Читать книгу Das Siegel des letzten Templers - Kai Kistenbrügger - Страница 16
(14) 14. Oktober 1307, irgendwo im Atlantik
ОглавлениеDie Sonne schien gleißend auf den regennassen Strand und strafte die Erinnerungen an das Unwetter von letzter Nacht Lügen. Es war kaum vorstellbar, dass noch vor zwei Stunden ein Sturm gewütet hatte, der an Vernichtungswillen jedes menschliche Heer in den Schatten gestellt hatte. Fraubert stand am Strand und blickte auf das Meer hinaus. Dieses Mal hätte das Meer fast gesiegt. Jeder Kapitän wusste, dass das Meer ein launisches Wesen war. Ein Wesen, das, sobald entfesselt, nicht mehr zu bändigen war. Viele tapfere Männer des Ordens hatten ihr Leben nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern ebenfalls auf dem Kampfplatz gelassen, den die Menschen Ozean riefen. Ihnen war dieses Schicksal in der letzten Nacht glücklicherweise erspart geblieben.
Dabei hatte Fraubert immer geahnt, dass dies irgendwann auch sein Schicksal werden würde. Er hatte diese ungewisse Zukunft akzeptiert, wenn er sich den Launen der Natur hatte ausliefern müssen. Aber in einer Stunde, wo sein Erfolg so wichtig war wie nie zuvor, zürnte er dem Meer, ihn verraten zu haben.
Die Beziehung zwischen Meer und Kapitän glich dem Gelübde des heiligen Stands der Ehe. Sie teilten gute, aber auch schlechte Zeiten. Im Großen und Ganzen basierte die Beziehung auf gegenseitigem Vertrauen. Der Seemann übergab sein Leben für die Dauer der Reise dem Meer, für das Recht, es passieren zu dürfen. Im Gegenzug vertraute er dafür auf seine sichere Rückkehr. Dieses Mal hatte es sich allerdings als äußerst knapp erwiesen. Der Sturm hatte schlimm gewütet und sie schwer getroffen. Glücklicherweise hatten sie kein Schiff verloren, aber Schäden davongetragen, die sie um Tage zurückwerfen würden. Zum Glück waren unter der Besatzung auch erfahrene Schiffsbauer und Handwerker, die mit tatkräftiger Unterstützung der verbleibenden Mannschaft unter Hochdruck an den Reparaturen arbeiteten.
Doch mit jedem Tag, den sie hier auf dem Trockenen lagen, riskierten sie ihre erfolgreiche Flucht, die ihnen nur unter großen Opfern gelungen war. Die Würdenträger des Ordens rund um den Großmeister hatten ihre Flucht überhaupt erst ermöglicht. Ihr Opfer hatte die Schergen des Königs von den Ordensbrüdern geringeren Ranges abgelenkt. Die Warnung hatte sie erst vor ein paar Tagen erreicht. Sie hatten in aller Eile die Evakuierung der Besitztümer in Frankreich in die Wege leiten müssen. Der Großkomtur hatte den Ordensschatz vollständig verladen lassen. Nur wenige waren zurückgeblieben, da ihre Namen in der französischen Gesellschaft bekannt und die Haftbefehle auf ihre Köpfe ausgestellt waren. Und während der König sie verhaftete, konnten die verbleibenden, öffentlich kaum bekannten Ordensmitglieder entfliehen. Das Opfer von wenigen zur Rettung vieler.
Dadurch, dass viele von ihnen dem unbarmherzigen Zugriff des Königs hatten entkommen können, stellte die Mannschaft der 18 Schiffe einen repräsentativen Querschnitt durch die Ordensstruktur dar. Der Orden hatte sich in vielen Bereichen betätigt, beschäftigte Architekten, Bauleute, Handwerker, Winzer, Kürschner, Weber; Leute in allen Berufsgruppen. In einer Situation wie dieser stellte sich das als Glückgriff heraus. Andernfalls hätte ihnen kaum das Fachpersonal zur Verfügung gestanden, dieser Misere zu entgehen.
Nicht alle waren mit ihnen über das Meer geflohen. Viele hatten ihr Glück über den Landweg versucht, inkognito selbstverständlich, um in freundlich gesinnten Ländern Unterschlupf in den Besitzungen des Ordens zu suchen. Eine Zukunft in Frankreich würde es für den Orden mit Sicherheit nicht mehr geben. Ein Umstand, der Fraubert in der Seele schmerzte. Nicht nur der Verlust ihres geistigen und weltlichen Zentrums, sondern insbesondere die Verhaftung ihrer wichtigsten Würdenträger traf den Orden schwer. Sie würden lange brauchen, um sich von diesem Schlag zu erholen. Unbewusst ballte Fraubert seine Faust, als er grimmigen Blickes in die Richtung starrte, in der er Frankreich vermutete. Der französische König würde für seine Arroganz bezahlen, dafür würde er sorgen.
Fraubert de Montagnon entstammte einem alten Adelsgeschlecht, rein in der Herkunft, loyal gegenüber dem Orden. Er hatte seinen ganzen Besitz dem Orden überschrieben, seine Stammburg, sein Geschmeide, sein Land, und sich der gerechten Mission des Ordens gewidmet. Heute würde er beweisen können, dass er wahrlich ein Sohn des Ordens war und ihm bis in den Tod folgte, wenn es erforderlich war.
Fraubert wurde aus den Gedanken gerissen, als sein Sergeant vor ihm salutierte. Er trug ein braunes Gewand, die weißen Mäntel waren allein dem Ritterstand des Ordens vorbehalten. „Wie ist die Lage?“, fragte Fraubert. Gleichzeitig fürchtete er sich vor der Antwort.
Sein Sergeant, Philippe Hérail, zog ein Pergament hervor, auf dem er mit schwungvoller Schrift die aktuelle Situation aufgezeichnet hatte. „Nur drei Schiffe haben das Unwetter unbeschadet überstanden. Bei zwölf Schiffen sind es nur kleinere Reparaturen und Lecks, die sich innerhalb von zwei Tagen richten lassen.“ Er machte eine Pause, die den Ernst der Lage unterstrich. „Bei den verbleibenden drei Schiffen sind die Schäden allerdings gravierender. Die Saint-Amand hat schwere Schäden an der Takelage und an den Segeln erlitten. Drei Tage Minimum. Im Laderaum der Saint-Mareille steht das Wasser knietief.“ Er machte mit seiner freien Hand eine abgehackte Bewegung in entsprechender Höhe, während die andere das Pergament umklammerte, als wäre es sein Bezug zur Realität in diesem Alptraum. „Das Wasser dringt an zwei verschiedenen Stellen ein. Bruder André bezweifelt sogar, dass wir das Schiff retten können. Vermutlich werden wir es aufgeben und die Ladung auf die verbleibenden Galeonen umladen müssen.“
Er blickte zurück auf das Meer, wo die kleine Flotte bei ruhigem Wasser dahindümpelte. Von ihrem Standpunkt am Strand waren die Schäden kaum zu sehen. Fraubert fühlte Stolz in sich aufsteigen, als er die Schiffe sah. Es waren prächtige Galeonen, mit tapferen Männern.
„Euer Schiff hat es am Schlimmsten erwischt. Der Hauptmast muss ersetzt werden. Glücklicherweise bietet die Umgebung genügend Holz. Damit können wir arbeiten.“ Philippe zeigte auf den an den Strand angrenzenden Wald.
„Wie lange?“, fragte Fraubert.
„Schätzungsweise zehn Tage, vielleicht mehr, vielleicht weniger.“
Fraubert entließ Philippe, mit der Anweisung, die Reparaturen schnellstmöglich abzuschließen. Der Schaden war immens, aber es war nicht alles verloren. Die Schiffe ließen sich reparieren. In spätestens zwei Wochen sollten sie wieder einsatzbereit sein. Ihre Vorräte sollten so lange reichen, Frischwasser und Frischfleisch konnten sie gegebenenfalls hier an Land erbeuten. Die Zukunft allein würde zeigen, in welche Richtung es den Orden verschlagen würde. Seine Aufgabe war es, die Fracht der Schiffe in Sicherheit zu bringen, bis sich der Orden aus der Asche dieser Katastrophe wieder zur alten Größe aufschwingen würde. Vielleicht kam es tatsächlich nicht auf ein paar Tage an. Ihre Zeit würde kommen, irgendwann. Und mit der Morgendämmerung ihrer neuen Stärke würde die Sonne des französischen Königshauses untergehen.
Seine Lippen bewegten sich unablässig, als er ein kleines Gebet gen Himmel schickte. Nie war er sich seiner eigenen Schwäche so sehr bewusst gewesen wie in diesem Moment. Alles hing von diesen Schiffen und ihrer Ladung ab. Und damit von ihm. Fraubert wanderte gemächlichen Schrittes zurück zu seinen Männern, um ihnen in dieser Situation Mut zuzusprechen. Sie würden ihn brauchen können.