Читать книгу Das Siegel des letzten Templers - Kai Kistenbrügger - Страница 12

(10) 2. April, Christian Roths Wohnung

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Christian schlug die Augen auf. Im Licht des neuen Tages wirkten seine gestrigen Erlebnisse wie ein surrealer Traum. Doch so sehr sich Christian auch bemühte; er konnte den vergangenen Tag nicht abschütteln. Bergmann ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Seinen Tod hatte er vielleicht nicht zu verantworten, aber Christian machte sich trotzdem Vorwürfe. Der alte Mann hatte durch und durch verzweifelt geklungen, doch Christian hatte ihn gedanklich als Paranoiker abgehakt und ihn nicht ernst genommen. Ihm war es nicht einmal in den Sinn gekommen, dass die Bedrohung real gewesen sein könnte, die Bergmann dermaßen in Panik versetzt hatte.

Mit einem Gähnen setzte er sich auf den Rand des Bettes. Das Bett war eigentlich zu groß für ihn, ebenso wie die ganze Wohnung, aber bis jetzt hatte er es noch nicht übers Herz bringen können, sich eine kleinere, zu seinen Bedürfnissen passende Behausung zu suchen. Zu sehr erinnerte sie ihn an Jennifer. Überall hatte sie ihre Handschrift hinterlassen, wie in den Gardinen, die sie nach Monaten der mühevollen Suche ausgewählt hatte, oder in all den Kleinigkeiten, mit denen sie die Regale und Schränke dekoriert hatte. Und manchmal glaubte er tatsächlich, noch einen Hauch ihres Parfums in den Räumen wahrnehmen zu können. Meistens war es nur wie ein dezenter Faden seiner Erinnerung, aber er weckte ihn ihm das Gefühl, Jennifer hätte soeben erst den Raum verlassen. Diese Wohnung war seine letzte Verbindung zu ihr. Solange er hier wohnte, konnte er sich einreden, sie sei gerade nur nicht da, einkaufen gefahren, oder im Fitnesscenter. Die gemeinsame Wohnung aufzugeben, wäre einem Eingeständnis gleichgekommen, dass sie tatsächlich für immer von ihm gegangen war. Und er war immer noch nicht bereit, diesen Schritt zu gehen.

Mit einem letzten Gähnen stand er ruckartig auf und schlurfte gemächlich in die Küche. Auf dem Küchentisch lag immer noch das Faxpapier mit dem Foto, das er abends achtlos dort zurückgelassen hatte. Auch wenn er versucht hatte, die Angelegenheit für abgeschlossen zu erklären, ließ ihn dieses Bild einfach nicht los. Bevor er überhaupt einen Gedanken an Frühstück verschwendete, setzte er sich direkt vor das Fax an den kleinen Tisch. Im Grunde diente die Küche sowieso nur noch zum Kaffeekochen.

Christian kochte nicht gerne, und auch ansonsten fand er wenig Verwendung für die zahlreichen Küchenutensilien, die Jennifer in ihrem unermüdlichen Eifer angeschleppt hatte. Abends aß er nicht viel, und tagsüber hielt er sich meistens in seinem Büro auf. In dieser Zeit erwies er sich mit Sicherheit als einer der besten Kunden sämtlicher Pizzadienste in der näheren Umgebung. In seinem Büroschrank stapelten sich bereits die Flaschen billigen Weines, den ihm die Lieferjungen als Geste ihrer Wertschätzung mittlerweile bei jeder Lieferung überreichten. Er lächelte bitter, als er an den gestrigen Abend dachte. Zum Glück war Wolff nicht auf die Idee gekommen, sein Büro durchsuchen zu lassen, andernfalls hätte er ihn nicht nur für einen Mörder, sondern auch für einen schweren Alkoholiker gehalten.

Sein Blick fiel wieder auf das Foto. Er holte eine Lupe. Je öfter er darüber nachdachte, desto unglaublicher erschien ihm das Bild. Es brannte ihm auf der Seele, das Artefakt persönlich zu sehen. Es musste sich um eine Fälschung handeln! Andernfalls wären die Implikationen geradezu atemberaubend. Er müsste alles über den Haufen werfen, was er über die Tempelritter zu wissen glaubte.

Unter der Lupe zeichneten sich die Pixel der Faxvorlage deutlich ab. Das Bild zeigte ein Siegel, schwarzweiß. Aber nicht irgendein Siegel, es war ein Siegel des Templerordens. Christian holte ein paar seiner Fachbücher aus dem Wohnzimmer und schlug sie auf. Siegel der Templer waren an sich keine Besonderheit. Die Tempelritter entwickelten sich im 12. und 13. Jahrhundert zu einer mächtigen Organisation, die sich über ganz Europa ausbreitete. Bei einem Orden dieser Größe blieb nicht aus, dass sie ihre Anwesenheit und ihren Besitz mit ihren Zeichen markierten. Viele Siegel, Siegelsteine und Wappen waren aus der damaligen Zeit überliefert worden und hatten die Wirren der Jahrhunderte überlebt. Aber diese Siegel hatten nichts mit dem Bild zu tun, das vor ihm lag. Nein, dieses Siegel war einzigartig. Es zeigte zwei Tempelritter, stolz hoch zu Ross, auf ihren zwei Schildern das Zeichen des Ordens, das rote Tempelkreuz. Ein Symbol, das auch auf anderen Siegeln zu finden war. Die Fachwelt stritt sich noch darum, warum gerade zwei gerüstete Ritter sich ein Pferd teilten. Vermutlich repräsentierten die beiden Männer die beiden Gesichter des Ordens, auf der einen Seite die christliche Ausrichtung, die Mönche, auf der anderen Seite das bewaffnete Rittertum. Der Templerorden war der erste christliche Orden der bekannten Geschichte, der die Ideale beider Stände vereint hatte.

Was ungewöhnlich an dem Siegel war, und was Christian in dieser Form noch nie zuvor gesehen hatte, war die Kulisse, in der die zwei Ritter thronten. Unter dem Pferd der beiden Reiter fanden sich stilisierte Lilien, wie ein kleines Blumenmeer, das von den Hufen des Pferdes zertrampelt worden war. Kein anderes Siegel, das Christian bekannt war, hatte die beiden Ritter in eine auch nur vergleichbare Kulisse platziert. Vor allem verwunderte Christian die Symbolik der Lilien, insbesondere, wenn er die Geschichte des Ordens betrachtete. Fast 200 Jahre hatten sich die Templer im Heiligen Land behaupten können. Nach dem Fall ihrer letzten christlichen Hauptstadt Akkon im Jahre 1291 gegen den Sultan der Mameluken, zogen sich die Tempelritter vollständig nach Europa zurück. Ihres Heiligen Krieges beraubt, war der Orden über die folgenden Jahre zusehends in Ungnade gefallen. Der Templerorden verfügte damals über das größte Heer der Alten Welt, das nach dem Rückzug aus dem Heiligen Land in unmittelbarer Nähe zu den weltlichen Besitztümern der europäischen Könige stationiert war. Es war nicht wirklich überraschend, dass sich die weltlichen Herrscher durch diese Armee bedroht gefühlt hatten.

Zudem hatten sie sich in der Heimat vieler Tempelritter, in Frankreich, mit dem König keinen Freund geschaffen. Seinen Antrag auf Mitgliedschaft hatten sie abgelehnt. Doch was sich als noch viel schwerwiegender erwies, waren die nicht unerheblichen Kredite, die der französische König sich beim Orden für die Finanzierung des Krieges mit England geliehen hatte. Philipp IV., der Schöne, wie er auch genannt wurde, gefiel es nicht, dass der Staat bei den Tempelrittern in Schulden stand; Frankreich aufgrund der Schuldenlast sogar der Bankrott drohte. Der Orden hingegen war reich, er hatte sich zu einer der ersten Bankgesellschaften der Welt entwickelt. An jedem Standort konnten Reisende Geld einzahlen und mit der erhaltenen Quittung überall an Templerniederlassungen wieder abheben. Gegen eine Gebühr, versteht sich. Allein das Templervermögen in der Normandie wurde auf eine Größe geschätzt, die das Vermögen des gesamten englischen Königreiches bei Weitem überstieg.

Die Rechnung Philipps IV. war einfach. Den Templerorden zu zerschlagen und das Vermögen zu beschlagnahmen, würden auf einen Streich sämtliche seiner Geldsorgen beseitigen. Am Freitag, den 13. Oktober 1307, setzte er seinen perfiden Plan in die Tat um. In einer Nacht und Nebel Aktion ließ er die in Frankreich ansässigen, hochrangigen Mitglieder des Templerordens verhaften und der Ketzerei anklagen. Weit über einhundert Würdenträger des Ordens wurden per königlichen Haftbefehl aufgegriffen, unter ihnen auch ihr Großmeister, Jacques de Molay. In einem schnell anberaumten Indizienprozess wurden in tagelanger Folter Geständnisse aus den edlen Rittern erpresst, die ein vernichtendes Urteil über den Orden fällten. Selbst ihr höchster Würdenträger, de Molay, verurteilte mit seinem Geständnis den Orden in einem schockierenden Ausmaß und beschädigte den tadellosen Ruf seines Ordens über Nacht irreparabel, auch wenn er sein Geständnis noch im selben Jahr widerrief.

Philipp IV. brauchte für eine rechtskräftige Verurteilung allerdings die Unterstützung des Papstes. Als christlicher Orden unterlagen die Tempelritter allein der Weisungsbefugnis des Heiligen Vaters. Auch wenn die Position des französischen Papstes Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts sehr geschwächt war, bot Papst Clemens V. dem König die Stirn. Er berief ein päpstliches Konzil ein, das die Anschuldigungen untersuchen sollte. Doch obwohl der Papst dem Orden die Absolution erteilte, die alle Templer offiziell von allen Anklagepunkten freisprach, endete das Verfahren für die Tempelritter in einer offiziellen Auflösung durch den Papst. Der französische König hatte gesiegt, indem er Clemens mit der Abspaltung Frankreichs aus der römisch-katholischen Kirche und der Gründung einer eigenen Kirche gedroht hatte. Sein letzter, schlagender Trumpf.

Die Auflösung des Ordens durch den Papst gilt geschichtlich als das Ende des Templerordens. Ihr Ende bedeutete allerdings nicht das Ende der Legenden und Mythen, die sich um den Orden rankten. Ihr Vermögen zum Beispiel blieb verschollen, sehr zum Missfallen des französischen Königs. Es war aus der Geschichte verschwunden, ebenso wie die Templer. Die verbleibenden Besitztümer, die Festungen und die wirtschaftlichen Einrichtungen wurden den weltlichen Herrschern oder den Johannitern übereignet.

Der letzte Akt dieses Dramas spielte sich im Jahr 1314 ab, als Jacques de Molay als unbelehrbarer Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Vor seinem Tod verfluchte er Philipp IV. und Clemens V., die interessanterweise innerhalb der folgenden Jahresfrist tatsächlich verstarben. Erst kürzlich waren Dokumente in den Geheimarchiven des Vatikans entdeckt worden, die den Verlauf der päpstlichen Untersuchung detailliert dokumentierten.

Das vor Christian liegende Foto widersprach allerdings dieser Geschichte. Die stilisierten Lilien, die das Pferd der beiden Ritter zertrampelt hatte, ließ einen anderen Ausgang vermuten. Die goldene Lilie auf der französischen Standarte war das Symbol des französischen Königshauses. Wenn Christian sich nicht vollständig irrte, demonstrierte das Siegel mit der Zerstörung der Lilien den Sieg der Templer über den französischen König. Einen Sieg, den es in der offiziellen Geschichtsschreibung nie gegeben hatte. Allein in Schottland und in Portugal konnten sich die Tempelritter noch über einige Zeit halten, in allen anderen europäischen Ländern wurde die offizielle Auflösung per päpstlichen Bannspruch vollstreckt.

Diese Siegel konnte also nur eines bedeuten, sofern es authentisch war: Es war nach dem offiziellen Ausbruch des Konflikts mit dem französischen König entstanden, und vermutlich erst lange nach der offiziellen Auflösung des Ordens. Diese Erkenntnis wäre revolutionär. Es würde zeigen, dass einige der verbleibenden Tempelritter nach der Zerschlagung im Verborgenen die Vereinigung aufrechterhalten hatten. Die Frage war nur, welcher Sieg über den König war auf dem Siegel symbolisch durch die zertrampelten Lilien verewigt? Etwa sein Tod, wie von Jacques de Molay angekündigt?

In diesem Moment ertönte das charakteristische Geräusch am Briefkasten, das der Postbote tagtäglich bei seinem Besuch erklingen ließ. Christian war derart in seine Überlegungen vertieft, dass er erschrocken auffuhr. Herausgerissen aus seiner Reise in die Vergangenheit, beschloss er, es dabei bewenden zu lassen. Ohne das Siegel würde er diesem Geheimnis nie auf die Spur kommen. Vor allem nicht ohne weitere Hinweise, woher dieses Artefakt stammte.

Behäbig stand er auf, um die Post zu holen. Nachdem er die Berge Rechnungen aussortiert hatte, blieb nur ein Brief. Ohne Absender. Neugierig öffnete er den Umschlag. Heraus fiel ein kleiner Schlüssel. Was sollte das? Eine nähere Untersuchung des Umschlags förderte einen kleinen Notizzettel zu Tage, mit kleiner, kritzeliger Schrift. Es waren nur ein paar Worte, die wenig aussagten und noch weniger erklärten:

"Weitere Erklärungen folgen. W.B."

W.B.? Wolfgang Bergmann? Ratlos drehte Christian den Schlüssel in seinen Händen. So wie es aussah, hatte das Abenteuer für ihn doch gerade erst begonnen.

Das Siegel des letzten Templers

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