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Für den nächsten Morgen hatte der Bürgermeister von Jalandhar seinen Besuch im Dharamsala angekündigt. Als überzeugter Anhänger Gandhis hatte er die Unabhängigkeitsbewegung in der Stadt geführt. Und nun sah er es als seine Aufgabe, den Menschen, die sich in seine Stadt geflüchtet hatten, Mut zuzusprechen.

So gut es eben ging hatten die Bewohner des Dharamshala sich auf den Besuch vorbereitet. Sie hatten nicht gut geschlafen. Das reichliche gute Essen am Abend, das gestohlene Zicklein waren den ausgehungerten Flüchtlingen nicht bekommen. Ihre Mägen und Därme waren mit der ungewohnten Menge und dem guten Fleisch überfordert gewesen und hatten rebelliert. Und dann war ihnen durch Jaswant Singh und Prem Singh wieder zu deutlich die Tragik des eigenen Schicksals bewusst geworden, als dass sie eine ruhige Nacht hätten verbringen können.

Gulshan Puri empfing den Bürgermeister am Tor, begrüßte ihn im Namen der Flüchtlinge und bedankte sich für das Interesse an ihrem Schicksal. Der Bürgermeister nickte kurz, fasste Gulshan beim Arm und betrat den Hof. Er war ein schwerfälliger Mann mit struppigem Haar auf einem Bauernschädel und einer umständlichen Art, die nicht zu dem Amt eines Bürgermeisters passte. Mit seinem zerknitterten Hemd und der unförmigen Baumwollhose hätte man sich ihn eher auf dem Land hinter einem Ochsenpflug vorstellen können als in der Stadt hinter einem Schreibtisch. Doch er schien ein kluger Mann zu sein, ohne Illusionen, der Sachlichkeit vor Emotionen setzte. Als sei er einer von ihnen, mischte er sich unter die Flüchtlinge, setzte sich zu ihnen und hörte ruhig zu. Er schien die Stimmung der Menschen im Land zu kennen, schnell zu verstehen. Er wusste wohl, dass die meisten in dieser Zeit nicht mehr klar denken konnten, die Hindus in den Muslimen mörderische Monster sahen und umgekehrt die Muslime in den Hindus.

Gulshan hatte sich erkundigt, hatte gehört, dass der Bürgermeister ein rigoroser Atheist sei, ein abgeklärter Befürworter des gewaltlosen Kampfes. Ob er die Gefühle der Flüchtlinge verstand? Vielleicht in einem anderen Sinne, nämlich in ihrer Traurigkeit und Qual über den erlittenen Verlust ihrer Angehörigen, ihrer Heimat, ohne ihren Hass zu billigen.

Und tatsächlich fand der Bürgermeister beruhigende Worte. Er sprach davon, dass nicht erst die Unruhen der letzten Jahre, sondern auch die sozialen Schranken von jeher das Verstehen zwischen Hindus und Muslimen verhindert hätten. Das Kastensystem der Hindugesellschaft habe diesen Mangel an Verständnis in Dunkelheit gefangen gehalten, weil es bestimmte, ob die Seele in ihrer nächsten Inkarnation in der Kastenhierarchie auf- oder abstieg, und Andersgläubige rigoros in die unterste Kaste verwies. Erst durch die Kaste wurde der sozialen Ungleichheit göttliche Sanktion verliehen. Er wollte verständlich machen, dass es diese Unterjochung nicht nur im Hinduismus oder im Islam gab, sondern, dass auch die christliche Kirche im Abendland die Menschen dazu angehalten hätte, ihr elendes Dasein in Erwartung des himmlischen Paradieses zu vergessen. Die Religionen hätten die Armen der Welt gelehrt, ihr Los in Demut zu tragen. Den Hindus würde eingeredet, Wohlverhalten sei die sicherste Gewähr für ein besseres Karma in der nächsten Inkarnation. Die Muslime dachten, den einzig wahren Glauben zu besitzen. Und wer als Märtyrer stürbe oder Ungläubige im Jihad tötete, würde von Allah belohnt werden. So würde das Feuer des Hasses immer wieder aufs Neue entfacht, sagte er.

Es sei aber die lebenslange Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Körper und Geist, zwischen dem Menschen als Teil der Natur und dem Menschen als Teil der Gesellschaft, die ein friedliches Miteinander schaffe, nicht aber die Religion.

Er hatte klug gesprochen, der Bürgermeister von Jalandhar, doch hatten ihn die wenigsten der im Hof versammelten Flüchtlinge verstanden. Wie hätten sie auch. Die meisten kamen vom Land, konnten kaum lesen und schreiben, hatten immer an die Worte der Priester geglaubt. Und nun kam dieser Bürgermeister und wollte ihnen erklären, dass ihre Religion etwas mit ihrer Not zu tun haben sollte. Nein, da hörten sie doch lieber dem Priester zu.

Gulshan Puri war aufgerüttelt, aufgewacht aus einer Trägheit, die ihn und die Seinen im Dharamsala festgehalten hatte. Er empfand eine Wachheit, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Eine Wachheit, die seine Gedanken kreisen und ihn abends auf seiner Matte nicht zur Ruhe kommen ließ. Der Geruch des Schlafes lag schwer über dem engen Zimmer. Savitri zupfte an seiner Kurta: „Die Kinder schlafen, lass uns noch für einen Augenblick nach draußen gehen.“ Vorsichtig stiegen sie über die Leiber der Schlafenden hinweg, bemüht, in der Dunkelheit nicht auf jemanden zu treten.

Groß und dunkel wirkten die Nachbarhäuser im fahlen Licht des Mondes. Hier und da erwachte in ihnen ein gelber Lichtschein, der kurz in die Nacht hineinblinzelte. Der Himmel war mit Sternen übersät, und ein lauer Wind strich um die Ecken. Savitri Puri erfasste ein Schwindel, das seltsame Gefühl, klein und winzig in der großen Unendlichkeit zu sein. Sie stand ganz still neben Gulshan und hielt seine Hand.

Gulshan rieb sich die Stirn und sagte behutsam: „Wir müssen endlich versuchen, wieder etwas Ordnung in unser Leben zu bringen. Etwas tun. Schon aus Achtung vor den vielen Opfern.“ Er redete, als spräche er zu sich selbst. „Ich glaube, wir sollten so schnell wie möglich nach Delhi aufbrechen.“

Savitri versuchte, die Dunkelheit der Nacht mit ihren Augen zu durchdringen. Nur schemenhaft sah sie sein Gesicht neben sich. Es dauerte eine Weile, bis sie leise und bedächtig antwortete: „Du hast Recht. Vielleicht können wir in Delhi endlich wieder einmal satt werden, wenn du Arbeit findest. Und vielleicht finden wir sogar ein neues Zuhause – es wäre zu schön.“

„Ich habe Sanjits Brief in der Tasche“, bemerkte Gulshan. Fürs erste können wir bestimmt bei seinen Verwandten wohnen.“

„Was wird aus Prem Singh und den beiden Kleinen? Können wir sie mitnehmen?“

Gulshan starrte in den Himmel als erwarte er die Entscheidung von den Sternen. „Nein“, sagte er dann. „Das können wir nicht. Ich weiß nicht einmal, wie wir unsere eigenen Kinder ernähren sollen. Es geht einfach nicht“, setzte er entschieden hinzu. Savitri nickte.

Nach kurzem, unruhigem Schlaf erwachte Gulshan Puri in der Morgendämmerung. So war es in den letzten Wochen immer gewesen, nach wenigen Stunden erwachte er lange vor Sonnenaufgang, und es war mit dem Schlaf vorbei. Dann lag er, die Arme unter dem Kopf gefaltet, und schaute und wartete, bis die graue Morgenhelligkeit in das Zimmer voller Menschen drang und deren Umrisse sichtbar machte. Alles erschien ihm dann so unwirklich, irgendwie nicht zu ihm gehörig. Seine Gedanken wanderten zurück in sein Haus in Khushab. Er hörte wieder die sonore Stimme seines Schwiegervaters, der zu ihm kam, um sich mit ihm über die Angelegenheiten des Dorfes zu beraten. Er empfand wieder das Gefühl der Geborgenheit, das er jetzt so vermisste. Und draußen der schattenlose Garten, in dem die Sonne den Jasmin duften und die Löwenmäulchen, Wicken und Ringelblumen leuchten ließ, wo Beeren und Mangos zum Pflücken einluden.

Der Tag kündigte sich wieder an mit wolkenlosem Himmel und unerbittlichem Sonnenschein, obwohl das Jahr schon fortgeschritten war und sich der Oktober sonst mit einem angenehmen, ausgeglichenen Klima präsentierte. Das helle, gleißende Licht der Morgensonne fegte die Dämmerung hinweg, und eine unangenehme schwüle Hitze legte sich nach der kurzen Abkühlung der Nacht wieder über das mit Leibern gefüllte Zimmer.

Es hielt Gulshan Puri nun nicht länger auf seinem Lager. Sanft berührte er Savitris Schultern und flüsterte ihr ins Ohr: „Lass uns heute nach Delhi aufbrechen. Einpacken müssen wir ja nicht viel. Wir könnten den ersten Zug in die Hauptstadt nehmen.“

„Ja? Achcha“, erwiderte Savitri zögernd. Verschlafen rieb sie sich die Augen, als ließe sie sich nur ungern aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurückholen.

„Nun gut, was hält uns hier? Ich wecke die Kinder, und du packst unsere Bündel. Ein paar Chapatis von gestern sind noch da, für die Reise.“

Die Familie war bereit zum Aufbruch, als das Leben im Dharamsala langsam erwachte. Prem Singh und die beiden kleinen Jungen waren lange vor den anderen wach geworden und hatten Gulshan und Savitri Puri bei ihren Vorbereitungen beobachtet. Sie schauten stumm zu. Hin und wieder warf Savitri ihnen einen traurigen Blick zu. Doch sie wusste, es ging nicht anders und hoffte, dass Prem Singh verstand.

Am schwersten fiel Gulshan Puri der Abschied von diesen drei Jungen, aber auch von seinem Freund Amar Singh. Der Hüne zerrte stumm an seinem Bart. Er täuschte einen Hustenanfall vor, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen.

„Mein Freund Amar!“ Gulshan streckte die Arme aus und versuchte es mit einem Scherz. Aber das Lachen erstarb ihnen auf den Lippen. Langsam, fast wie in Zeitlupe, gingen sie aufeinander zu und fielen sich wortlos in die Arme. Und Amar Singh, der keinen Hang zu trüben Gedanken hatte oder zum Pessimismus neigte, strahlte sofort wieder. Er umfasste Gulshan an den Hüften, hob ihn mühelos hoch und drehte sich mit ihm lachend einige Male um die eigene Achse.

„Wir werden uns wiedersehen!“, rief er, ehe er Gulshan wieder auf die Beine stellte. Samanta Kaur und Savitri lagen sich weinend in den Armen. Dann war es soweit, sie standen vor dem Tor. Amar Singh verabschiedete sie mit dem traditionellen Gruß der Sikhs „Sat Sri Akal!“

Auf dem Weg zum Bahnhof sprach Gulshan Puri kein Wort. Blind folgte er Savitri und den Kindern, die taten, als sähen sie seine Tränen nicht. Savitri dachte: Wieder ein Abschied. Wie tief war Gulshans Freundschaft zu Amar Singh. Es würde so bleiben, ein Leben lang, in den tiefsten Schichten seiner Seele. Und es würde ihn quälen. Kaum, dass er diese Freundschaft geschlossen hatte, musste er sie auch schon wieder aufgeben. Diese Abschiede! Auch sie haben wir Leuten wie Jinnah zu verdanken, diesem Psychopathen“, dachte sie aufgebracht, „der versessen ist auf sein Pakistan um jeden Preis. Indien teilen oder zerstören! Bei den Göttern, er ist krank, wird von der Tuberkulose langsam zerfressen, wird immer härter, ohne Mitleid, und hat doch so viel Macht. Und Pakistan - das Urdu-Wort bedeutet „Land der Reinen“. „Ha, Land der Reinen“, sagte sie laut vor sich hin, „durch Mord!“ Namita weinte. Savitri redete beruhigend auf sie ein und zog Ram Chand an der Hand hinter sich her. Deepak hatte Gulshan ein Bündel abgenommen und ließ seinen Vater nicht mehr aus den Augen. Dem Himmel sei Dank! Der Bahnhof war nicht mehr weit.

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