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Der Zug nach dem 200 km entfernten Gujranwala fuhr mittags um 12.25 Uhr ab und war mit muslimischen Familien überfüllt. Sie alle waren auf der Flucht aus Indien in ihr gelobtes Pakistan. Obwohl Gulshan Puri eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof war, gelang es ihm nicht, einen Platz in einem der Abteile zu ergattern. So kletterte er, wie viele andere, auf das Dach eines Waggons und setzte sich zwischen die aufgeregt durcheinander redenden Muslime. Er wurde nicht beachtet, viel zu beschäftigt waren sie mit ihrem eigenen Kismet.

Immer wenn der Wind drehte, legten sich grauschwarze Dampfschwaden aus dem Schornstein der Lokomotive wie riesige Tarnkappen über die Reisenden auf dem Dach. Der Zug hielt auch an den kleinsten Bahnhöfen und nahm noch mehr Menschen auf. Auf den Dächern der Waggons wurde es immer enger. Als sie die Stadtmauer von Gujranwala passierten, war die Sonne schon untergegangen und die Häuser wirkten grau und abweisend im letzten Licht der Dämmerung. Am Bahnhof sprach es sich wie ein Lauffeuer unter den Reisenden herum, dass über die Stadt eine totale Ausgangssperre bei Einbruch der Dunkelheit verhängt worden war. Gulshan Puri konnte das Bahnhofsgelände nicht mehr verlassen. Er sah sich um und ging dann auf einen etwa neunjährigen Teeverkäufer zu, der lautstark sein Getränk anpries.

„Junge, du kennst dich doch in deiner Stadt aus. Kannst du für mich eine Nachricht überbringen, ohne dich erwischen zu lassen?“

Zehn Rupien wechselten den Besitzer. Der Junge betrachtete das Geld in seiner Hand und pfiff durch die Zähne: „So viel verdiene ich in einer ganzen Nacht nicht!“

Er grinste und gab Gulshan die Hand:

„Abgemacht, Babu! Keiner kennt die Stadt besser als ich. Und erwischen...? Raj Kumar hat sich noch nie erwischen lassen“, pustete er verächtlich und stellte seine Teeutensilien in eine Ecke, während Gulshan ein paar Sätze an Avinash auf einen Zettel kritzelte. Der Junge machte sich mit dem Zettel in der Hosentasche auf den Weg. Gulshan sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Er suchte sich einen Platz an der Bahnhofsmauer neben all den anderen im Bahnhof festsitzenden Reisenden. Er fragte sich wie sein Bruder reagieren würde. Er, der immer eigene Entscheidungen getroffen, der nie den Rat eines anderen, schon gar nicht den seines jüngeren Bruders, angenommen hatte, würde er überhaupt bereit sein, Gujranwala zu verlassen? Hatte er den Ernst der Lage erkannt? Himmel noch mal, dieser Idiot hatte wahrscheinlich in seinem Hochmut nichts verstanden! Die Situation drohte doch, immer unübersichtlicher und gefährlicher zu werden. Zeit wäre ja noch, dachte Gulshan, in der Nacht das Nötigste und Wichtigste einzupacken, damit man sich am nächsten Tag so früh wie möglich auf den Weg machen könnte. Hoffentlich war Avinash klug genug.

Als die Ausgangssperre am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang für ein paar Stunden aufgehoben wurde, mietete Gulshan Puri zwei Tangas. Die Pferdekutschen würden für das notwendigste Gepäck ausreichen. Mit Beklemmung dachte er an die bevorstehende Begegnung mit seiner Schwägerin Pful Devi. Die Vergangenheit würde ihn wieder einholen. Die Tangas schlängelten sich langsam zwischen den Rikschas, den Ochsenkarren, Pferdewagen und Fahrrädern hindurch. Gulshan sah Frauen mit über den Kopf und ins Gesicht gezogenen Tüchern und Babys auf dem Arm, Hindus und Sikhs mit Turbanen dem Bahnhof zustreben, Panik in den Augen. Der Schreck über ihre Nachbarn, die sie immer zuerst als Freunde und erst dann als Muslime gesehen hatten, stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Es war ein Bild des Jammers und Gulshan musste den Kloß im Hals gewaltsam herunterschlucken.

Am Haus seines Bruders angekommen, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Sein Bruder führte, ganz im Gegensatz zu ihrer beider Erziehung zur Bescheidenheit, ein Leben in Luxus und Prunk. Und wieder kamen ihm Zweifel, ob Avinash wohl die bittere Pille schlucken würde. Würde er sein Haus verlassen, alle Brücken hinter sich abbrechen? Könnte er ohne all den Luxus leben? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, als Avinash ihm durch die Haustür entgegenstürzte und begriff, was Gulshan wollte. Ein Schwall von Anschuldigungen und Vorwürfen ergoss sich über Gulshan. Seine langen, mit Pomade an den Kopf geklebten Haare lagen wie ein Helm über seinen entzündeten, verquollenen Augen. Offensichtlich hatte er in der Nacht kein Auge zugetan. Er hob abwehrend die Hände, als wolle er sagen: komm keinen Schritt näher. Seine Stimme überschlug sich fast. „Was..., was stellst du dir eigentlich vor? Wir können doch nicht das alles...“, er machte eine ausholende Armbewegung, „das alles hierlassen. Mindestens zwei Tage brauchen wir, um alles einzupacken und zu verladen - und dann auf zwei Tangas! Wie stellst du dir das denn vor?“

So war es also wieder, sein Bruder hatte noch immer nichts verstanden, dachte Gulshan und zwang sich zur Geduld. Zeit für lange Diskussionen war ohnehin nicht mehr. Am Bahnhof hatte er sich Zigaretten gekauft. Ein Wahnsinn..., bei den wenigen Rupien in der Tasche. Er steckte sich einen dieser kostbaren Glimmstängel an und rauchte. Er rauchte und sagte nichts. Die Glut der Zigarette wuchs und schrumpfte. Aus schmalen Augen sah er seinem Bruder zu, wie der unruhig hin und her ging, sich immer wieder die Handflächen an seiner Hose trocken wischte und vor sich hin schimpfte. Als Gulshan schließlich sprach, war es, als habe er seiner Stimme einen Dämpfer aufgesetzt. Die Worte klangen nicht nur sanfter und dunkler, sondern auch rauer. „Was willst du eigentlich? Deine Frau, deine beiden Kinder sind wichtig. Der Luxus in deinem Haus wird euch nicht das Leben retten. Viel Zeit bleibt nicht. Der Zug nach Jalandhar fährt um 11.50 Uhr. Niemand weiß, ob danach überhaupt noch ein Zug fahren wird. Und die Ausgangssperre könnte wegen der Unruhen auch schon früher verhängt werden!“

Mit einem Fluch wandte sich Avinash Puri an seine Frau Pful Devi, die versunken am Türrahmen lehnte und Gulshan anlächelte, als habe sie den Sinn seiner Worte nicht verstanden. Sie musste sich gerade ihre langen Haare gewaschen haben. An den nassen Haarspitzen sammelten sich Tropfen, die auf ihrer roten Bluse dunkle Flecken hinterließen. „Steh nicht herum wie eine Idiotin!“ schnauzte Avinash. „Pack zwei Koffer, aber nimm nur das Wertvollste. Und mach schneller als sonst!“

Hai Ram! Wie er sie behandelte... Gulshan schaute unangenehm berührt zu Boden.

Dann trommelte Avinash die Hausangestellten zusammen, zahlte sie aus und schickte sie fort, ohne ein Wort des Dankes für ihre Dienste. Gulshan folgte ihm in den großen Wohnraum. Ein Safe verbarg sich hinter einem geschmacklos bunten Ölgemälde, das zwei Liebende in einem Blumengarten zeigte, umgeben von exotischen Vögeln. Avinash entnahm ihm ein Bündel Geld und mehrere Schmuckschatullen. Er leerte die Schatullen und verstaute Geld und Schmuck in zwei Leinensäckchen, wovon er sich eines um den Hals, das andere um die Hüfte band. Beide verbarg er unter seinem langen Hemd. Dann folgte er Gulshan auf die Terrasse. Von hier oben hatte man einen Blick über die ganze Stadt. Die Folgen der Unruhen waren deutlich zu sehen. Der Geruch der schwelenden Brände stieg den Männern in die Nasen.

„Es wird höchste Zeit, dass wir von hier fortkommen, Avinash.“ Gulshan war nervös.

„Mein Haus und meine Familie..., wir gelten etwas in Gujranwala…!“ Mit einer überheblichen Geste schlug er sich an die Brust. „Uns würde bestimmt nichts passieren, wenn wir blieben.“

Einen Augenblick starrte Avinash auf die Qualmwolken und stieß dann hervor: „Du warst doch schon immer ein Darpoak, ein Angsthase, der Liebling von Vater und Mutter. Hast immer alles richtig gemacht!“ Er grinste: „Bis auf das eine Mal, als du mit Pful Devi eine Nacht lang verschwunden warst. Wer hat dich rausgepaukt, als ihr Vater dich zur Heirat zwingen wollte? Ich! Ich habe sie geheiratet!“

Gulshan drehte ihm den Rücken zu und schwieg.

„Zum Narak, zur Hölle mit dir. Wahrscheinlich hast du wieder Recht. Sie schlagen sich hier gegenseitig die Schädel ein, haben keinen Respekt.“ Avinash ballte die Fäuste. Er sah Gulshan von der Seite an. „Ich hoffte bis heute, es würde sich alles zum Guten wenden.“

Etwas wie die Bitte um Verständnis flackerte kurz in Avinash Puris Augen auf.

Gulshan konnte sich über so viel Naivität nur wundern. Was für ein verdammter Ignorant sein Bruder doch war.

Die beiden Kinder tanzten fröhlich um die Männer herum. Für sie war der Aufbruch ein Abenteuer. Gulshan Puri ging ins Haus und sah Pful Devi beim Packen zu. Sie schien in ihrer Aufregung nicht mehr zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen unterscheiden zu können. Wie aufgescheucht lief sie hin und her, kämmte sich zwischendurch ihre nassen Haare mit einem grobzinkigen Kamm, den sie immer wieder auf das Bett warf. Sie griff wahllos nach Wäschestücken und Kleidung und warf sie in die Koffer. Unkonzentriert nahm sie mal das eine, mal das andere Kleidungsstück in die Hand und schaute Gulshan fragend an. Gulshan wurde immer ungeduldiger.

„Kannst du nicht ein bisschen schneller packen? Die Bahn wartet nicht auf uns!“

Dann stand Avinash hinter ihm. Er war ihm gefolgt. Sein missbilligender Blick traf Gulshan. Aus seiner Stimme sprach Verachtung, als er seine Frau zur Eile anhielt.

Gulshan wandte sich um und ging verärgert vor das Haus, wo die beiden Tangas warteten. Er setzte sich auf einen Mauervorsprung und beobachtete beunruhigt die Straße. Noch schien alles ruhig – noch…

Avinash und die Kinder kamen aus dem Haus und setzten sich zu ihm. Die Wartezeit schien sich endlos hinzuziehen, und Gulshan musste etwas tun, um seine Unruhe zu bekämpfen. Er bot seinem Bruder eine Zigarette an, steckte sich selbst eine zwischen die Lippen und begann, von der eigenen Flucht nach Jalandhar zu berichten. Die Augen der Kinder hingen an seinen Lippen, folgten jeder seiner Bewegungen.

Endlich erschien Pful Devi mit zwei schweren Koffern, die Gulshan ihr abnahm und in einer Tanga verstaute. Für die Kinder hatte sie je ein Bündel gepackt. Sie hängte es ihnen über die Schultern.

Ohne sich noch einmal umzuwenden bestiegen Avinash und die Kinder eine Tanga, während Gulshan seine weinende Schwägerin und das restliche Gepäck in die andere Tanga verfrachtete und sich mit einem „Endlich, allen Göttern sei Dank!“, zwischen die Koffer und Gepäckstücke quetschte.

„Zum Bahnhof!“ Erschöpft lehnte er sich gegen die Leinenbündel.

Pful Devi legte ihren Kopf an Gulshans Schulter, das Gesicht nass von Tränen. „Du hast gesehen wie er mich behandelt. So war es immer, die ganzen Jahre. Er hat mir meine Liebe zu dir nie verziehen.“

Unangenehm berührt schob Gulshan ihren Kopf beiseite. „Lass das, er könnte sich umschauen.“

Zögernd hob Pful Devi den Kopf. „Als der Bote gestern deinen Brief brachte, konnte ich vor Freude kaum erwarten, dass es Morgen würde. In der Nacht... All die Zeit an seiner Seite. Nie habe ich ihn geliebt. Es war ein goldener Käfig, in dem ich gelebt habe.“

„Sei doch still“, sagte Gulshan. Das Gewissen quälte ihn. Aber hatte nicht sie sich ihm damals an den Hals geworfen. Er hatte doch nur dem Gefühl des Moments nachgegeben.

„Ja, ich weiß“, sagte sie dumpf, „du bist glücklich verheiratet und ich bin die Mutter seiner Kinder. Ich habe sonst alles – es fehlt mir an nichts. Na ja, wenigstens in der Öffentlichkeit erniedrigt er mich nicht. Er ist stolz auf meine Schönheit.“ Sie warf ihm von der Seite einen Blick zu. „Karun, mein Ältester, ist sieben Monate nach der Hochzeit geboren.“

Wie vom Donner gerührt sah Gulshan sie an. „Willst du damit sagen...?“ Sie sah ihn nur an. Den Rest des Weges schwiegen sie.

Die Stadt war ruhig. Ohne besondere Zwischenfälle gelangten sie zum Bahnhof, erreichten den 11.50-Uhr-Zug und konnten sich sogar Plätze in einem Waggon erkämpfen.

Als der Zug das erste Mal in Indien, in Amritsar hielt, beugte sich Avinash zu Gulshan herüber sagte düster: „Hoffentlich ist Indien das Opfer wert, das wir gebracht haben.“

Gulshan antwortete nicht, lehnte sich zurück und versuchte erschöpft, ein wenig Schlaf zu finden. Pful Devis Worte auf dem Weg zum Bahnhof ließen das aber nicht zu.

Am späten Nachmittag fuhr der Zug im Bahnhof von Jalandhar ein. Um das Bahnhofsgelände herum herrschte reges Treiben und es bereitete Gulshan Puri keine Schwierigkeiten, zwei Tangas für seinen Bruder und dessen Familie zu mieten, während er mit einer Fahrradrikscha voraus fuhr, um die Ankunft für seinen Bruder vorzubereiten.

Erleichtert lief Savitri ihm entgegen, als sie die Rikscha vorfahren sah. Dem Himmel sei Dank! Seit dem Mittag hatte sie die Straße nicht mehr aus den Augen gelassen. Sie umarmte ihn stürmisch. In knappen Sätzen erzählte er von der Reise, während sie den Hof durch das große Tor betraten.

Eine halbe Stunde später trafen die beiden Tangas ein. Avinash Puri erhob sich langsam von dem hölzernen Sitz und ließ seinen Blick über das Dharamsala und die neugierig davor versammelten Flüchtlinge gleiten. Keiner hatte sich die Ankunft von Gulshan Puris Bruder entgehen lassen wollen.

Avinash Puri raunzte in die Richtung Pful Devis: „Bleib sitzen und lass die Kinder nicht aussteigen.“

Savitri ging zu ihrer Schwägerin und umarmte sie und die Kinder. Ihr entging nicht der sehnsüchtige Blick, den Pful Devi ihr zuwarf. Doch ihnen blieb nicht einmal die Zeit, ein paar Sätze zu wechseln. Avinash stürmte schon wieder aus dem Hof und schwang sich neben seine Frau auf den Sitz der Tanga. Nach einem Blick in den mit den Gerätschaften der Flüchtlinge vollgestopften Hof, in die leeren Zimmer mit den auf dem Fußboden ausgebreiteten Matten, sah er Gulshan verächtlich an und sagte mit schneidender Arroganz in der Stimme:

“Du glaubst doch wohl nicht, dass ich in diesem schäbigen Obdachlosenasyl auch nur eine Nacht verbringen werde?“

Er bellte einen Befehl und die Pferde setzten sich unter den sprachlosen Blicken der Umstehenden in Bewegung. Gulshan starrte ihnen sekundenlang reglos hinterher, bis Amar Singh sich aus der verblüfft gaffenden Menge löste und seinen Arm um Gulshans Schulter legte.

„Es gibt Menschen, die sind die Gedanken, die wir uns um sie machen, nicht wert. Denke nicht länger darüber nach. Mein Vater sagte immer: Tue etwas Gutes und wirf es in den Brunnen!“

Gulshans Lächeln missglückte.

Was Savitri betraf, so atmete sie erleichtert auf. „Es ist besser so“, tröstete sie Gulshan. „Wären sie geblieben, hättest du für sie mitdenken müssen, und alle hier im Haus hätten sich Tag für Tag Avinash` Nörgeleien anhören müssen.“

Zwei Tage später kam eine der jungen Frauen aus dem Dharamsala, die Chunni ins Gesicht gezogen, zu Gulshan Puri. Es war Saraswati, Aruns Frau. Die Flüchtlinge in der Gemeinschaft legten Wert auf Gulshans Rat. So manche Streiterei hatte er zwischen ihnen schon geschlichtet. Sie wussten, dass er in Khushab Bürgermeister gewesen war.

Chaudhri-ji“, sagte Saraswati in aufgeregten, abgehackten Worten, „verzeih..., ich mache mir Sorgen... Mein Mann Arun ist gestern mit dem Zug nach Amritsar gefahren. Er wollte unsere Eltern abholen. Aus Lahore sollten sie kommen. Sie sind alt. Eigentlich wollten sie ihre Heimat nie verlassen. Aber jetzt! Was sollen sie noch dort? Ist doch niemand mehr da. Vor zwei Tagen sind Freunde hier angekommen. Die haben uns die Nachricht überbracht, dass die Eltern kommen wollten. Gestern Abend sollte Arun mit ihnen zurück sein.“ Sie schluckte, die Stimme versagte ihr.

„Sie sind nicht gekommen“, schluchzte sie. „Nicht mit dem Nachtzug und nicht mit dem Zug, der mittags hier eintrifft. Und Arun ist auch nicht zurück.“

Gulshan schaute auf seine Armbanduhr – ein Hochzeitsgeschenk seiner Schwiegereltern: „Der letzte Zug aus Amritsar müsste kurz nach 18.00 Uhr hier eingetroffen sein, falls er pünktlich war. Wir gehen zum Bahnhof. Sollte zwischen Lahore und Amritsar etwas passiert sein, wird der Stationsvorsteher Bescheid wissen.“

Er wandte sich an Amar Singh. „Begleitest du uns?“

Amar Singh nickte.

Plötzlich taumelte eine Gestalt in den Hof. Im Licht der flackernden Gaslaternen waren die Umrisse nur schemenhaft zu erkennen. Saraswati schlug die Hand vor den Mund.

„Arun!“, presste sie hervor. Arun glitt mit dem Rücken an der grau getünchten Mauer des Hofes entlang zu Boden. Er starrte durch die Menschen hindurch, vergrub den Kopf in den Armen. Ihn schüttelte ein Weinkrampf. Ein Zittern lief in Wellen durch seinen Körper. Langsam umringten ihn die Flüchtlinge – mit einer trägen Scheu, als wollten sie nicht hören, was passiert war. Manche murmelten beruhigende Worte, andere stellten leise Fragen. Abwehrend hielt er sich die Ohren zu.

Saraswati setzte sich neben ihn, legte seinen Kopf in ihren Schoß und strich ihm beruhigend über den Rücken.

„Arun, Arun!“

Ein animalischer Laut kam aus seiner Kehle, rau und voller Hilflosigkeit. Saraswati fuhr ihm über den Kopf.

Arun unterdrückte das Schluchzen. Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen und den Schweiß aus dem Gesicht. Er sagte nichts. Die Flüchtlinge spürten, wie er litt. Als er schließlich zu sprechen begann, wurde es still im Hof.

„Ich komme vom Bahnhof. Ich bin gerannt! Es ist schrecklich!“ Er schlug sich mit der Faust immer wieder gegen den Kopf. Der Schweiß rann ihm den Nacken herunter. Seine gestammelten Worte waren das einzige, was die Menschen im Hof von der furchtbaren Stille trennte, die dann herrschte. Es dauerte lange, bis Arun sich beruhigte.

„Ich kam früh an. Die Fahrt von hier nach Amritsar dauert ja nicht lange. Der Bahnsteig war so voll, dass ich kaum aussteigen konnte. Muslime stürmten den Zug, beladen mit Gepäck. Der Zug fuhr ja weiter nach Pakistan. Viele Menschen warteten aber auf den Zug, der gegen Mittag aus Lahore ankommen sollte.“

Wieder konnte er die Tränen nicht zurückhalten. Saraswati wischte ihm mit dem Ende ihres Saris über das Gesicht. Arun schnäuzte sich. Er habe gewartet, erzählte er. Es sei zwei Uhr, es sei drei Uhr geworden, der Zug war nicht gekommen. Die Menschen waren immer unruhiger geworden. Endlich sei ein Zug gekommen. Merkwürdig langsam sei er in den Bahnhof eingefahren. Eine plötzliche, unheimliche Stille habe sich über die wartende Menschenmenge auf dem Bahnsteig gelegt. Er habe keinen weiteren Schritt zu tun gewagt und wie alle anderen der Lok entgegen geschaut. Sehr, sehr langsam sei der Zug näher gekommen. Er habe gespürt wie sich etwas um seine Brust gelegt, ihm wie eine eiserne Klammer den Atem genommen habe. Niemand habe wie gewöhnlich neugierig aus den Fenstern geschaut, auf den Dächern waren keine winkenden und gestikulierenden Menschen zu sehen gewesen. Aus den Fenstern schienen aber Gegenstände und bunte Stoffe zu hängen, Stoffbündel bedeckten die Dächer. Als endlich Einzelheiten zu erkennen waren, habe Entsetzen die Menschen gelähmt.

„Kein Laut, nur das Kreischen der Bremsen und das Zischen des ausströmenden Dampfes. Der Zugführer… Er kletterte schwankend aus der Lokomotive und fiel in Ohnmacht.“

Arun erzählte stockend, immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt, „Ein Leichenzug... - Der Lokführer... - Der einzige Überlebende.“ Er schluchzte laut auf. „Körper mit abgeschlagenen Gliedmaßen in blutigen Kleidern hingen aus den Fenstern“, schrie er. „In den Abteilen.... Massakrierte Leiber übereinander, tote Augen in abgeschlagenen Köpfen. Nicht einmal Babys haben die Bestien verschont.“

Saraswati flüsterte: „Was ist mit unseren Eltern?“

Arun antwortete ihr nicht. Die Flüchtlinge im Hof waren verstört. Die Männer auf eine stille blasse Art, die Frauen begannen zu klagen und schlugen sich mit Händen und Fäusten gegen Brust und Kopf. „Ayi, ayi, ayi!“

Arun hob den Kopf, ohne auf das Geschrei der Frauen zu achten. „Ich habe es immer gewusst – die Muslime, diese grausamen blutrünstigen Barbaren.“ Er starrte ins Leere.

Einer der Männer schrie ihn an: „Rede Arun! So rede doch!“

Arun schaute sich um, mit irren Augen. Er flüsterte: „Dann kam ein Arzt und suchte in den Waggons nach Überlebenden. Der Lokführer hatte das Bewusstsein wiedererlangt und schrie und schrie und schrie. Das Grauen wollte aus ihm heraus. Viele kümmerten sich nicht um ihn. Sie stürmten hinter dem Arzt in die Waggons, drehten jede Leiche um. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich hatte Blei an den Füßen. Nur den Lokführer sah ich, konnte nicht in den Zug steigen, konnte es einfach nicht, musste hören, was passiert war. Unsere Eltern...“

Arun schluckte schwer: „Der Lokführer stieß Worte hervor, erst zusammenhanglos und unverständlich. Dann klarer, dass der Zug pünktlich den Bahnhof von Lahore verlassen habe. Überfüllt, wie immer in den letzten Wochen. Flüchtlinge aus Pakistan... Plötzlich, auf freier Strecke, ein Trupp Reiter. Muslime! Die Gleise versperrt. Sie schwenkten Tücher. Der Zugführer ahnte... Er verringerte die Geschwindigkeit nicht. Da zogen sie ihre Säbel. Mit ihren Pferden jagten sie schreiend neben der Lok her. Zwei von ihnen schwangen sich auf die Lokomotive. Der Kopf des Heizers rollte über den Boden. Einer setzte dem Lokführer den Säbel an die Gurgel. Der musste den Zug anhalten. Plötzlich preschten aus den Büschen und hinter den Felsen noch mehr bewaffnete Reiter hervor. Sie sprangen von den Pferden, rissen die Waggontüren auf und stürzten sich schreiend auf alles, was sich im Zug bewegte... wie im Blutrausch. Menschen fielen auf die Knie, bettelten um ihr Leben - wurden enthauptet. Die Kinder – die Mörder ergriffen sie und zerschmetterten ihnen vor den Augen ihrer Mütter die Köpfe. Dann die Mütter! Die fliehen wollten, wurden eingeholt… tot, alle tot.“

Arun starrte wieder ins Leere. Die Flüchtlinge im Hof konnten nicht glauben, was sie hörten. Es war still. Bis eine der Frauen wieder anfing zu klagen. Ein Mann packte Arun bei den Schultern: „Du lügst!“, schrie er. Doch dann ließ er resigniert die Arme sinken: „Nein, es muss wahr sein.“

Arun hatte den Mann gar nicht wahrgenommen. Er sprach tonlos weiter: „Der Lokführer war plötzlich von Menschen umringt. Jemand nahm ihn in den Arm. Er schüttelte sich wie im Fieber. Der Anführer sei plötzlich auf ihn zugekommen. Sein Säbel durchschnitt zischend die Luft und sauste über den Kopf des Lokführers hinweg. An der Schwelle des Todes..., ein grausiges Lachen. Dann begriff der Lokführer: er lebte! Sah das teuflisch lachende Gesicht seines Peinigers vor sich. Eiskalte Augen... Mit der flachen Seite des Säbels klatschte der ihm auf die Brust: ‚Du bleibst am Leben. Wirst die Botschaft überbringen: Pakistan ist unser heiliges Land. Alle Ungläubigen werden vertrieben. Das ist erst der Anfang. Es lebe der heilige Krieg! Viele Totenfeuer werden brennen, bis unser Land gesäubert ist von allen Ungläubigen.‘ Sie riefen: Pakistan Zindabad! Pakistan Zindabad! Und jagten auf ihren Pferden davon. Der Lokomotivführer blieb als einziger lebend zurück. Irgendwie hat er den Zug über die Grenze gebracht.“

Saraswati fragte wieder dumpf: „Unsere Eltern?“

Mit blicklosen Augen starrte Arun durch sie hindurch: „Tot! Alle tot!“, sagte er mit tonloser Stimme.

„Hast du sie gefunden?“ schrie Saraswati ihn an und schüttelte ihn.

„Ja! Tot, alle tot.“

Wimmernd brach Saraswati zusammen. Arun rührte sich nicht.

„Wir haben die Leichen eingesammelt und neben dem Bahnhof verbrannt. Wenigstens das haben wir für sie getan. Der Wind soll ihre glühende Asche über das Land tragen“, stieß er hervor, „die Glut soll sich in die Herzen der Mörder bohren und sie verbrennen.“

Das Grauen war über die Flüchtlinge gekommen und drohte, sie zu ersticken. Gulshan Puri stand starr. Das war aus Gandhis Politik der Gewaltlosigkeit geworden, schoss es ihm durch den Kopf. Sie war auf dem Scheiterhaufen des Hasses zu Asche verbrannt. Es war Gandhi nicht gelungen, die Schlange zu töten, ohne den Stock dabei zu zerbrechen. Welch ein Inferno kam da auf Indien zu! Nun würden die Extremisten in den Reihen der Hindus und Sikhs zurückschlagen. Mit gleicher grausamer Münze würden sie zurückzahlen, was ihren Glaubensbrüdern angetan worden war. Die schwersten Stunden stehen Indien erst noch bevor, dachte Gulshan.

Es folgte eine schlaflose Nacht. Gulshan hatte Savitri in den Arm genommen. Sie lagen auf ihren Matten und Savitri fragte mit matter Stimme in die Dunkelheit hinein. „Wohin treiben wir? Ich habe Angst, schreckliche Angst. Diese Grausamkeiten in den Lehmhütten der Dörfer, in den großen Havelis von Rawalpindi und Lahore... Wenn ich höre, dass Frauen in den Dörfern in Brunnen springen, weil sie ein noch schrecklicheres Schicksal fürchten, das wird sich einnisten in den Köpfen. Es wird noch mehr Hass entstehen. Die Schattenwesen der Geschundenen werden uns verfolgen, dicht auf unseren Fersen.“

Dungfeuer

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