liga zerstört. Die Antwort der Muslime auf diese Herausforderung war nicht lange ausgeblieben. Mehr als dreitausend Menschen, Muslime, Hindus und Sikhs waren umgekommen. Am schlimmsten war es innerhalb der Stadtmauer von Lahore zugegangen, in dem am dichtesten besiedelten Teil der Stadt. Hier hatten früher etwa dreihunderttausend Muslime und gut hunderttausend Hindus und Sikhs in friedlicher, religiöser Koexistenz gelebt. Doch dann hatte es plötzlich wie gärender Schaum gebrodelt in dem Labyrinth der Gassen, Läden, Tempel, Moscheen und Basare. Der Tod hatte wie ein Blitz zugeschlagen. Im Nu war alles vorüber gewesen. Noch bevor sie überhaupt um Hilfe rufen konnten, lagen die Menschen schon sterbend auf der Straße. Die Überlebenden hatten hastig alle Türen verschlossen und bald danach schien der Stadtteil ausgestorben.

Der große, kräftige Amar Singh saß zusammengesunken mit hängenden Schultern neben Gulshan Puri.

„Diese quälenden Fragen“, sagte er. Was geschieht mit uns? Sind wir alle verrückt geworden? Jetzt, in den Tagen der Befreiung aus der englischen Knechtschaft, schlachten wir uns gegenseitig ab. Jahrhundertelang waren wir unterdrückt. Doch hassen wir die Unterdrücker? Nein, wir hassen uns gegenseitig. Können wir denn nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden? Ich glaube, wir haben das Gefühl für Würde und Selbstachtung verloren.“

Gulshan Puri antwortete nicht. Waren die Menschen seiner Generation über die Maßen verflucht? Waren sie für eine Prüfung auserwählt, die grausamer war als die ihrer Väter und Mütter? So war es wohl, so musste es sein, angesichts dieser Grausamkeiten. Niemand wusste so genau, was im ganzen Land geschah, was sich sonst noch zusammenbraute. Genau kannte man nur das eigene Schicksal und das der Freunde.

Amar Singh sah seinen Freund an: „Ist das der Preis für die Freiheit? Muss erst ein grausamer Dämon in die Menschen fahren, um sie am Ende wieder friedlich miteinander leben zu lassen?“ Gulshan hob hilflos die Schultern.

Inzwischen war Mitternacht längst vorbei, nur noch das verglimmende Feuer und der Mond beleuchteten den Hof. Müde und von den Ereignissen physisch erschöpft ließen sich die Flüchtlinge auf ihre Lager fallen, um in dieser Nacht endlich zu schlafen. Nur Gulshan Puri lag wieder wach. Außer Savitri wusste nur noch Amar Singh, dass es Nächte wie diese gab, in denen er vor Angst um die Zukunft nicht schlafen konnte. Und nicht nur nicht schlafen. Es war, als hätte er Asthma. Er rang auf seinem Lager nach Luft, die seine Lunge kaum aufnehmen konnte. Andere hätten es nicht gemerkt, denn er war geübt in den letzten Wochen in der Angst um die Familie, geübt den Kummer zu verbergen. Doch in seinem Kopf herrschte Wirrwarr. Ein Wirrwarr aus unmittelbar Greifbarem und..., er wusste es selbst nicht. Der Tod war allgegenwärtig. Ach, nur nicht denken! Jedenfalls musste das Überleben seiner Familie gesichert werden. Seltsam wie ein Herz krank sein konnte von dem, was die Augen sahen und die Ohren hörten und gleichzeitig voller Liebe wenn er an Savitri und die Kinder dachte.

Und dann kam es wieder über ihn, holten ihn Wut und Schrecken wieder ein, überrollte die Vergangenheit seinen Geist. Sein Kopf war klar. Er sah sich selbst, wie er in den vergangenen Jahren in verantwortlicher Position unter britischer Oberaufsicht hatte arbeiten müssen. Wie er oft gezwungen gewesen war, seine Empörung über die Missachtung und Überheblichkeit vieler Engländer herunterzuschlucken, die die Inder als unzivilisierte Heiden betrachteten, aus denen sich mit viel Geduld und Strenge und bei etwas Glück brauchbare Dienstboten machen ließen. Damals gab es nur die Hoffnung, dass die Zeit und die politische Entwicklung in Indien, Europa und der Welt die Wende bringen würde. War es das, was jetzt geschah? Konnte ein Volk Jahrhunderte unter der Knute einer Fremdherrschaft leben, ohne schließlich in einem Akt der Gewalt auch gegen sich selbst aufzubegehren? Und wenn Gulshan sich vorstellte wie harmlos das alles im 17. Jahrhundert angefangen hatte mit der „Ehrenwerten Ostindischen Kompanie“, überflutete ihn die Wut vergangener Generationen. Englische Kaufleute, die damals einen ertragreichen Handel von Indien aus betrieben hatten, unter der Oberhoheit der indischen Fürsten, zeigten schon bald ihr wahres Gesicht, ihre Maßlosigkeit. In einem Jahrhundert der Eroberungen hatten sie 1757 den mächtigen Nawab von Bengalen besiegt und sich so die Vorherrschaft auch in diesem Gebiet gesichert. Die Londoner Regierung hatte schon vorher in Madras und Bombay britische Gouverneure eingesetzt. Jetzt wurden diese dem Generalgouverneur von Bengalen unterstellt. So wurde eine Macht gefestigt, die sich im Laufe des Jahrhunderts über ganz Indien erstreckte. Wenn man sich die tragische Geschichte Indiens über die Jahrhunderte vor Augen hält, dachte Gulshan Puri, war es auch nicht verwunderlich, dass der bewaffnete Sepoyaufstand von 1857 fehlschlug. Die meuternden Truppen der britisch-indischen Armee hatten sich damals schlecht organisiert mit der entmachteten indischen Oberschicht zusammengetan. Der Aufstand war aber von den gut organisierten britischen Truppen rasch niedergeschlagen worden.

Ja, das hatten die Briten den Indern voraus, gestand sich Gulshan zähneknirschend ein. Ihr Organisationstalent war unschlagbar. Es war eben nicht nur ein schlechter Stern, der jahrhundertelang über Indiens Schicksal gestanden hatte. Dass die Briten so erfolgreich sein konnten, auch das war Gulshan Puri klar, lag sicherlich auch daran, dass die indischen Fürsten durch ihr Leben in Luxus degeneriert und träge geworden waren und dem britischen Expansionswillen wenig entgegensetzen konnten.

Wenn Gulshan, in diesen Gedanken verfangen, hinüberglitt in einen leichten Schlaf, fand er auch darin keine Ruhe. Er sah über den Hügeln des Punjabs britische Flaggen, von Geisterhand getragen, im Winde wehen. Dahinter tanzten im Dunst manchmal sichtbar, dann wieder von den flatternden Fahnen verdeckt, unbekleidete Menschen wilde Tänze. Dabei schwenkten sie Speere, auf denen abgeschlagene Köpfe gespenstisch hin und her tanzten. Schweißbedeckt erwachte Gulshan dann. Er wollte nicht mehr einschlafen. Die Gedanken sollten nur kommen. Er würde damit fertig werden.

Wie war es dann, als die Ostindische Kompanie aufgelöst wurde, konzentrierte er sich, um nicht wieder einzuschlafen. Die Verantwortung für das Schicksal von dreihundertzwanzig Millionen Indern lag in den Händen einer neununddreißigjährigen rundlichen Frau: Königin Viktoria. Sie verkörperte den Anspruch der britischen Rasse auf Weltherrschaft. Die Briten fühlten sich in einzigartiger Weise berufen, „geringere Rassen, denen das Gesetz fehlt“, zu beherrschen. Und welch pittoreskes, romantisches Indienbild die Engländer damals hatten. Es war das Indien aus Kiplings Erzählungen.

Gulshan Puri schaute in der Dunkelheit auf die Leiber der Schlafenden. Wie gut, dass sie schliefen. Seine Gedanken schickte er in die Vergangenheit zurück, in das damalige Indien, ein Land, beherrscht von englischen Offizieren, die in properen, scharlachroten Waffenröcken, ihren Sepoys voran ritten. Es war das Indien der jungen Briten, die sich in einem Zelt mitten im Dschungel in Anzug und Krawatte zum Dinner setzten und ein Glas Portwein auf das Wohl Queen Viktorias, der Kaiserin von Indien, tranken. Sie hielten ihre Überlegenheit für unangreifbar und schlürften auf den Veranden ihrer Klubs, zu denen nur Europäer Zutritt hatten, ihren Whisky. Es waren Männer aus Familien von ‚untadeligem’ Stammbaum, aber nicht so gefestigtem Wohlstand. Es waren Kleinadlige, die ihre Vermögen durchgebracht hatten und nun in Indien ihr Glück suchten oder begabte zweite Söhne des Landadels, denen das Erstgeburtsrecht die Aussicht auf das Erbe nahm; es waren Söhne von Pfarrern, Schullehrern und Professoren. In England hatten sie in den Klassenzimmern der Eliteschulen und in den Militärakademien die Tugenden erlernt, die sie befähigen sollten, ein Weltreich zu regieren. Und sie taten es so lange, bis Indien endlich den Indern übergeben wurde. Aber zu welchem Preis! England hatte Indien zwar regiert, aber die Engländer lebten in ihrer eigenen Welt. Bei Abendgesellschaften kam auf jeden Gast ein indischer Diener. Indische Gäste wurden dagegen niemals eingeladen. Nichts war so wichtig wie die gesellschaftliche Rangstellung, und es galt als Todsünde, wenn man sie nicht beachtete.

Nein, bei den Göttern, viel hatte sich in den Jahren nicht geändert, dachte Gulshan. Im viktorianischen Indien war die gesellschaftliche Trennung zwischen Briten und Indern weitgehend das Werk der englischen Ehefrauen, der Memsahibs, sie gaben den Ton an. Doch auch zum Ende der britischen Herrschaft war das größte Problem die Distanz, aus der sie ihre Autorität ausübten, der Rassendünkel, der sie von den Menschen trennte, über die sie herrschten. Vom Höchstgestellten bis zum Niedrigsten, vom Plantagenverwalter bis zum kleinsten Beamten waren sie davon überzeugt, einer Rasse anzugehören, die Gott zu Regierung und Herrschaft bestimmt hatte. Nur wenige Engländer hielten private Kontakte oder gar freundschaftliche Beziehungen zu Indern.

Früher, während seiner Ausbildung und auch lange danach, war es immer Gulshan Puris Wunsch gewesen, eine Reise nach England zu unternehmen, weil er dachte, um einen Gegner kennen zu lernen, müsse man lernen, so zu denken wie er. Man müsse mit seinen Augen sehen können. Er wollte die englische Kultur, die englischen Städte auf den Britischen Inseln sehen. Er wollte ergründen, warum sie mit dieser größenwahnsinnigen Überheblichkeit die Inder als minderwertige Menschen verachteten. Doch in den letzten Jahren hatte er kein derartiges Verlangen mehr empfunden. Jeder Gedanke daran war ihm zuwider. Nur noch sehr selten verspürte er den Wunsch, über indische Probleme mit Briten zu diskutieren. Er glaubte auch nicht, dass sie sich für irgendetwas, was in Indien geschehen war, verantwortlich fühlten. Und wenn, dann zeigten sie es nicht. Verantwortlich fühlten sich immer nur die Besiegten für Taten, die ihr Volk begangen hat.

Nun ja, gestand er sich ein - er hatte auch ein paar englische Freunde, die den Imperialismus verurteilten und wussten, was Indien vom Empire angetan worden war. Man konnte nicht das ganze Volk verurteilen. Aber das durfte er nicht laut sagen. Die Flüchtlinge im Dharamsala hätten es nicht verstanden. Blind vor Angst fühlten sich die Menschen jetzt immer gleich beleidigt. Der Schrecken hatte Einzug gehalten in den Familien und ließ sich nicht mehr vertreiben.

Die Morgendämmerung überzog den Raum mit einer feuchten Frische. Gulshan stieg über die Schlafenden hinweg, ging in den Hof, drehte den Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über seinen heißen Kopf laufen. Wieder war eine schlaflose Nacht vorüber. Als er das Feuer für das Frühstück entzünden wollte und sich nach einem Fladen Kuhdung bückte, sah er plötzlich aus dem Augenwinkel in einer Ecke des Hofes drei Gestalten kauern. Es waren Kinder. Eng aneinandergeschmiegt schauten sie ihn ängstlich an. Der älteste der drei musterte ihn kurz und löste sich dann mit einer zwingenden Geste aus den Armen der Jüngeren. Er stand auf und kam zögernd auf Gulshan zu.

„Ich bin Prem Singh. Wir“, sagte er und deutete auf die beiden kleineren Jungen, „sind heute Nacht angekommen. Wir wussten nicht, ob wir bleiben können.“

Gulshan Puris Schatten um die Augen vertieften sich. Er ahnte, dass auch diese Jungen ein schlimmes Schicksal hatten. Aufmunternd lächelte er. „Sicher könnt ihr bleiben. Ihr habt bestimmt Hunger. Sag deinen Brüdern, dass es gleich etwas zu essen gibt.“

„Sie sind nicht meine Brüder“, sagte Prem Singh knapp.

Inzwischen war auch Savitri in den Hof gekommen. Ihr Blick ruhte auf Prem Singh, der immer wieder einen würgenden Kloß im Hals herunterzuschlucken versuchte. Sie legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Wie alt seid ihr denn? Und woher kommt ihr?“

Prem Singh suchte ihre Augen mit scheuem Blick. „Aus dem Dorf Jalalpur, nördlich von Wazirabad. Ich bin fünfzehn, die beiden anderen fünf und sieben.“

Gulshan und Savitri Puri stellten keine weiteren Fragen. Savitri backte ein paar Chapati, und Gulshan bereitete in einer Ecke des Zimmers ein Lager für die drei Jungen, die, kaum dass sie gegessen und sich hingelegt hatten, in einen tiefen Schlaf sanken.

Die zermürbenden Gedanken, die Savitri Puri in den Nächten seit ihrer Flucht quälten, ließen sie nun auch am Tage nicht mehr los. Der Tod im Land war wie ein schleichendes Schreckgespenst vor dem es keine Rettung gab. Und diese Jungen! Wie viele ausgemergelte Kinder werden ohne Eltern überleben, nur knapp dem Tod entronnen, für immer seelisch und körperlich verkrüppelt? Ihr Geist wird sich, wie der ihrer Eltern, nicht aus dem Gefängnis beengender religiöse Anschauungen und Rachegedanken lösen können. Er wird verkümmern und sie an der Entwicklung hindern. Ihre schöpferischen Kräfte, ihre Talente und Fähigkeiten werden unterdrückt und zurückgehalten werden. Können sie jemals den Mut und den Willen zur Selbstverantwortung wiederfinden? Werden sie klug genug sein, auch wenn es ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern nicht erlaubt war, den Verstand zu gebrauchen? Doch immer wieder fragte sich Savitri auch, was ihre eigenen Kinder erwartete? Namita würde heiraten. Vielleicht einen aufgeschlossenen klugen Mann, der ihr nicht die alte, traditionelle Rolle der Frau am Herd zuweist. Und der vernünftige Deepak mit seinen wachen, ernsten Augen, die schon viel zu viel Leid gesehen hatten..., und dann Ram Chand, der kleine lustige Ram Chand. Sie gehörten zu der Generation, die Indien zum Aufbruch verhelfen könnte, die dieses Leben, die Gegenwart anpacken muss. In Indien haben Inder vor uns große Leistungen vollbracht, dachte sie nicht ohne Stolz. Vor viertausend Jahren schon gab es im Indus-Tal eine Zivilisation mit städtischen Siedlungen. In Häusern mit gekachelten Bädern hatten sie ein ausgeklügeltes Abflusssystem geschaffen. Bis heute wissen die Menschen nicht, wie die polierten, alterslosen Ashoka-Säulen aus rostfreiem Stahl damals, vor mehr als zweitausend Jahren, hergestellt wurden. Und der prächtige Goldene Tempel, dann das Taj Mahal, eines der neuen Weltwunder. Savitris Gedanken ließen ihre Stimmung umschlagen. Trotzig dachte sie: Ja, stolz können wir sein! Unsere Kultur sollte sich nie mehr unterdrücken lassen. Wir werden unsere Kinder stark machen. Auch diese drei Jungen werden es schaffen, sagte sie beschwörend laut vor sich hin.

In den nächsten Tagen häuften sich die Meldungen von Zügen voller Leichen aus beiden Richtungen. Hindu-Extremisten rächten sich grausam an muslimischen Flüchtlingen, die auf dem Weg nach Pakistan waren. Das ganze Land war in einen wilden, unkontrollierbaren Blutrausch verfallen, dem Tausende und Abertausende zum Opfer fielen. Rache an Unschuldigen, an ihresgleichen, für jahrelang ertragenes Leid und geduldete Erniedrigungen durch Fremde.

Dungfeuer

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