Читать книгу Das Siegel des letzten Templers - Kai Kistenbrügger - Страница 8

(6) 1. April, ein abgelegener Parkplatz

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Die Polizeistreife berichtete bis etwa 19:00 Uhr von einem ereignislosen Abend. Bis auf zwei Betrunkene, die sich nicht einigen konnten, wer die Zeche zahlen sollte, war nichts Aufregendes passiert. Kommissar Glattbach und sein Kollege vertrieben sich die Zeit, indem sie über ihre Ehefrauen lästerten. Glattbach liebte seine Frau, aber ihr Schuhtick brachte ihn manchmal fast um den Verstand. Erst letzte Woche hatte sie sich wieder zwei Paare gekauft, dabei platzte der Schuhschrank im Flur bereits aus allen Nähten. Er war gerade dabei, die Anekdote zu erzählen, wie seine Frau das gleiche Paar innerhalb von 3 Wochen gekauft hatte, ohne es zu merken, als die Meldung über das knisternde Funkgerät rein kam. Raubüberfall. Ein Verletzter. Rettungswagen unterwegs.

Ihre reguläre Route hatte sie in die Nähe des Tatorts geführt. Sie trafen noch vor dem Rettungswagen ein. Auf dem Parkplatz hatte sich bereits eine gaffende Menge versammelt, die ihnen den Blick auf ihr Ziel versperrte. Glattbach winkte sie unwirsch beiseite. So traurig es war, Gaffer gehörten für Glattbach mittlerweile zum gewohnten Bild ihrer Einsatzorte. Er ärgerte sich zwar immer noch nach all seinen Dienstjahren über ihre Anwesenheit, hatte allerdings gelernt, sie in seinem Alltag zu akzeptieren. Wie ein Mückenstich, der zwar nervte, dessen Jucken er aber mit entsprechender Willenskraft zu ignorieren vermochte.

Doch als sich in der Masse der Menschen eine Lücke öffnete, vergaß er schlagartig jeglichen Ärger. Vor ihm tat sich ein unsägliches Bild des Grauens auf. Selbst in seiner langjährigen Laufbahn als Polizeibeamter hatte er etwas Vergleichbares noch nicht gesehen. Mit dem Kopf gegen einen betagten, rostigen, aschgelben Ford gelehnt lag ein alter Mann, übel zugerichtet. Aus mehreren kleinen Wunden tropfte Blut, doch diese Verletzungen waren kaum als tödlich zu werten. Der große Schnitt, der sich quer über seine Kehle zog, hingegen schon. Ein unablässiger, tiefroter Strom von Blut ergoss sich über die Kleidung des Opfers. Es war überall, am Auto, auf dem harten Betonfußboden, wohin Glattbach auch blickte. Glattbachs Kollege wendete sich schockiert ab. Es war zu viel, unglaublich viel.

Bleich starrte Glattbach auf die unwirkliche Szenerie, spürte, wie die Galle unaufhaltsam seine Kehle hinaufstieg. Er musste all seine Willenskräfte aufbieten, um sich nicht auch schockiert abzuwenden. Mit einem aufgewühlten Blubbern im Bauch kniete er sich neben den alten Mann. Er versuchte, die dunklen Lachen noch frischen Blutes zu ignorieren und seine Aufmerksamkeit auf das fahle Gesicht des Opfers zu lenken. Er sah friedlich aus, als schliefe er, frei von allen Ängsten und Sorgen. Als Glattbach zwei Finger ausstreckte, um den Puls des Mannes zu fühlen, schlug dieser plötzlich die Augen auf. Überrascht zog Glattbach die Hand zurück.

„Wo bleibt der Notarzt?“, schrie er verzweifelt. „Der Mann lebt noch!“

Ein Wunder! Trotz der Schwere seiner Verletzungen starrte der Mann Glattbach an, mit kalten, ruhigen Augen. Er versuchte zu sprechen, doch der Schnitt in seiner Kehle war tief und hatte vermutlich seine Stimmbänder beschädigt. Er brachte nur ein unverständliches Gurgeln zustande. Leichte Blutschlieren erschienen auf seinen Lippen.

Glattbach legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter.

„Sie müssen sich schonen. Sparen Sie Ihre Kräfte. Hilfe ist unterwegs.“

Er versuchte, den alten Mann ermutigend anzulächeln, aber es reichte lediglich für eine klägliche Grimasse. Die ganze Situation war zu schrecklich, führte Glattbach an die Grenzen des für ihn Erträglichen. Was für ein Monster war zu so einer Tat fähig? Ein langsam stärker werdendes Ziehen in seiner Kehle kündigte eine ansteigende Hysterie an. Glattbach schluckte schwer, einmal, zweimal, um seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, oder vielmehr, um die Situation unter Kontrolle zu halten.

Der alte Mann begann, sich zu bewegen, als wollte er aufstehen. Aber er zog lediglich mit einer unendlich bedächtigen Geste aus seiner linken Manteltasche ein kleines, zusammengefaltetes Blatt Papier. Aus der Tiefe seiner Kehle gurgelte er nur einen Laut, als hätte er seine kläglichen Versuche aufgegeben, sprechen zu wollen.

„Ngh!“

Seine Hand erschlaffte und sank zurück in ihre Ausgangsposition. „Ngh!“, wiederholte er, mit einem unausgesprochenen Flehen in seinen Augen. „Ngh.“ Sein Kopf kippte wie in Zeitlupe nach rechts und er verstummte. Für immer.

Glattbach stand auf, tief erschüttert. In der Polizeischule waren sie darauf vorbereitet worden, in Einzelgesprächen und in Gruppengesprächen, aber bisher hatte er noch nie erleben müssen, wie jemand starb. Vielleicht hatte er nur Glück gehabt, hatte immer Einsätze bekommen, die ihm ein solches Erlebnis ersparten. Bis jetzt. In diesem Moment spürte er, wie sein Weltbild gemeinsam mit diesem armen Mann verstarb. Die heile Welt, die er trotz seines Berufes immer in allen Menschen wahrzunehmen geglaubt hatte, gab es nicht mehr. Stattdessen offenbarte ihm die Realität einen Blick in einen Abgrund des Grauens, einen unverfälschten Einblick auf die Verderbtheit der menschlichen Rasse. Wie in Trance starrte er auf den Zettel, der in seiner Hand lag, ein abgerissenes Blatt von einem handelsüblichen Notizblock, kariert. Vorsichtig faltete er es auseinander.

Sein Blick fiel auf eine fast unleserliche Schrift, vielleicht von dem alten Mann. Ein Name, eine Adresse, sowie eine Telefon- und Faxnummer.

Glattbach kniff die Augen zusammen, um den Namen entziffern zu können. Dieser Fall könnte einfach werden. Vielleicht war dieses unscheinbare Blatt Papier bereits die entscheidende Spur zum Mörder. Zum Mörder mit dem Namen Christian Roth. Und, bei Gott, Glattbach würde ihn für diese Gräueltat mit aller Härte des Gesetzes büßen lassen!

Das Siegel des letzten Templers

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