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Die Stadt Jalandhar machte einen ruhigen Eindruck. Am Bahnhof erkundigte sich Gulshan Puri beim Bahnhofsvorsteher nach einer Unterkunft. Der Mann beschrieb ihnen den Weg zu einem Dharamsala, einer Art klösterliche Unterkunft für Obdachlose, die durch Spenden aus Hindutempeln finanziert wurde. Die Betriebsamkeit in der Stadt deutete weder auf politische Demonstrationen noch auf Unruhen hin. Der Weg führte sie durch ein Gewirr von Gassen, gesäumt von kleinen Häusern mit vielen Wohnungen und lauter kleinen Geschäften. Viele der Händler wohnten hier in ihren Geschäften, die teilweise so klein waren, dass der Mann zur Nacht gerade Platz genug hatte, sich zwischen seinen Waren auszustrecken. Einige Läden waren wie Schläuche, lang und dunkel. Es war eine Gegend, wo seit Generationen Wohnung und Geschäft immer vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden, eine Gegend, wo das Geschäft das Leben und Denken der Menschen bestimmte und die Politik uninteressant war. Welche Herren auch immer die Macht im Lande hatten, hier hatte das nie eine Rolle gespielt. Schon immer hatte hier jeder gelebt, wie es für ihn passend war. Der alte Muslim, der von morgens bis abends die neunundneunzig Namen Allahs hersagte, der Barbier mit seinem zerbrochenen, fleckigen Spiegel, der im Schatten der Häuser einem Kunden die Ohren säuberte. Der alte Händler, der sich die Wartezeit auf den nächsten Kunden mit tiefen Zügen aus der tönernen Wasserpfeife versüßte, dort ein Verkäufer von Armreifen, der die Reifen eifrig klimpern ließ, um damit Käuferinnen anzulocken.

Ein Schneider war gerade damit beschäftigt, eine Burka für eine Muslima auf einer handbetriebenen Singer-Nähmaschine zu nähen. Fertige Schlafanzüge, bunte Salwar Kamiz, die weiten Hosen mit den passenden Tuniken und die dazu gehörigen langen bunten Tücher aus zartem Gewebe flatterten im Wind, über eine Stange gehängt. Dann gab es einen Turbanfärber, der in vielen verschiedenen alten Konservendosen die unterschiedlichsten bunten Farbtöne angerührt hatte. In allen Farben leuchtende Stoffbahnen hingen auf einem Stück Leine zum Trocknen. Wenn der Wind in sie fuhr, schien es, als lege sich ein Regenbogen über das geschäftige Treiben in der Straße und gebiete für einen Moment Einhalt. Deepak und Ram Chand sahen sich staunend um. Wie viel gab es hier für Kinderaugen zu entdecken.

Hinter dem Basar erweiterte sich die Gasse zu einer breiten, mit Ziegelsteinen gemauerten Straße, gesäumt von großen zweistöckigen Häusern mit schönen Innenhöfen. Hier, abseits des hektischen Treibens der Innenstadt, lag das Dharamsala, ein zweistöckiges, grau verputztes Haus mit einem Flachdach, in U-Form um einen geräumigen Innenhof gebaut. Ein alter Neembaum tauchte mit seiner gewaltigen Krone alles in sanftes schattiges Licht. In der Mitte waren die Reste eines Springbrunnens zu einer Feuerstelle umfunktioniert worden. In der linken Ecke des Hofes hatte man eine Wasserstelle für das tägliche Bad und zum Waschen der Wäsche eingerichtet. Die Räume, weiß getüncht und ohne jede Möblierung, boten den Flüchtlingen Schutz und Quartier. Und wenn auch nur auf dem Fußboden ausgestreckt, so war doch eine ungestörte Nachtruhe für Gulshan Puri und seine Familie garantiert. Sie hatten das große leere Haus ganz für sich allein. Endlich waren sie in Sicherheit.

Als hätten Trommeln ihre Ankunft verkündet, verbreitete sich die Nachricht vom Eintreffen der Flüchtlingsfamilie im Dharamsala wie ein Lauffeuer in den umliegenden Straßen und Tempeln. Nachbarn kamen, um die Neuankömmlinge zu begrüßen und ihre Geschichte zu hören. Jeder brachte etwas mit. Die einen Mehl, die anderen Gemüse oder Kleidung. Die Menschen fühlten sich mit ihren Glaubensbrüdern solidarisch, spürten Verantwortung und Pflicht.

Ausgezehrt und übermüdet, aber in der Gewissheit in Sicherheit zu sein, schliefen Gulshan Puri und seine Familie eine Nacht und den nächsten Tag bis in den Nachmittag hinein. Als sich am Abend der Hunger wieder meldete, wickelte Gulshan Puri eine Dhoti eng um die Taille. Jemand hatte sie ihm geschenkt. Er fuhr sich mit der Hand durch die dichten dunkelbraunen Haare.

„Ich muss etwas zu essen für uns beschaffen“, sagte er und wandte sich zur Tür.

Savitri Puri kreuzte die Beine auf ihrer Decke, mit den Fersen berührte sie ihre Kniekehlen. Sie drückte die kleine Namita an die Brust. „Wie lange werden wir noch betteln müssen?“, rief sie ihm hinterher.

Gulshan blieb stehen und starrte ein paar Sekunden reglos vor sich hin. Was sollte das? Wir haben überlebt, andere nicht, dachte er ärgerlich.

„Wir müssen dankbar annehmen, was uns gegeben wird“, sagte er laut und lächelte schwach. Nun ja, er verstand sie. Wie schwer musste ihr das alles fallen. Er ging zurück zu ihr, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf die Stirn: „Wenn die sonnigen Tage nicht ewig blieben, werden die regnerischen auch nicht ewig dauern!“

Aber durfte er ihre Ängste auf die leichte Schulter nehmen? Eine eigentümliche Stimmung erfasste ihn. Auch seine Zuversicht drohte einer ängstlichen Verzagtheit zu weichen. Ihr Dorf..., die Lebensgefahr... Er dachte an die ermordeten Nachbarn, an die brennenden Dörfer, die sie auf der Flucht gesehen hatten. Würde es überhaupt ein Morgen, ein normales Leben für seine Familie geben können nach allem, was passiert war?

Deepak und Ram Chand wurden wach und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Gulshan setzte sich noch einmal zu ihnen und nahm sie in die Arme, bevor er ging.

Es trafen drei weitere Flüchtlingsfamilien im Dharamsala ein, ebenso ausgehungert, mit zerrissener, verschmutzter Kleidung. Unter ihnen auch eine Sikh-Familie. Der Mann war ein hellhäutiger Riese, neben dem Gulshan fast wie ein Zwerg wirkte. Er hatte seinen rauen Bart in einem Haarnetz unter seinem Kinn zusammengerollt und festgebunden, trug einen großen blauen Turban, mit einem Shamla-Fächer an der Seite, wie er in der Gegend von Rawalpindi getragen wurde. Seine Frau, eine große Sardarni mit kräftigen Händen, denen man ansah, dass sie zupacken konnten, hatte die Arme um die beiden Söhne gelegt. Die langen Haare der Jungen waren auf dem Kopf zu einem Knoten gewunden und mit einem Taschentuch zusammengehalten. Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass die Familie, wie die meisten Sikhs, nach der Lehre des Guru Nanak lebte, der ihnen die Beachtung der fünf „K“ vorschrieb.

Savitri Puri versuchte sich an die fünf „K“ zu erinnern. Stumm zählte sie auf: Kara, der Stahlreifen am Handgelenk... Kes, die langen Haare, die nie gestutzt werden durften... Kachcha, die Unterhose mit besonderem Schnitt, die jeden Tag gewechselt werden sollte... Kirpan, das gebogene Schwert und die Sandelholz-Kanga, um die langen Haare zu kämmen. Ja, sie wusste noch alles, was ihr ihre Freundin Rhoda, als sie Kinder waren, beigebracht hatte. Wenn Rhoda aus dem Gurdwara gekommen war, hatte sie Savitri immer aufgefordert, die fünf „K“ aufzusagen.

Die Sardarni ähnelte Rhoda: groß, etwas plump und direkt, mit einem fröhlichen Lachen, dem man nicht widerstehen konnte. Sie könnte eine Freundin werden, dachte Savitri.

Der Sikh ging zu Gulshan und seiner Familie: „Ich bin Amar Singh, das ist meine Frau Samanta Kaur und hier meine Söhne Jaspal und Vir. Sie dürften im gleichen Alter sein wie eure Söhne.“

Die beiden Familien teilten sich nun die täglichen Aufgaben. Gulshan und Savitri Puri waren froh, neue Freunde an der Seite zu haben.

Amar Singh war, wie viele Sikhs, ein stattlicher, fast zwei Meter großer Mann, der trotz der schwierigen Lage einen Frohsinn ausstrahlte, der sich schnell auf andere übertrug. Er war ein geschickter, einfallsreicher Handwerker und trug dazu bei, das beschwerliche Leben durch provisorisch zusammengebastelte Gebrauchsgegenstände aus Schrott oder Holzabfällen erheblich zu erleichtern.

Savitri machte es Freude, gemeinsam mit Samanta Kaur die kärglichen Mahlzeiten für die Familien zuzubereiten, die kaum je das Hungergefühl stillen konnten. Und doch waren sie dankbar für das Wenige. Die Abende verbrachten sie zusammen an der Feuerstelle. Amar Singh war ein guter Erzähler. Wenn er die Erlebnisse ihrer Flucht schilderte, hörten alle gespannt zu. In dieser Stimmung brachte es auch Gulshan Puri über sich, von den Grausamkeiten zu erzählen, die sie in Khushab erlebt hatten. Diese gemeinsamen Abende lenkten von den ständig knurrenden Mägen ab und schafften ein enges Gefühl der Gemeinsamkeit.

Immer mehr Flüchtlinge kamen. Sie fanden selten Arbeit und mussten sich die Spenden der Nachbarn teilen und dazu im Wald nach Früchten suchen, um die Mägen etwas zu füllen. Die Männer und Frauen saßen im Hof des Dharamsala zusammen und sprachen über die erschütternden Neuigkeiten, die ihnen jeden Tag aufs Neue zu Ohren kamen. Die Zeit erstreckte sich endlos vor ihnen. Sie waren erfüllt von dem Drang zu handeln, dem sie nicht nachgeben konnten, denn es gab wenig zu tun. In der Stadt sammelten sie so viel Information wie möglich über die Lage im Lande und hörten von Familien, die sich zu Fuß in Flüchtlingstrecks bis nach Jalandhar durchgeschlagen hatten. Sie hörten von Frauen, die unterwegs allein ohne Hilfe ihrer Mütter oder Schwestern Kinder geboren hatten und gleichzeitig mit ansehen mussten, wie Kinder anderer Mütter vor Erschöpfung und Hunger starben. Nicht einmal gegenseitig konnte man sich helfen, weil man selbst jeden Moment in einen Hinterhalt muslimischer Banden geraten konnte. Jeder war allein mit sich und seinem Schicksal. Nachts suchten die Flüchtlinge Verstecke in Straßengräben oder nahe gelegenen Feldern. Immer wieder war die Stille der Nacht von gellenden Schreien unterbrochen worden. Und am nächsten Morgen hatte man geschändete Frauen neben den malträtierten Körpern ihrer Männer gefunden.

„Ob meine Eltern noch am Leben sind?“, fragte Savitri zögernd, als die Kinder abends schliefen. „Für eine Flucht sind sie zu alt. Sie konnten wahrscheinlich nur hoffen und abwarten.“

Gulshan verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Ich mache mir auch Sorgen um meine Eltern – auch sie sind zu alt. Und mein Bruder Avinash konnte sicherlich nicht aus Gujranwala fliehen. Er ist zwar ein gerissener Kaufmann, aber in praktischen Dingen ziemlich unbeholfen. Politische Ereignisse hat er noch nie richtig einschätzten können. Bestimmt hat er keine Vorkehrungen getroffen.“

Gulshan zögerte: „Ich sollte zurückfahren und meinen Bruder und seine Familie aus Gujranwala herausholen.“

Savitri richtete sich ungläubig auf. „Das wirst du nicht tun!“, flüsterte sie aufgebracht in der Dunkelheit. „Das kann dich dein Leben kosten! Du hast auch Verantwortung für mich und die Kinder.“ Als Gulshan nicht antwortete, setzte sie hinzu: „Es mag ja sein, dass dein Bruder Hilfe braucht, aber er ist ein erwachsener Mann. Er war doch immer nur auf seinen Vorteil bedacht. Hat er sich jemals um dich oder um uns gekümmert? Außerdem ist er reich. Mit seinem vielen Geld wird er bestimmt jemanden finden, der ihm zur Flucht verhilft.“

Gulshan antwortete nicht, in seinem Kopf arbeitete es. Nach einer Weile sagte er ruhig: „So darfst du nicht denken, Savitri. Es ist meine Pflicht als jüngerer Bruder.“ Er legte den Arm um sie. „Beruhige dich, ich werde vorsichtig sein. Morgen nehme ich die erste Bahn nach Gujranwala.“

Mit Tränen in den Augen wandte Savitri sich ab.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Savitri hing ihren ängstlichen Gedanken nach und Gulshan malte sich im Kopf die künftigen Grenzen des Landes auf, so wie er es in der Zeitung gelesen hatte. Was konnte die Radcliff-Kommission dazu getrieben haben, die Grenzen des neuen Staates Pakistan so festzulegen, dass sich zwischen dessen Teilen Westpakistan und Ostpakistan 2000 km indisches Staatsgebiet erstreckte? Ein geschickter Schachzug, vermutlich... So konnte die Region instabil gehalten werden, und England hatte weiterhin die Möglichkeit, Macht auszuüben. Dieses zerrissene Pakistan war kein Staatsgebilde, sondern ein Missgebilde, dachte Gulshan. Und überall in diesem Missgebilde finden furchtbar gewaltsame, brutale Übergriffe auf Hindus und Sikhs statt. Nun ja, gestand er sich ein, die Hindus sind nicht weniger grausam. Sie rächen sich in Indien mit nicht geringeren Schandtaten an Muslimen. Überall wird geraubt und geplündert. Und Gandhi, mein großes Idol... Was haben seine Pilgerfahrten in die von Hass zerrissenen Dörfer gebracht? Was hat es für einen Sinn gehabt, dass er die Weite seines Denkens dem Volk dadurch vermitteln wollte, dass er in seinem Reisegepäck einen Koran, eine Bibel, die Tora und die Bhagavadgita mit sich führte? Hatte er geglaubt, die Menschen würden verstehen? Er hatte das Volk nicht wachrütteln, das Denken der Menschen nicht verändern können. Ja, auf seinem gewaltlosen Weg gegen die Engländer bis zur Unabhängigkeit waren sie ihm noch gefolgt. Aber jetzt war der Frieden im indischen Volk zerstört und Gandhi hatte ihn nicht

wieder herstellen können.

Dungfeuer

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