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(7) 1. April, Christian Roths Büro

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20:30 Uhr. Zum wiederholten Male beobachtete Christian, wie sich der Zeiger seiner Armbanduhr eine weitere Minute weiterquälte. Die Zeit schien sich wie Gummi zu dehnen, aber er wagte es nicht, nach Hause zu gehen. Er saß in seinem Büro, unfähig, einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Er wartete, ohne genau zu wissen, worauf. Angespannt, nervös.

Vielleicht war die Antwort auf die Frage, wie er mit dem Anruf umgehen sollte, sehr einfach. Wahrscheinlich war der Anruf von Wolfgang Bergmann nichts anderes gewesen als ein Aprilscherz, ein Schauspiel. Irgendwo in der Stadt rieb sich gerade irgendein Schalk die Hände und lachte sich ins Fäustchen, dass er den leichtgläubigen Christian Roth mit seiner schauspielerischen Glanzleistung hereingelegt hatte.

Christian seufzte schwer. Andererseits hatte Bergmanns Verzweiflung zu reell, zu greifbar geklungen, um lediglich ein arglistiges Theaterspiel gewesen zu sein. Und das Bild, das Bergmann per Fax geschickt hatte, schien ebenfalls keine Fälschung zu sein. Den ganzen Nachmittag hatte Christian die dunklen Ränder des Faxpapiers mit der Lupe studiert und hatte keine verdächtigen Spuren entdecken können, die einen Betrug vermuten ließen. Er kam immer zu dem gleichen Schluss: Etwas Vergleichbares war ihm in seiner gesamten Laufbahn als offiziell anerkannter Experte nicht untergekommen, selbst nicht in den vielen Jahren, in denen er sich nur in seiner Freizeit mit dem Thema beschäftigt hatte. In ein paar Wochen würde er seinen 38. Geburtstag feiern, was bedeutete, dass er bereits seit 23 Jahren alle Informationen sammelte, die er über den Templerorden finden konnte. Mit 15 hatte er das erste Buch über diesen einzigartigen Orden in die Finger bekommen, und seitdem hatte ihn die Faszination um diesen geheimnisvollen Orden nicht mehr losgelassen. Jede neue Publikation, jede neue Erkenntnis hatte er studiert, ohne auf irgendetwas gestoßen zu sein, das diesem Fund auch nur annäherungsweise glich. Nein, dieses Artefakt, das das Faxpapier in dunklen, verwischten Farben versprach, war einzigartig. Die Chance, dieses einmalige Kleinod in die Finger zu bekommen, konnte er sich nicht entgehen lassen. Selbst wenn es nur ein Streich war; die Wartezeit war es allemal wert, allein, wenn nur der Hauch einer Chance existierte, es mit einem echten Fundstück zu tun zu haben.

Mittlerweile konnte er sogar von seinem einstigen Hobby recht ordentlich leben. Er war zwar nicht reich, aber die Mittel, die er durch Vorträge und Veröffentlichungen einnahm, reichten für das tägliche Leben, ohne dass er noch einer anderen Beschäftigung nachgehen musste. Jahrelang hatte er tagsüber geschuftet, während er seine spärliche Freizeit für die Recherche rund um mittelalterliche Orden geopfert hatte, für lange Manuskripte, die er bei jeder Gelegenheit schrieb, und für kleine Forschungsarbeiten, die er unermüdlich an Dutzende Verlage verschickte. Und irgendwann hatte es sich tatsächlich ausgezahlt. Zuerst erschienen nur ein paar Veröffentlichungen von ihm, dann kamen die ersten Einladungen zu Symposien und Vorträgen, und mit jedem Auftrag half er dabei, seinen Namen in der Fachwelt zu etablieren. Bis ihm irgendwann zu seiner Überraschung aufgefallen war, dass seine Nebenverdienste sein monatliches Gehalt überstiegen. Sofort am nächsten Tag hatte er seinem ehemaligen Chef die Kündigung auf den Schreibtisch gelegt und den verhassten, Leben aussaugenden, eintönigen Bürojob endgültig hinter sich gelassen.

Doch leider zu spät. Sein Herz reagierte mit einem heftigen Stich, als sein Blick auf den kleinen hölzernen Bilderrahmen fiel, der im Zentrum seines Schreibtisches stand. Jennifer. Sie lachte auf dem Bild, ausgelassen, fröhlich. Ihre blonden Haare fielen ihr ins Gesicht, und ihre Augen schimmerten wie ein ruhiger See in der sanften Nachmittagssonne. Inzwischen konnte er sich fast nur noch an ihr fröhliches Lachen erinnern. Die Züge ihres Gesichts verblassten langsam aber unaufhaltsam in seiner Erinnerung. Die gleichen Züge, die er versprochen hatte, für immer zu lieben. Ihr Lachen war wie ein Quell der Freude gewesen, mitreißend, allumfassend. Und er vermisste es entsetzlich, an jedem Tag, in jeder Stunde, in jeder Sekunde seines Lebens.

Er hatte Jennifer über alles geliebt, ihr allerdings nie die Beachtung geschenkt, die sie verdient hatte. Zu sehr hatten ihn seine Arbeit und seine Forschung in Beschlag genommen. Die vielen Stunden, die er vor seinem Computer oder bei irgendwelchen Vorträgen verbracht hatte, hatten ihn blind für ihr Leiden gemacht. Vielleicht hatte er allerdings auch nicht erkennen wollen, wie es um Jennifer wirklich stand. Wie krank sie tatsächlich war. An dem Tag, an dem er freudestrahlend nach Hause gekommen war, um ihr von seiner Kündigung zu erzählen, war es jedenfalls zu spät gewesen. Er hatte sie nicht mehr zu Hause angetroffen, stattdessen hatte sie sich auf dem Weg ins Krankenhaus befunden, abtransportiert von ein paar Sanitätern im Rettungswagen, aus seinem Leben gerissen. Sie kehrte nicht wieder nach Hause zurück. Und hinterließ ein klaffendes Loch in seinem Herzen.

Er verscheuchte diese Gedanken. Seine Arbeit gab ihm Halt, half ihm, Jennifers Verlust zu verdrängen; deswegen widmete er sich ihr nach Jennifers Tod mit beinahe fanatischer Besessenheit; in der vagen Hoffnung, seinen Schmerz und seine Schuld unter einem riesigen Berg von Arbeit begraben zu können. Er schlief dadurch nicht unbedingt besser, aber zumindest brachten ihm die Nächte den tiefen, traumlosen Schlaf purer Erschöpfung.

20:35 Uhr. Christians Unsicherheit wuchs mit jeder Sekunde, die verstrich. Vielleicht hatte Bergmann es sich anders überlegt. Allerdings hatte Christian keine Nummer, unter der er ihn erreichen konnte. Sollte er warten, auf einen Besuch, der vielleicht niemals kam? Vielleicht sollte er einfach nach Hause gehen. Anfänglich hatte er seine Arbeit noch in seiner Wohnung erledigt, aber mit steigender Popularität empfand er es als unpassend, Besucher in seinen eigenen vier Wänden empfangen zu müssen. Sein Büro hatte den Vorteil, dass es eine offizielle, geschäftliche Atmosphäre bot, auch wenn es klein war. Zudem befand es sich mitten im Zentrum. Kurze Wege, kurze Termine, so wie es Christian bevorzugte.

Es klopfte an der Tür. Endlich! Sein Büro war eines von vielen in einem riesigen Bürokomplex. Es bestand lediglich aus seinem Arbeitszimmer und einem kleinen Vorraum für seine Assistentin, von dem eine dicke Holztür auf den Hauptflur des Stockwerkes hinausführte. Seine Assistentin erledigte für ihn den lästigen Papierkram, solange er auf Reisen war, meistens für ein oder zwei Tage die Woche. Für heute hatte sie sich bereits vor Stunden in den wohlverdienten Feierabend verabschiedet.

Mit vor Aufregung zitternden Knien näherte er sich angespannt der Tür und dachte dabei erneut an das Fax. Sein Magen grummelte nervös. Merkwürdigerweise fühlte er sich an jenen lang vergangenen Abend erinnert, als er als verunsicherter, schüchterner Teenager vor der Tür seines ersten, ernsthaften Dates gewartet hatte. Vor Jennifers Tür. Wieder der Stich ins Herz.

Als er mit einem Ruck die Tür öffnete, blickte er in das Gesicht eines ihm unbekannten Mannes. Er sah nicht unbedingt aus, wie Christian sich Bergmann vorgestellt hatte. Kein weißer Laborkittel, keine strubbeligen Haare. Stattdessen trug er einen langen, sandfarbenen Mantel, der ihn umhüllte wie der strenge Duft nach abgestandenen Zigaretten, der Christian unerwartet entgegen schlug. Er trug seine Haare streng nach hinten gekämmt, fixiert mit Unmengen Gel. Seine Wangen waren von einem leichten Schatten einer verpassten Rasur umsäumt.

„Christian Roth?“, fragte der Fremde unverblümt, ohne sich mit irgendwelchen Begrüßungsfloskeln aufzuhalten. Erst jetzt fiel Christian auf, dass er nicht allein gekommen war. Im Hintergrund hielten sich zwei Polizisten versteckt, die ihn aus kritischen Augen grimmig anfunkelten. Eine unangenehme Situation, die Christian mit einem überraschten Schritt nach hinten quittierte. Irritiert blickte Christian zwischen den drei Männern hin und her.

„Ja, der bin ich“, antwortete er nach einer Weile vorsichtig. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Oberkommissar Wolff“, ließ der Mann knapp verlauten, ohne Christian die Hand zur Begrüßung hinzuhalten. Ganz im Gegenteil. Er verschränkte seine Arme hinter seinem Rücken, als versuchte er, jeglichen Anschein von Freundlichkeit oder Vertraulichkeit im Vorfeld zu unterbinden. „Wir hätten ein paar Fragen an Sie.“ Wolff räusperte sich vernehmlich und ließ seinen Blick aufmerksam über Christian streifen, wie ein Geier auf der Suche nach einem verführerischen Stück Aas. Christian gefiel es nicht, derart abschätzig gemustert zu werden; trotzdem nickte er und lud sie mit einem leichten Wink seiner Hand in seine Büroräume ein. „Bitte!“, sagte er. Es klang nicht so selbstsicher, wie er eigentlich beabsichtigt hatte.

In seinem Büro ignorierten die drei Beamten sein Angebot, in der Sitzecke Platz zu nehmen. Überhaupt sprachen Wolffs Begleiter nicht viel, sondern hielten sich vornehm im Hintergrund. Stattdessen musterten sie ihn und seine zwei Räume mit unverhohlener Neugier und kritischem Blick. Wahrscheinlich hatten die drei Männer sich bereits vor seiner Tür auf ein gemeinsames Auftreten geeinigt. Eine geballte, einschüchternde Mauer polizeilicher Präsenz.

Wolff hatte zwischenzeitlich eine Zigarette aus einer zerknüllten Schachtel gezogen. „Stört es Sie, wenn ich rauche?“, fragte er, als er sie sich in den Mund steckte. Sein Feuerzeug verharrte kurz vor der Zigarette, obwohl er nicht den Eindruck machte, dass ihn Christians Einverständnis sonderlich interessierte. Christian schüttelte den Kopf. Er war zwar überzeugter Nichtraucher, aber trotzdem fühlte er sich nicht in der Stimmung, einen Disput über die Unhöflichkeit des Rauchens in der Gegenwart anderer Menschen zu beginnen.

„Herr Roth“, begann Wolff zwischen zwei tiefen Zügen eines gewohnheitsmäßigen Rauchers, „Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden: Kennen Sie einen Mann namens Wolfgang Bergmann?“ Er musterte Christian kritisch, als ob er aus seiner Reaktion alle Antworten lesen könnte, die er benötigte.

Christian wusste nicht, welche Reaktion die richtige war, also versuchte er gar nicht erst, seine Überraschung zu verbergen. „Nein, ja“, stammelte er verblüfft. „Ich meine, nicht persönlich. Ehrlich gesagt, ich bin etwas erstaunt, dass Sie diesen Namen erwähnen. Ein Mann namens Wolfgang Bergmann hat mich heute angerufen und mich um ein Treffen gebeten, ja, geradezu gedrängt.“ Er hielt inne, als Wolff das Foto von Jennifer in die Hand nahm und aufmerksam betrachtete. „Ihre Frau?“, fragte er beiläufig.

„Ja“, antwortete Christian knapp. Er hatte keine Lust, mit ihm die Verluste und Niederlagen seines Lebens zu diskutieren. Er gefiel ihm nicht, wie Wolff das Bild in seinen fremden, unfreundlichen Händen drehte. Er zwang sich allerdings dazu, höflich zu bleiben und fragte: „Warum sind Sie hier?“

Wolff blickte auf und stellte das Bild zurück auf den Schreibtisch. Christian hatte den Fotorahmen die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Ihm fiel auf, dass Wolff es nicht an die richtige Stelle gestellt hatte. Er war an sich kein ordnungsfanatischer Mensch, aber Jennifer hatte Ordnung in sein Chaos gebracht, und das Foto war seine letzte verbliebene Bindung zu ihr. Er widerstand jedoch dem Drang, das Bild an die richtige Stelle zu rücken.

Wolff blickte Christian mit unverhohlenem Misstrauen in die Augen. „Wann und wo sollte das Treffen stattfinden?“, fragte er. Es erwies sich als schwierig für Christian, hinter die Fassade dieses Mannes zu blicken. Äußerlich gab er sich als der knallharte Polizist, beantwortete selbst keine Fragen, sondern konterte grundsätzlich mit einer Gegenfrage. Allerdings war Christian sich nicht sicher, ob es sich dabei nicht doch nur um eine sorgsam gehütete Schutzschicht handelte. Auf ihn wirkte das Verhalten seltsam eingespielt, wie mühsam antrainiert. Christian fragte sich, wer von den beiden Herren im Hintergrund die Rolle des guten Polizisten spielen würde. Allerdings, so wie sie ihn mit finsterem Blick musterten, hatten sie sich darauf geeinigt, alle in der Rolle des bösen Polizisten aufzutreten.

„Heute. Um 20:00 Uhr. Ich weiß, es klingt komisch, aber er wollte unbedingt zu mir kommen, deswegen bin ich auch noch im Büro.“ Christian lächelte flüchtig, bekam jedoch keine Reaktion auf seine kleine Geste, die angespannte Stimmung aufzulockern. Die drei Polizisten musterten ihn unverändert feindselig. Wolff hob eine Augenbraue und fixierte Christians Blick herausfordernd. „Hier also? Soso.“

Er zog einen Block aus der Manteltasche und kritzelte ein paar Buchstaben auf das Papier. Er blickte nicht auf, als er sagte: „Wolfgang Bergmann wurde heute auf offener Straße ermordet.“

Überrascht sog Christian die Luft ein. „Ermordet?“, echote er wie paralysiert. „Von wem?“ Er schüttelte unbewusst den Kopf. Bergmann hatte am Telefon sehr verzweifelt geklungen, aber er hatte seine Angst nicht wirklich ernst genommen. Wer hätte das schon?

Er wollte gerade von dem merkwürdigen Telefonat berichten, als ihm schlagartig der Grund für die Feindseligkeit der drei Polizisten dämmerte. Alarmiert richtete er sich auf. „Warum kommen Sie damit zu mir? Ich kannte Wolfgang Bergmann nicht!“

„Sagen wir es so“, sagte Wolff gedehnt, „Bergmann hat beim Eintreffen unserer Kollegen am Tatort noch gelebt. Und er hat uns mit seinem letzten Atemzug Ihren Namen genannt.“ Von seiner Zigarette rieselte etwas Asche auf den Teppich. „Können Sie uns sagen, warum er das getan hat?“

„Nein. Keine Ahnung.“ Christian fühlte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Die ganze Situation entwickelte sich in eine Richtung, die ihm nicht gefiel. Überhaupt nicht. „Ich kannte ihn doch überhaupt nicht! Wie gesagt, das erste und einzige Mal habe ich heute mit ihm telefoniert.“

Wolff schüttelte bedächtig den Kopf. „Sie werden sicherlich verstehen, dass ich jedem Hinweis nachgehen muss. Ihr Name ist im Zusammenhang mit einem brutalen Mord gefallen. Wie ich es sehe, macht Sie das zu einem unserer Hauptverdächtigen. Ich muss Sie leider bitten, mit uns zu kommen.“ Für seine beiden Begleiter schien dieser Satz das Stichwort zu sein. Einer von ihnen trat nach vorne und zog aus seinem Gürtel ein paar Handschellen. Irritiert bemerkte Christian, wie der zweite Beamte zeitgleich seine Hand in einer unausgesprochenen Drohgebärde auf seinen Pistolenhalfter legte. Die ganze Situation wirkte wie eine peinlichst genau einstudierte Choreographie. „Wir können die gesamte Sache auf freiwilliger Basis regeln“, kommentierte der Polizist, während er die Handschellen entriegelte, „oder Sie geben mir einen Grund, Sie zur Kooperation zu zwingen.“

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