Читать книгу Das Siegel des letzten Templers - Kai Kistenbrügger - Страница 10

(8) 1. April, Polizeipräsidium München

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Das Zimmer wirkte kalt und unpersönlich. Bis auf einen kleinen, wackeligen Metalltisch und drei Stühle, die das Sitzen zu einer unbequemen Sache degradierten, war der Raum leer. An den Wänden fügten sich verblichene, grünliche Fliesen aneinander, die bereits seit Jahrzehnten unzählige Verhöre erduldet haben mussten. Es fehlte nur der große Spiegel, den Christian aus den amerikanischen Fernsehserien kannte, und hinter dem die Guten jeden Wortwechsel der Personen im Raum dahinter verfolgen konnten. Dummerweise stand Christian in diesem Fall auf der falschen Seite. Wolff hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er Christian nicht zu den Guten zählte.

Immerhin hatte sich Wolff als immerhin so zuvorkommend erwiesen, ihm einen Pappbecher mit einem schalen Gesöff hinzustellen, das wahrscheinlich Kaffee darstellen sollte. Im Grunde handelte es sich um heißes Wasser mit einem bräunlichen Einschlag, dem allein durch einen großzügigen Schuss Kondensmilch so etwas wie Geschmack nachgesagt werden konnte.

Das Licht im Raum wirkte ähnlich kalt wie die Blicke, die Christian auf den Weg hierher verächtlich gestreift hatten. Er fragte sich, was aus dem guten, alten ‚Unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist’ geworden war. Einen Anwalt hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass das Recht auf einen Anwalt eines seiner Grundrechte war. Allerdings wagte er es nicht, dieses Recht lauthals einzuklagen. In den zahlreichen Krimiserien machten sich gerade diejenigen verdächtig, die allzu schnell nach einem Rechtsbeistand verlangten. Christian wollte auf keinen Fall die falschen Signale aussenden, so prekär, wie ihm seine Lage sowieso schon erschien. Außerdem mochte er keine Anwälte, genauso wenig wie Versicherungsvertreter. Und auch Wolff gehörte mit Sicherheit nicht zu den Top 10 seiner liebsten Menschen.

Wolff saß ihm seit geraumer Zeit gegenüber und kritzelte genervt mit seinem Kugelschreiber auf seinem Notizblock wirre Muster. „Ich frage Sie noch einmal“, beharrte er, „Wo waren Sie heute zwischen 17:00 und 18:30 Uhr?“

Langsam begann Christian, ernsthaft zu verzweifeln. Er hatte inzwischen nicht nur sein Zeitgefühl verloren, sondern konnte auch nicht mehr sagen, wie oft sie diese Frage bereits durchgekaut hatten. „Ich kann mich nur wiederholen: Ich war in meinem Büro“, antwortete er wie auch die Male davor. „Alleine. Nein, es gibt keine Zeugen dafür, meine Sekretärin ist um 12:00 Uhr nach Hause gegangen. Ich selbst habe gearbeitet und den Rest des Tages auf Bergmann gewartet, da er sich für 20:00 Uhr angekündigt hat. In einem Telefongespräch.“ Er lehnte sich nach vorne, die Hände wie zum Gebet gefaltet. „Sie müssen mir glauben. Ich kannte Bergmann nur durch dieses eine Telefonat. Ich habe ihn vorher nie gesehen oder getroffen, und selbstverständlich habe ich ihn auch nicht umgebracht.“ Aufgebracht fuhr er sich durch die Haare. Seine Verzweiflung vermischte sich langsam mit einer tiefen, aufschäumenden Verärgerung. Er hatte es mit Sicherheit nicht verdient, wie er hier behandelt wurde. „Ich weiß doch noch nicht einmal, wie dieser Mann aussieht!“, schnaubte er trotzig.

Statt zu antworten, schlug Wolff frustriert mit der flachen Hand auf den Metalltisch. Der laute Knall hallte dumpf in dem engen Raum wider. Erschrocken zuckte Christian zusammen. Seine kurz zuvor entdeckte Trotzhaltung fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. „Wir drehen uns im Kreis!“, zischte Wolff. „Wie erklären Sie sich dann, dass er den Polizisten kurz vor seinem Tod Ihren Namen genannt hat!?“

„Ich. Weiß. Es. Nicht“, schrie Christian. Er betonte dabei jedes Wort einzeln, langsam, als hätte er es mit einem Trottel zu tun. Er stützte seinen Kopf in seine Hand. „Ich weiß es doch auch nicht“, flüsterte er mutlos, diesmal leise. „Ich kann Ihnen dafür keine Erklärung bieten. Aber ich habe ihn nicht umgebracht. Sie müssen mir glauben! Warum sollte ich ihn ausgerechnet heute umbringen wollen? Ich bin doch gerade erst von einer längeren Reise zurückgekehrt.“

Wolff räusperte sich verächtlich. „Sehen Sie“, sagte er guttural, „in diesem Raum wird viel gelogen. Sie glauben gar nicht, wie oft uns hier irgendwelche Märchen aufgetischt werden. Ich wünschte, ich hätte für jedes Mal einen Euro bekommen, dann müsste ich mich nicht mit Menschen wie Ihnen abgeben, sondern würde meinen Ruhestand in der Karibik genießen.“ Er schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber Sie müssen sich schon etwas Besseres einfallen lassen, um mich von Ihrer Unschuld zu überzeugen.“

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ein Gesicht erschien in dem schmalen Spalt, der sich langsam im Türrahmen auftat. Christian erkannte der Mann; es war einer der Beamten, der ihn im Polizeirevier empfangen hatte, bevor er unsanft in Richtung Verhörraum bugsiert worden war. „Oberkommissar Wolff?“, murmelte der Mann entschuldigend in Richtung Wolff und Christian. Schnellen Schrittes betrat er den Raum, bevor er von Wolff hinausgeschickt werden konnte. Er knallte verdrießlich eine beige Mappe auf den Tisch. „Das Labor hat erste Ergebnisse vom Tatort. Wir haben einen Treffer.“

„Was?“, keuchte Wolff. Er sprang auf und griff gereizt nach der Mappe. Stumm blätterte er ein paar Minuten zwischen den verschiedenen Seiten hin und her. Seine Lippen bewegten sich wie im Zwiegespräch mit sich selbst, während sich seine Miene immer weiter verfinsterte. Nach einer gefühlten Ewigkeit blickte er von seiner Lektüre auf. Seine Augen starrten Christian merkwürdig leer an, als würde er nicht ihn, sondern die Wand hinter ihm fokussieren.

„Wo waren Sie letzte Woche?“, fragte er geistesabwesend, beantwortete seine Frage allerdings sofort selbst. „Sie sagten, in Hamburg?“

„Ja“, nickte Christian heftig. „Von Freitag bis heute Morgen. Dienstag bis Donnerstag war ich in Stuttgart und am Montag in Mannheim.“

„Gibt es dafür Zeugen?“

Christian witterte seine Rettung. Überdreht beugte er sich nach vorne und nickte erleichtert mit dem Kopf. „Mehr als genug. Lektoren, Professoren, Publikum, ich kann Ihnen eine gesammelte Liste zur Verfügung stellen.“

Wolff schlug die Mappe mit einem plötzlichen Ruck zu. Eine unangenehme Stille breitete sich im Raum aus. Erst nach ein paar angespannten Sekunden ließ sich Wolff dazu herab, Christian mit einer Antwort zu bedenken. „Es sieht so aus, als könnten Sie gehen“, brachte er stockend hervor. Er spie die Worte fast aus, als würde er es persönlich bedauern, Christian laufen lassen zu müssen.

„Wie bitte?“ Christian konnte sein Glück kaum fassen. Vielleicht war das alles nur ein Trick, eine Finte, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen. „Was ist passiert?“

Wolff antwortete nicht gleich. So wie es aussah, überlegte er, wie viel er über laufende Ermittlungen verlauten lassen durfte. Allerdings schien er zu dem Schluss zu kommen, ein paar Informationen preisgegeben zu müssen, um von Christian Antworten zu erhalten. Mit einem verärgerten Stöhnen erklärte er: „Letzte Woche Dienstag, als Sie in Stuttgart waren, ist ein bekannter Antiquitätenhändler in seinem Laden ermordet worden. Wie sich herausgestellt hat, fand kurz vor seinem Tod ein reger telefonischer Austausch zwischen seiner Nummer und der Nummer von Bergmann statt. Laut diesem Laborbericht handelt es sich um den gleichen Täter, was wiederum heißt, dass Sie es nicht gewesen sein können.“ Mit zusammengekniffenen Augen starrte er Christian auf eine unerträgliche Art und Weise geradezu durchbohrend an. „Der Name des Antiquitätenhändlers ist Max von Herchow. Sagt Ihnen der Name etwas?“

Christian senkte den Blick, um nicht länger in Wolffs verächtlich verzogenes Gesicht schauen zu müssen. Er konnte fast körperlich die Verachtung fühlen, die Wolff in pulsierenden Wellen in seine Richtung ausstrahlte. Wolff zuckte mit den Schultern, als Christian nicht antwortete. „Der Staatsanwalt ist der Meinung, dass wir Ihnen keine Verbindung zu dem Antiquitätenhändler nachweisen können. Ihr DNA-Profil entspricht nicht den Spuren, die wir am ersten Tatort gefunden haben.“ Er seufzte. „Uns sind in diesem Fall die Hände gebunden.“

Er stand auf und trat näher an Christian heran, bis er die Distanz überschritten hatte, die Christian gerade noch als angenehm bezeichnet hätte. Es fühlte sich an, als würde Wolff wissentlich die unverletzliche Grenze der eigenen Privatsphäre überschreiten, die jeder Mensch mit einem unsichtbaren Band um sich herum errichtet hat. Wolffs Stimme war nicht mehr als ein leises Flüstern, jedes Wort messerscharf wie eine frisch gewetzte Klinge: „Ich behalte Sie ihm Auge. Sollte ich allerdings irgendetwas finden, dass einen Zusammenhang zwischen Ihnen und den beiden Opfern herstellt, sei der Hinweis auch noch so dünn, dann stehe ich wieder auf ihrer Matte. Und dann werde ich nicht so freundlich sein wie jetzt.“

Er klemmte sich die beige Mappe unter den Arm und stürzte aus dem Raum, ohne zurückzublicken oder ein Wort des Abschieds loszuwerden.

Der andere Polizist, der die rettende Mappe in den Raum gebracht hatte, führte Christian wortlos aus dem Raum und übergab ihn einem seiner Kollegen. Wie betäubt wandelte Christian in Begleitung des Beamten zum Ausgang des Polizeireviers. Er fühlte sich wie ein Schauspieler in einer der vorabendlichen Krimiserien. Die meisten hatten ein vorhersehbares Ende, nur war Christian in dieser Situation nicht in der Lage, den Ausgang dieses Kriminalfalls vorherzusehen. Er konnte noch nicht einmal sagen, ob er auf ein Happy End zusteuerte.

Wolfgang Bergmann hatte kurz vor seinem Tod mit ihm telefoniert, und, mehr noch, seine gewaltsame Ermordung tatsächlich irgendwie vorhergesagt. Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte er gerade ihn als Vertrauten auserwählt. War es möglich, dass der Mord tatsächlich sein Motiv in dem Foto fand, das Bergmann ihm zugefaxt hatte? Konnte ein Mensch tatsächlich dazu fähig sein, einen anderen Menschen für dieses Artefakt zu ermorden?

Gedankenverloren trat Christian auf die Straße, die sich vor dem roten Backsteingebäude des Polizeireviers in beide Richtungen erstreckte. Es fing an zu regnen. Das Wetter entsprach dem Verlauf des Tages. Dunkel und undurchsichtig. Es war inzwischen spät geworden. Die Dunkelheit wurde nur noch von ein paar einsamen Straßenlaternen durchbrochen. Christian spürte die Müdigkeit in jedem einzelnen Knochen. Er bezweifelte allerdings, nach diesem Tag überhaupt noch schlafen zu können. Irgendwie war er unwissentlich und ohne eigenes Zutun in eine Mordgeschichte hineingeschlittert, bei der dominoartig eine Ereigniskette in Gang gesetzt worden war, die sich völlig seiner Kontrolle entzog. Ihm blieb nur zu hoffen, diesen Alptraum endlich überstanden zu haben. Er würde nie erfahren, welche Rolle Bergmann gespielt hatte und warum er ausgerechnet ihn ausgesucht hatte, aber im Grunde wollte er es auch nicht wissen. Er wollte nur noch nach Hause.

Mit hochgezogenen Schultern, ein erbärmlicher Schutz vor dem Regen, lief er die Straße hinunter, auf der Suche nach einem Taxi. Er wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dieser Krimi für ihn noch lange nicht am finalen Akt angekommen war.

Das Siegel des letzten Templers

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