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Der erste Zug in die Hauptstadt fuhr am späten Vormittag. Savitri Puri setzte sich mit den Kindern unter das Vordach eines Bahnhofsschuppens, während Gulshan Puri auf dem Bahnsteig nervös auf und ab lief.

Wieder fuhren sie ins Ungewisse. Gulshan fühlte sich an diesem Tag gespalten. Teils freute er sich auf die Hauptstadt, denn dort würde es einen Neuanfang für die Familie geben. Schwer würde es sein, allemal. Er würde sich beweisen müssen. Und ihm war klar, dass jeder Neubeginn auch das Saatkorn des Scheiterns in sich trägt. Und dann die Aufregung bei der Ankunft. Was sie alles zu sehen bekämen! Diese große Stadt...

Und gleichzeitig sagte die andere Hälfte seines Ichs: Das war es dann also! Kein Weg führt zurück. Dein Leben lang hast du geglaubt, du könntest die Zukunft planen, hast dich von deiner Zuversicht verführen lassen. Und jetzt? Die Wirklichkeit und das Leben sind die zufällige Folge äußerer Einwirkungen, du kannst nur noch die Richtung des Weges bestimmen.

Auf dem Bahnhofsgelände herrschte ein buntes, wirres Durcheinander. Neu angekommene Reisende und andere, die sie abholten, schoben und drängten sich zwischen Blech- und Holzkisten, zwischen Berge von Leinenbündeln und Bettrollen, zerschlissene Reisetaschen und zerbeulte Koffer. Ein unglaublicher Lärm schwappte wie Wellen über die Reisenden, weil alle gleichzeitig redeten und schrien. Namen wurden über die Köpfe der Menschen gerufen, um unter den Ankommenden Verwandte oder Freunde ausfindig zu machen, die abzuholen man zum Bahnhof gekommen war. Die Schaffner und Bahnbeamten wurden bedrängt und mit Dutzenden Fragen nach ankommenden und abfahrenden Zügen bestürmt. Teeverkäufer in abgetragenen, notdürftig geflickten Kurta-Pyjamas, trugen in Drahtkörben dampfende Teegläser durch die Menge und übertönten den Lärm mit ihren Rufen: „Chai-Wala, Chai-Wala, Chai-Wala.....“ Wasserverkäufer riefen: „Pani-Wala! Pani-Wala“. Einige Reisende feilschten erregt mit einem Kokosnussverkäufer um ein paar Paise. Gulshan setzte sich zu seiner Familie und beobachtete die Menschen am Bahnhof.

„Ach, wie angenehm ist es hier im Schatten, abseits des hektischen Treibens. Erwarten Sie auch geflüchtete Angehörige, oder sind Sie auf der Durchreise?“

Gulshan und Savitri Puri sahen erstaunt auf. Vor ihnen stand ein junger Punjabi mit glänzendem schwarzen Haar und melancholischen Augen in einem glattrasierten, aber mit Blutergüssen und Schorf bedeckten Gesicht. Lächelnd stellte er sich als Madan Lal vor und erzählte, dass er auf dem Weg nach Delhi sei. Als Gulshan Puri ihm sagte, dass auch sie nach Delhi wollten, wurde der junge Mann noch lebhafter. Er ließ seine weißen Zähne blitzen und sagte gestelzt: „Es wäre mir eine Freude, wenn ich mich Ihrer Familie auf der Reise anschließen dürfte.“ In einer schnellen, nervösen Bewegung fuhr er sich mit dem Zeigefinger an der Innenseite seines nicht mehr ganz weißen Hemdkragens entlang.

Gulshan und Savitri Puri murmelten etwas Höfliches, und Madan Lal setzte sich rasch zu ihnen, so als habe er Angst, sie könnten es sich anders überlegen. Savitri fand ihn aufdringlich. Als sie später den Zug bestiegen hatten, erwies er sich aber als angenehmer Reisebegleiter. Er verstand es, spannende Geschichten aus der Mythologie zu erzählen. Die Kinder himmelten ihn an. Großzügig teilte er seinen reichlichen Reiseproviant mit ihnen, und Gulshan und Savitri Puri konnten nicht anders als ihm amüsiert zuzuschauen und zuzuhören.

Als Madan Lal seinen Redefluss einmal kurz unterbrach, hakte Gulshan Puri rasch ein und fragte ihn nach dem Zweck seiner Reise. Madan Lal schien auf diese Frage nur gewartet zu haben. Er legte seine übereinander geschlagenen Beine bequem zurecht und rutschte einige Male hin und her. Im Abteil saßen dicht gedrängt die Reisenden. Überwiegend Flüchtlinge und Bauern, die ihr Land verlassen hatten, weil es sie nicht mehr ernährte. Dass sie hungerten, sah man ihren hohlwangigen, zerfurchten Gesichtern an. Dennoch strahlten sie eine ruhige Würde aus. Die Jahrhunderte eines ungleichen Kampfes gegen die Umwelt hatte sie gelehrt, Geduld zu haben, sich einem allmächtigen Schicksal unterzuordnen. Sie hörten zu, hatten immer zugehört. Auch jetzt wandten sie ihre Gesichter diesem lebhaften jungen Mann zu.

Mit einem verklärten Ausdruck im Gesicht erzählte Madan Lal: „Ich bin Eisenbahner - seit ich denken kann. Die indische Eisenbahn war immer meine Heimat. Mein Vater war auch Eisenbahner. In einem kleinen Bahnwärterhäuschen an den Bahngleisen haben wir gewohnt. Ein Garten war neben den Gleisen. Im Frühjahr wuchs dort der orangerote Klatschmohn. Wenn der Wind hineinfuhr, sah es aus, als tanzten lauter orangerote Federwölkchen am Bahndamm entlang. Und die weißen Margeriten dazwischen“, er lachte, „sie standen steif wie Gouvernanten auf ihren Stängeln inmitten des lustigen Treibens.“ Er sah einen Moment melancholisch vor sich hin. „Ja, ich hatte eine schöne und aufregende Kindheit. Die vielen fremden Menschen in den ein- und ausfahrenden Zügen, das Leben an der kleinen Bahnstation. Wenn ich im Gras lag, war für mich dort das Paradies auf Erden. Ich spürte den Sog der ausfahrenden Züge und träumte, ich säße darin, reiste in ferne Länder, wo es galt, die aufregendsten Abenteuer zu bestehen. Eigentlich war für mich immer klar, dass auch ich eines Tages Eisenbahner werden würde.“ Er sah aus dem Fenster, lauschte dem Stampfen der Lok und dem Rattern der Räder.

Gulshan bemerkte, wie Deepak die Ohren spitzte und den Geschichten Madan Lals fasziniert zuhörte. Der Traum eines jeden neunjährigen Jungen, Lokomotivführer zu werden, dachte Gulshan.

„Aber mein Vater hatte anderes mit mir vor“, fuhr Madan Lal fort. „Er schickte mich zum College und anschließend für zwei Jahre zu einem bekannten Guru in einen Ashram, wo ich Philosophie und Kulturgeschichte studieren musste. Sicher habe ich viel gelernt – auch mit Freude studiert, das kann ich nicht bestreiten. Aber die Sehnsucht nach der Freiheit, der Ferne, die Sehnsucht nach der Eisenbahn blieb. Nun ja, dann war ich zwar gebildet, aber womit sollte ich mein Geld verdienen?“ Er lachte schelmisch. „Natürlich bei der Eisenbahn, im Bahnhof von Lahore. Und ich fühlte mich wohl dort. Diese blühende Stadt, das Herz des Punjabs“, schwärmte er, „Liebling und verwöhnte Prinzessin der Großmoguln, mit den schönsten Kunstwerken der geschicktesten Handwerker geschmückt. Wie sollte man sich nicht wohl fühlen in dieser toleranten Welt- und Handelsstadt? Unterschiede zwischen den Religionsgruppen hatten dort immer wenig Bedeutung gehabt. Muslime in dem einen Viertel, Hindus und Sikhs in dem anderen lebten friedlich nebeneinander.“ Er nickte mehrmals bekräftigend.

„Ich wäre gern geblieben. Aber nur ein Jahr war ich dort, dann kamen die Unruhen und die Teilung Indiens. Als Hindu befand ich mich plötzlich auf der falschen Seite der Grenze. Stellt euch vor: der letzte Hindu in der Bahnstation. Und das Töten hatte begonnen.“

Er zeigte auf sein verschorftes Gesicht. „Ich bin ihnen entkommen, aber Indien ist eine verlorene Nation. Die Parolen der vergangenen Jahre ‚Indien den Indern’ klingen wie Hohn!“ Er sah sich um, suchte Zustimmung. Savitri und Gulshan Puri nickten.

„Und Gandhi?“, fuhr er fort, „mit seiner Lehre von Gewaltlosigkeit, Furchtlosigkeit und Wahrheit. Ist das jetzt die Gewaltlosigkeit, ist das jetzt die Furchtlosigkeit? Und Wahrheit. Was ist denn Wahrheit? Vielleicht liegt die absolute Wahrheit außerhalb unseres Fassungsvermögens. Jeder Mensch kennt eine andere Wahrheit, beeinflusst von Milieu, Ausbildung und äußeren Impulsen. Ist Wahrheit nicht das, was jeder einzelne als wahr empfindet und erkennt? Gandhis Wahrheit ist die Weigerung, sich einer überheblichen Macht zu unterwerfen. Seine Wahrheit ist die Ablehnung aller Dinge, die nationale Schande mit sich bringen. Er ist unbestreitbar ein Führer. Ein Führer, der die Teilung Indiens nicht verhindern konnte.“ Mit einem unterdrückten Fluch fuhr er sich mit den Fingern durch die glänzenden Haare.

Bei den Göttern, wie bitter sind die Worte dieses klugen Jungen, dachte Gulshan Puri. Und wie Recht er hat. Die Bauern um uns herum, sie klammern sich an ihre Wahrheit, die Wahrheit hinter der Hoffnung, dass das Leben in den großen Städten für sie einfacher wird. Dort angekommen wird sie eine andere, grausame Wahrheit erwarten. Und die dünnen Mittelschichten in unserem Land? Aufgehalten in ihrer Entwicklung gibt ihnen weder das Alte noch das Neue irgendeine Hoffnung. Von alten Vorurteilen geplagt, kommen sie schon alt zur Welt ohne aber die alte Kultur zu besitzen. Sie treiben wie Geisterschiffe in der Flaute, ziellos im trüben Wasser des indischen Lebens und klammern sich an jeden Strohhalm, der ihnen Halt für Körper und Geist geben könnte. Vielleicht ist Indien wirklich eine verlorene Nation.

Madan Lal zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich über die feuchte Stirn. Gulshan Puri sagte über den Lärm im Abteil hinweg: „Du bist doch noch so jung. Du hast die Zukunft noch vor dir. Wenn du nicht mehr hoffst, wer sollte dann noch hoffen?“

Madan Lal schaute ihn an. Plötzlich blitzten seine Augen wieder. Man sah ihm an, dass seine Stimmung umschlug. Ein Blick auf die vorbeifliegende Landschaft...

„Ja, richtig. Eine neue Zeit ist angebrochen“, sagte er schulterzuckend. „Neuer Brunnen, frischeres Wasser! Jeder hat die Chance für einen Neuanfang.“ Und lächelnd setzte er hinzu: „Wir werden nicht still stehen wie die Störche im Wasser, die Köpfe unter die Flügel gesteckt und zusehen, wie der Fortschritt in der Welt an uns vorbeijagt!“

Er beugte sich zu Gulshan, sah ihn mit seinen dunklen Augen durchdringend an und seine Stimme zitterte vor Begeisterung: „Nein, Indien ist nicht verloren! Wirtschaft, Forschung und Technik... Wir werden der Welt zeigen, über welches Potential an Geist und Kraft die Menschen in Indien verfügen.“

Gulshan Puri lächelte nachsichtig und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Waggonwand. Von seinem Platz aus konnte er den Himmel sehen, der in der Hitze fast lila wirkte. Er war zufrieden. Wenigstens für den Moment war Madan Lal überschäumend vor Zuversicht.

Während Madan Lal gesprochen hatte, war Gulshan in Gedanken zum wiederholten Male seine Möglichkeiten in Delhi durchgegangen und hatte sich ausgemalt, wie es für seine Familie werden würde in der Hauptstadt. Da war sie wieder die Angst, die Angst, es nicht zu schaffen. Etwas davon musste auf seinem Gesicht zu sehen sein, denn Madan Lal fragte erschrocken, ob er anderer Meinung sei.

„Nein, nein, ich stimme dir zu“, versicherte Gulshan mit Wärme in der Stimme und wünschte, er müsse nicht immer an dieses schreckliche Chaos in Indien, die vielen Toten und die Familien denken, die mit solcher Brutalität auseinander gerissen worden waren…

„Aber sie wird dauern, diese Umgestaltung Indiens. Sicherlich werden wir etwas bewegen können. Aber Luftschlösser, junger Mann“, sagte er und legte Madan Lal gutmütig eine Hand auf den Arm, „Luftschlösser sind wie Zucker im Regen.“ Madan Lal lachte und umarmte Gulshan. „Wie gut, dass ich euch getroffen habe.“

Gulshan Puri schmunzelte und betrachtete die Menschen in dem vollgestopften Abteil. In Zeiten der Angst und der Unsicherheit waren es Geschichten, die die Menschen ablenkten und ihnen Halt gaben. Also sagte er sehr zum Entzücken seiner Kinder: „Zu den Luftschlössern“, er hob die Stimme, „zu den Luftschlössern kenne ich eine kleine Geschichte.“

Die Reisenden hatten schon längst nicht mehr dem jungen Mann zugehört. Zu unverständlich, ja verrückt schienen ihnen seine Worte. Nun wurden sie wieder hellhörig und wandten sich neugierig um.

Besonders Deepak war stolz auf seinen Vater, wie er von Menschen umringt in der Mitte saß und von dem armen Brahmanen erzählte, der in einem kleinen Fischerdorf an der Küste Süd-Indiens wohnte und sich ausmalte, wie er mit einem Topf Weizenmehl, den ihm Gläubige geschenkt hatten, soviel Profit machen könnte, dass er davon eine Ziegenzucht anfangen, reich werden und sich dann eine hübsche Frau nehmen könnte, wie er bei diesen Gedanken aufgeregt gestikulierend den Topf mit dem Mehl umstieß und so unsanft aus seinem schönen Traum gerissen wurde.

Die Reisenden lachten und applaudierten, während sich der Zug der Hauptstadt Delhi näherte. Im staubigen goldfarbenen Dunst des Sonnenunterganges wurden Mauern, Türme und Minarette von Delhi gegen den Horizont sichtbar.

Gulshan Puri stand auf und stellte sich ans Fenster. Er wollte diese ersten Eindrücke auf sich wirken lassen. Was er sah, war schön. Eine freudige Erregung erfasste ihn. Als Madan Lal sich neben ihn stellte, sah er ihn aufmunternd an. „Wir werden es schaffen, junger Mann. Ein ganz neues Leben...“ Und er schaute auf die großen Häuser und die breiten Straßen. Madan Lal sagte, als der Zug in den Bahnhof von Delhi einfuhr: „Die wenigen Stunden, die wir zusammen verbracht haben, waren so wichtig für mich. Ich wünschte, wir könnten uns wiedersehen.“

Aber wer wusste schon, was aus Flüchtlingen wurde, die in Delhi ankamen und wo sie bleiben würden in dieser Millionenstadt.

Dungfeuer

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